BGH Beschluss v. - VIII ZR 305/21

Instanzenzug: Az: 27 U 11/21vorgehend Az: 2 O 249/20

Gründe

11. Das Verfahren soll in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO ausgesetzt werden, weil die Nichtzulassungsbeschwerde eine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. Nr. L 271, S. 16; im Folgenden: Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie) aufwirft, die dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) bereits zur Vorabentscheidung vorliegt.

2a) In entsprechender Anwendung von § 148 ZPO ist die Aussetzung des Verfahrens auch ohne gleichzeitiges Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof grundsätzlich zulässig, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung derselben Frage abhängt, die bereits in einem anderen Rechtsstreit dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorgelegt wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZR 236/10, RIW 2012, 405 Rn. 7 ff., und VIII ZR 158/11, juris Rn. 8 ff.; vom - VIII ZR 13/12, juris Rn. 11 ff.; vom - I ZR 126/11, juris Rn. 8; vom - V ZB 163/12, RIW 2014, 78 Rn. 23; vom - VII ZR 102/12, juris Rn. 7; vom - KZR 72/15, juris Rn. 9; vom - XI ZR 648/18, juris Rn. 48; vom - VIII ZR 149/21, juris Rn. 14; vgl. auch BAG, NZA 2021, 1273 Rn. 28 ff.; BVerwGE 123, 322, 346). Eine solche Aussetzung ist auch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren möglich (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZR 236/10, aaO Rn. 10; vom - KZR 72/15, aaO Rn. 10; vom - VIII ZR 149/21, aaO).

3b) Ausgehend hiervon dürfte es angezeigt sein, das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wegen Vorgreiflichkeit des beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits C-617/21 auszusetzen, weil die hier namentlich für die Auslegung des § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB entscheidungserhebliche Frage, ob ein Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung einen Vertrag über eine Finanzdienstleistung nach Art. 2 Buchst. b der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie darstellt, dem Gerichtshof bereits zur Entscheidung vorliegt.

4aa) Das Landgericht Ravensburg hat durch Beschluss vom (2 O 238/20, juris; ebenso mit Beschluss vom - 2 O 378/20 und 2 O 390/20, juris) dem Gerichtshof unter anderem folgende Frage zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt:

"Handelt es sich bei Leasingverträge[n] über Kraftfahrzeuge mit Kilometerabrechnung mit einer Laufzeit von circa zwei bis drei Jahren, die unter formularmäßigem Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts abgeschlossen wurden, bei denen der Verbraucher für eine Vollkasko-Versicherung des Fahrzeugs zu sorgen hat, ihm außerdem die Geltendmachung von Mängelrechten gegenüber Dritten (insbesondere gegenüber Händler und Hersteller des Fahrzeuges) obliegt und er zudem das Risiko des Verlustes, der Beschädigung und sonstiger Wertminderungen trägt […], um Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne von […] Art. 2 Buchst. b RL 2002/65/EG?"

5bb) Diese Frage zum Vorliegen eines Vertrags über Finanzdienstleistungen (vgl. hierzu auch Vorlagebeschluss des OLG Frankfurt am Main vom - 17 U 42/20, juris Rn. 29 ff.) ist auch im vorliegenden Fall entscheidungserheblich, da ein Widerrufsrecht des Klägers infolge des zu seinen Gunsten revisionsrechtlich zu unterstellenden Abschlusses des streitgegenständlichen Leasingvertrags im Wege des Fernabsatzes in zeitlicher Hinsicht erloschen wäre, wenn es sich bei dem zwischen den Parteien geschlossenen Leasingvertrag nicht um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen handelte. Nach dem im Lichte der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie auszulegenden § 356 Abs. 3 Satz 2 BGB in der vom bis zum geltenden Fassung (inhaltlich identisch mit der heutigen Fassung, daher im Folgenden [aF]) in Verbindung mit § 355 Abs. 2 Satz 2 BGB erlischt das Widerrufsrecht bei einem Fernabsatzvertrag oder einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag auch im Fall einer unterlassenen oder unzureichenden Belehrung über das Widerrufsrecht, soweit es sich nicht um einen - hier nicht vorliegenden - Verbrauchsgüterkauf im Sinne von § 356 Abs. 2 Nr. 1 BGB [aF] handelt, 12 Monate und 14 Tage nach Vertragsschluss. Gemäß § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB [aF] gelten die vorgenannten Fristen jedoch nicht bei Verträgen über Finanzdienstleistungen (vgl. BT-Drucks. 15/2946, S. 23 [zu § 355 Abs. 2 BGB aF]). Hiervon ausgehend wäre ein etwaiges Widerrufsrecht des Klägers im Hinblick auf den Vertragsschluss im Jahr 2016 jedenfalls zum Zeitpunkt der Widerrufserklärung im Juni 2019 erloschen gewesen, es sei denn, es handelte sich bei dem Vertrag um einen solchen über eine Finanzdienstleistung.

