Unterbringungsverfahren: persönliche Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren notwendig; Feststellungen zum Ausschluss der freien Willensbildung
Leitsatz
Wird in einem Unterbringungsverfahren die nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG zwingend erforderliche persönliche Anhörung des Betroffenen vom Amtsgericht erst im Abhilfeverfahren nachgeholt oder verfahrensfehlerfrei durchgeführt, kann das Beschwerdegericht nicht von der auch im zweitinstanzlichen Verfahren grundsätzlich gebotenen persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom - XII ZB 371/21, FamRZ 2022, 1133).
Gesetze: § 68 Abs 3 S 1 FamFG, § 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 319 Abs 1 S 1 FamFG
Instanzenzug: LG Mainz Az: 8 T 391/21vorgehend AG Worms Az: 43 XVII 145/20
Gründe
I.
1Der Betroffene leidet an einer bipolaren affektiven Störung mit psychotischen Symptomen. Seit dem befindet er sich durchgehend in einer psychiatrischen Fachklinik. Auf Antrag seines Betreuers genehmigte das Amtsgericht die Unterbringung des Betroffenen zunächst bis zum .
2Mit Schreiben vom hat der Betreuer beantragt, die Unterbringung des Betroffenen für ein weiteres Jahr über den hinaus betreuungsgerichtlich zu genehmigen. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens hat das die weitere Unterbringung des Betroffenen bis längstens genehmigt.
3Mit einem am bei Gericht eingegangenen Schreiben hat der Betroffene hiergegen Beschwerde eingelegt. Nach Anhörung des Betroffenen hat das der Beschwerde abgeholfen und den Beschluss vom aufgehoben sowie erneut die Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Pflegeheims bis zum Ablauf des genehmigt.
4Die gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen.
II.
5Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
61. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Landgericht unter Verstoß gegen §§ 319 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung des Betroffenen über dessen Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss entschieden hat.
7a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (Senatsbeschluss vom - XII ZB 371/21 - FamRZ 2022, 1133 Rn. 7 mwN).
8b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht - wie geschehen - von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war verfahrensfehlerhaft.
9Zum Zeitpunkt der vom Amtsgericht am durchgeführten Anhörung des Betroffenen war das erstinstanzliche Verfahren bereits durch den amtsgerichtlichen Beschluss vom abgeschlossen. Bis zur Aufhebung dieser Entscheidung durch den Abhilfebeschluss vom war der Betreuungsrichter lediglich im Rahmen des durch die Beschwerde des Betroffenen eingeleiteten Abhilfeverfahrens mit der Sache befasst. Eine fehlerhafte oder unterbliebene erstinstanzliche Anhörung eines Betroffenen in einem Unterbringungsverfahren kann jedoch im Abhilfeverfahren regelmäßig weder geheilt noch nachgeholt werden (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 371/21 - FamRZ 2022, 1133 Rn. 12 mwN). Eine erstmals im Abhilfeverfahren verfahrensfehlerfrei durchgeführte Anhörung des Betroffenen wird auch dem Regelungsgehalt des § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht gerecht, der anordnet, dass die persönliche Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme und damit vor der abschließenden Entscheidung im ersten Rechtszug erfolgen muss (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 93/21 - FamRZ 2022, 135 Rn. 16 zu § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Das Abhilfeverfahren ist jedoch bereits Bestandteil des Beschwerdeverfahrens und gehört deshalb nicht mehr zum ersten Rechtszug, der mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung endet (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 93/21 - FamRZ 2022, 135 Rn. 15 mwN). Diesen erstinstanzlichen Verfahrensfehler hätte das Beschwerdegericht dadurch beheben müssen, dass es im Beschwerdeverfahren den Betroffenen selbst persönlich anhört.
102. Die Rüge der Rechtsbeschwerde, wonach die vom Landgericht getroffenen Feststellungen zum Ausschluss der freien Willensbestimmung nicht auf einer tragfähigen Grundlage beruhen, ist ebenfalls zutreffend.
11a) Die zivilrechtliche Unterbringung eines Betroffenen setzt voraus, dass er aufgrund seiner psychischen Krankheit oder seiner geistigen oder seelischen Behinderung seinen Willen nicht frei bestimmen kann (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 183/20 - NJW-RR 2021, 3 Rn. 11 mwN). Das fachärztlich beratene Gericht hat daher festzustellen, ob der Betroffene trotz seiner Erkrankung noch zu einer freien Willensbestimmung fähig ist. Die Feststellungen zum Ausschluss der freien Willensbestimmung müssen durch ein Sachverständigengutachten belegt sein. Das Gutachten muss Art und Ausmaß der Erkrankung und deren Auswirkung auf die Fähigkeit zur freien Willensbildung im Einzelnen anhand der Vorgeschichte, der durchgeführten Untersuchungen und der sonstigen Erkenntnisse darstellen und wissenschaftlich begründen. Nur dann ist das Gericht in der Lage, das Gutachten zu überprüfen und sich eine eigene Meinung von der Richtigkeit der vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen zu bilden (Senatsbeschluss vom - XII ZB 144/19 - FamRZ 2020, 282 Rn. 13 mwN).
12b) An einer diesen rechtlichen Vorgaben genügenden und durch ein Sachverständigengutachten getragenen Feststellung, dass es dem Betroffenen am freien Willen mangelt, fehlt es vorliegend. Zwar hat das Beschwerdegericht in seiner Entscheidung ausgeführt, eine Krankheitseinsicht sei bei dem Betroffenen nicht vorhanden. Diese Feststellung wird jedoch durch das eingeholte Sachverständigengutachten nicht gestützt. Denn dieses verhält sich nicht zu der Frage, ob es dem Betroffenen an einem freien Willen fehlt. Der Sachverständige führt vielmehr nur im Rahmen der Zusammenfassung seiner Untersuchungsergebnisse aus, dass bei dem Betroffenen eine unzureichende Krankheits- und Behandlungseinsicht bestehe und es deshalb nach Absetzen der Medikamente rasch zu einer Destabilisierung seines psychischen Zustands kommen werde. Allein damit steht jedoch nicht fest, dass der Betroffene zu einer freien Willensbildung bezüglich der Ablehnung der Unterbringung nicht mehr in der Lage ist. Dass die Willensbildung durch die Krankheit beeinflusst ist, bedeutet noch nicht, dass nicht gleichwohl eine freie Willensbildung möglich ist.
133. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist.
14Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:140922BXIIZB52.22.0
Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 3794 Nr. 52
NJW 2022 S. 8 Nr. 46
KAAAJ-25020