BGH Beschluss v. - X ZR 80/21

Reiserücktritt während der Corona-Pandemie: Entschädigungsanspruch des Pauschalreiseveranstalters bei coronabedingten Rücktritt durch Reisenden sowie späterer coronabedingter Reiseabsage durch Reiseveranstalter

Gesetze: § 346 BGB, § 351a BGB, § 651h Abs 1 S 1 BGB, § 651h Abs 1 S 2 BGB, § 651h Abs 1 S 3 BGB, § 651h Abs 3 S 1 BGB, § 651h Abs 3 S 2 BGB, Art 12 Abs 2 EURL 2015/2302

Instanzenzug: LG Frankfurt Az: 2-24 S 31/21 Urteilvorgehend AG Frankfurt Az: 31 C 2574/20 (15) Urteil

Gründe

1I. Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Rückzahlung des restlichen Reisepreises für eine Pauschalreise.

2Der Kläger buchte am telefonisch für sich und seine Ehefrau bei der Beklagten die Pauschalreise "Zu Gast bei Rosamunde Pilcher 2020" nach London und Südengland, die vom 28. März bis zum stattfinden und 2.308 Euro kosten sollte. Wenige Tage später erhielt der Kläger eine Buchungsbestätigung, der die bei der telefonischen Buchung nicht in Bezug genommenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten beigefügt waren. Der Kläger zahlte daraufhin den vollständigen Reisepreis.

3Ende Februar 2020 ging der Kläger, der sich ebenso wie seine Frau aufgrund einer langjährigen Krebserkrankung zur Covid-19-Risikogruppe zählte, davon aus, dass die Reise aufgrund der zunehmenden Ausbreitung des Coronavirus nicht angetreten werden könnte. Daher trat er am telefonisch von der Reise zurück. Zu diesem Zeitpunkt bestanden keine Reise- oder Bewegungseinschränkungen für das Reisegebiet.

4Im März 2020 sprach das Auswärtige Amt eine weltweite Reisewarnung aus.

5Die Beklagte sagte die vom Kläger gebuchte Reise am wegen der Covid-19-Pandemie ab, zahlte diesem am 1.731 Euro zurück und behielt 577 Euro als Stornierungskosten ein.

6Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Beklagte zur Rückzahlung des restlichen Reisepreises in Höhe von 577 Euro und zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

7II. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

8Das Amtsgericht habe die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Beklagte könne von dem Kläger nach dessen Rücktritt von dem Pauschalreisevertrag keine Entschädigung verlangen, da die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB erfüllt seien.

9Naturkatastrophen und Krankheitsausbrüche könnten unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände im Sinne dieser Vorschrift darstellen. Der Ausbruch der Corona-Pandemie habe im Frühjahr 2020 zu einer nahezu weltweiten Abschottung und zu einer nahezu vollständigen Einstellung des internationalen Flugverkehrs geführt. Vor dem Hintergrund, dass das Auswärtige Amt im März 2020 eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen habe, stelle die Corona-Pandemie einen unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB dar. Der Kläger habe den Rücktritt von dem Pauschalreisevertrag aufgrund der Pandemie erklärt, da er und seine Frau zur Risikogruppe gehörten. Die Beklagte habe die Reise vor Reisebeginn aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus abgesagt.

10Es könne dahinstehen, ob bei einer ex-ante-Betrachtung zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung des Klägers das damals bestehende Infektionsgeschehen bereits eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen eines außergewöhnlichen Umstandes im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB begründet habe. Entgegen der von Teilen der Literatur und dem Amtsgericht vertretenen Auffassung sei die ex-ante-Betrachtung jedenfalls dann nicht maßgeblich, wenn der Reiseveranstalter die Reise vor deren Beginn selbst aufgrund eines unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstandes absage.

11III. Das Verfahren wird in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Verfahren C-584/22 (X ZR 53/21) ausgesetzt.

121. Der Senat hat durch Beschluss vom (X ZR 53/21) dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Frage zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt:

Ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. EU L 326 S. 1 ff.)

1. dahingehend auszulegen, dass für die Beurteilung der Berechtigung des Rücktritts nur jene unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits aufgetreten sind,

2. oder dahingehend, dass auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Beginn der Reise tatsächlich auftreten?

132. Diese Frage ist auch im Streitfall entscheidungserheblich.

14a) Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam vom Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung des restlichen Reisepreises verpflichtet.

15b) Diesem Anspruch kann die Beklagte den von ihr geltend gemachten Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB nicht entgegenhalten, wenn die Entschädigungspflicht nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB ausgeschlossen ist.

16Nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB kann der Reiseveranstalter bei einem Rücktritt des Reisenden vor Reiseantritt von diesem keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.

17Unvermeidbar und außergewöhnlich sind Umstände gemäß § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich darauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären.