6cc) Anders als die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung meint, dürfte auch die Vorschrift des § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BGB in der vom bis zum gültigen Fassung (im Folgenden: aF; insofern inhaltsgleich mit § 312g BGB in der heutigen Fassung), nach der unter anderem ein fernabsatzrechtliches Widerrufsrecht für Verträge zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich Kraftfahrzeugvermietung nicht gegeben ist, einer Aussetzung des hiesigen Verfahrens nicht entgegenstehen. Denn derzeit ist die Frage der Auslegung des Begriffs der Finanzdienstleistung im Sinne des § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB [aF] und des Art. 2 Buchst. b der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie vorrangig. Auf die Auslegung des § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BGB aF sowie des Art. 16 Buchst. l der Verbraucherrechterichtlinie kommt es dagegen im vorliegenden Verfahrensstadium nicht an.

7dd) Die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung dürfte sich nicht darauf berufen können, dass die Ausübung des Widerrufsrechts durch den Kläger rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 242 BGB und damit bereits aus diesem Grund unwirksam sei, weil er sein Widerrufsrecht gezielt allein dazu eingesetzt habe, um "willkürlich wirtschaftliche Vorteile zu erlangen".

8(1) Das Berufungsgericht hat bereits keine Feststellungen zu der zum Widerruf des vorliegenden Leasingvertrags führenden Motivation des Klägers getroffen. Im Übrigen knüpft das Gesetz die Ausübung des fernabsatzrechtlichen Widerrufsrechts - wie schon das Fehlen einer Begründungspflicht (§ 355 Abs. 1 Satz 2 BGB) zeigt - nicht an ein berechtigtes Interesse des Verbrauchers (etwa Nichtgefallen der Waren nach Überprüfung), sondern überlässt es allein seinem freien Willen, ob und aus welchen Gründen er seine Vertragserklärung widerruft (vgl. , NJW 2016, 1951 Rn. 20; vom - VIII ZR 55/15, NJW 2017, 878 Rn. 52; vom - VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380 Rn. 34 [zu einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Werkvertrag]).

9(2) Auch eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf die von dem XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs dem Gerichtshof mit Beschluss vom (XI ZR 113/21 u.a., WM 2022, 420) vorgelegte Frage, ob Art. 14 der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Kreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. Nr. 133, S. 66; Verbraucherkreditrichtlinie) dahingehend auszulegen ist, dass es den nationalen Gerichten nicht verwehrt ist, im Einzelfall bei Vorliegen besonderer, über den bloßen Zeitablauf hinausgehender Umstände die Berufung des Verbrauchers auf sein wirksam ausgeübtes Widerrufsrecht als missbräuchlich und betrügerisch zu werten mit der Folge, dass ihm die vorteilhaften Rechtsfolgen des Widerrufs versagt werden können, ist im vorliegenden Fall nicht geboten.

10Anders als die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung meint, ist der diesem Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegende Fall Vier (XI ZR 304/21) mit dem hier zugrunde zu legenden Sachverhalt nicht vergleichbar.

11c) Die dem Gerichtshof vorgelegte Frage ist auch entgegen der Ansicht der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung weder durch den Gerichtshof im Sinne eines "acte éclairé" geklärt noch ist die Auslegung von Art. 2 Buchst. b der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie im Hinblick auf Leasingverträge mit Kilometerabrechnung derart eindeutig, dass von einem "acte clair" ausgegangen werden könnte.

12aa) Eine Entscheidung des Gerichtshofs zu der Frage, ob es sich bei einem Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen im Sinne der vorgenannten Richtlinie handelt, liegt bislang nicht vor.

13Soweit die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung unter Verweis auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom (C-164/16, DStR 2017, 2215 Rn. 25 ff.) die Ansicht vertritt, es handele sich bei dem streitgegenständlichen Leasingvertrag nicht um einen Finanzierungsleasingvertrag und damit nicht um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen, ist die von ihr angeführte Entscheidung des Gerichtshofs bereits nicht einschlägig.

14Der Gerichtshof hat sich in diesem Urteil nicht mit der Auslegung des Begriffs der Finanzdienstleistung im Sinne der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie befasst. Vielmehr hat er sich allein mit einer Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. Nr. L 347, S. 1; Mehrwertsteuersystemrichtlinie) betreffenden Frage auseinandergesetzt.

15bb) Auch dürfte die Frage, ob Leasingverträge mit Kilometerabrechnung Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie sind, angesichts des sehr weit gefassten Wortlauts von Art. 2 Buchst. b der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie, wonach eine Finanzdienstleistung "jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung" umfasst, und des Umstands, dass auch bei einem Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung ohne Restwertgarantie eine Vollamortisation durch die Zahlungen des Leasingnehmers, die Haftung für den vertragsgemäßen Zustand der zurückgegebenen Sache und deren Verwertung im Ergebnis regelmäßig eintritt (vgl. Senatsurteil vom - VIII ZR 36/20, BGHZ 229, 59 Rn. 49 mwN), jedenfalls nicht mit der für einen "acte clair" gebotenen Sicherheit zu beantworten sein.

162. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:300822BVIIIZR305.21.0

Fundstelle(n):
BAAAJ-27755