BGH Beschluss v. - 4 StR 166/22

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung: Berücksichtigung von Verteidigungsverhalten zur Begründung eines Hanges und der Gefährlichkeitsprognose

Gesetze: § 66 Abs 1 S 1 Nr 4 StGB, § 66 Abs 2 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: LG Bochum Az: II 8 KLs 5/20

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 144 Fällen unter Einbeziehung einer Strafe aus einem anderen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung getroffen. Darüber hinaus hat das Landgericht den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 19 Fällen, sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen in 301 rechtlich zusammentreffenden Fällen, sexuellen Übergriffs, gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, Drittbesitzverschaffung jugendpornografischer Schriften in zwei Fällen, hier jeweils in Tateinheit mit Besitz jugendpornografischer Schriften, und wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Schließlich hat es die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

21. Die auf § 66 Abs. 2 StGB gestützte Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

3Die Strafkammer hat sowohl zur Begründung eines Hanges zu gefährlichen Straftaten als auch bei der Entwicklung der Gefährlichkeitsprognose (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB) darauf abgestellt, dass die Einlassung des Angeklagten erhebliche Verlagerungen der Tatverantwortung mit Schuldzuweisungen an den Nebenkläger bis zur Umkehrung der Rollen von Täter und Opfer enthalte.

4Zulässiges Verteidigungsverhalten darf aber weder hangbegründend noch als Anknüpfungspunkt für die Gefährlichkeit des Angeklagten verwertet werden. Andernfalls wäre der Angeklagte gezwungen, seine Verteidigungsstrategie aufzugeben, will er hinsichtlich der Sicherungsverwahrung einer ihm ungünstigen Entscheidung entgegenwirken (vgl. Rn. 7; Beschluss vom – 4 StR 134/19 Rn. 24). Wenn der Angeklagte zu seiner Verteidigung die ihm zur Last gelegten Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässig. Die Grenze zulässiger Verteidigung ist erst dann erreicht, wenn – was hier nicht der Fall ist – das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers oder eines Dritten Ausdruck einer besonders verwerflichen Einstellung ist, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht (vgl. Rn. 7; Beschluss vom – 4 StR 588/19 Rn. 5). Der Senat vermag nicht gänzlich auszuschließen, dass der Maßregelausspruch auf der rechtlich durchgreifend bedenklichen Erwägung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).

52. Die Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:310822B4STR166.22.0

Fundstelle(n):
UAAAJ-23385