18Diese Definition wurde aus Art. 3 Nr. 12 der Richtlinie (EU) 2015/2302 (im Folgenden: Pauschalreiserichtlinie oder Richtlinie) übernommen. Erwägungsgrund 31 der Richtlinie nennt als Beispiele für solche Umstände Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus und erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie den Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen.

19aa) Dass im Reisezeitraum (März/April 2020) die Gefahr einer Erkrankung an Covid-19 ein nicht beherrschbares erhebliches Risiko für die menschliche Gesundheit darstellte und aufgrund der pandemischen Lage die Gefahr einer Infektion auf der gebuchten Busrundreise in Südengland mit den vorgesehenen Anlauforten bestand, das dem normalen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innewohnte, zieht die Revision zu Recht nicht in Zweifel und findet in der festgestellten pandemiebedingten Absage der Pauschalreise Bestätigung.

20bb) Vor diesem Hintergrund ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Covid-19-Pandemie als Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB bewertet hat, der grundsätzlich geeignet war, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beinträchtigen (vgl. zur entsprechenden Einordnung der Covid-19-Pandemie: BeckOGKBGB/Harke, Stand , § 651h Rn. 49.1; BeckOKBGB/Geib, 62. Edition, Stand , § 651h Rn. 21; jurisPK/Steinrötter, 9. Aufl. [aktualisiert ], § 651h Rn. 44.1; Grüneberg/Retzlaff, 81. Aufl. 2022, § 651h Rn. 13; Binger RRa 2021, 207, 208; Führich NJW 2020, 2137; Führich NJW 2022, 1641, 1643; Hopperdietzel, RRa 2022, 3; Löw NJW 2020, 1252, 1253; Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 29; Tonner, RRa 2021, 55, 57; Ullenboom RRa 2021, 155, 157; Weller/Lieberknecht/Habrich NJW 2020, 1017, 1021; Woitkewitsch, NJW 2022, 1134, 1136; aus der Instanzrechtsprechung statt vieler: , RRa 2022, 30, 31; LG Frankfurt am Main, Urteil vom - 24 S 40/21, BeckRS 2021, 33155; Rn. 26, DAR 2021, 35, 36).

21cc) § 651h Abs. 3 BGB ist auch dann anwendbar, wenn dieselben oder vergleichbare Beeinträchtigungen im vorgesehenen Reisezeitraum auch am Heimatort des Reisenden vorliegen (dazu ausführlich ).

22dd) Der Tatbestand von § 651h Abs. 3 BGB ist erfüllt, wenn schon vor Beginn der Reise außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die Reise oder die Beförderung zum Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt ist.

23Eine solche Beeinträchtigung kann schon dann zu bejahen sein, wenn die Durchführung der Reise aufgrund von außergewöhnlichen Umständen mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken in Bezug auf solche Rechtsgüter verbunden wäre. Die Beurteilung, ob solche Risiken bestehen, erfordert regelmäßig eine Prognose vor Reisebeginn.

24Eine solche Prognose hat das Berufungsgericht mit Blick auf die pandemiebedingte Absage der Reise durch die Beklagte nicht vorgenommen.

25c) Der Ausschluss eines Entschädigungsanspruchs der Beklagten nach § 651h Abs. 3 BGB hängt vor diesem Hintergrund davon ab, ob mit der pandemiebedingt erfolgten Absage der Pauschalreise auf einen Umstand abgestellt werden darf, der im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung des Klägers noch nicht eingetreten war.

26Ob nachträgliche Ereignisse bei der Beurteilung der Beeinträchtigung der Pauschalreise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände berücksichtigt werden können, ist Gegenstand des oben genannten Vorabentscheidungsersuchens des Senats. Dessen Ausgang ist auch hier entscheidungserheblich, da das Berufungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, dass entgegen der anderweitigen Bewertung des Amtsgerichts nicht nur nachträglich, sondern bereits zum Zeitpunkt des Rücktritts, also ungefähr einen Monat vor Reisebeginn, Umstände absehbar waren, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Reise begründen konnten.

27Angesichts dessen kann der Senat vor einer Entscheidung des Gerichtshofs keine abschließende Sachentscheidung treffen.

283. Eine weitere Vorlage an den Gerichtshof ist nicht geboten, da sie eine Beantwortung der bereits gestellten Rechtsfrage nicht beschleunigen würde und der Gerichtshof durch eine mehrfache Befassung mit derselben Rechtsfrage zusätzlich belastet würde (vgl. dazu etwa ). Deshalb ist es sachgerecht, das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO auszusetzen, bis der Gerichtshof über die bereits vorgelegte Frage entschieden hat.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:131022BXZR80.21.0

Fundstelle(n):
YAAAJ-27247