Finanzgericht Nürnberg Beschluss v. - 2 V 1107/15 EFG 2015 S. 2135 Nr. 23

Anforderungen an eine Aussetzung der Vollziehung bei Bedenken gegen die Gültigkeit einer Gesetzesvorschrift - hier: § 27b UStG = Änderung der Steuerfestsetzung bei Bauleistungen wegen unrichtiger Festsetzung nach § 13b UStG

Leitsatz

1. a) Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, der auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift gestützt wird, setzt wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus.

b) Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung von AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an. Das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift ist bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung.

2. . Da im vorliegenden Fall der Antragsteller faktisch nur das Insolvenzrisiko trägt, welches er gemäß § 27 Abs. 19 UStG durch eine Abtretung des Nachforderungsanspruchs gegen den Leistungsempfänger auf den Staat abwälzen kann und er der Anregungen des Finanzamts, berichtigte Rechnungen zu erstellen und den Anspruch daraus an das Finanzamt abzutreten ohne Begründung nicht gefolgt ist, kann im summarischen Verfahren keine Beeinträchtigung erkannt werden, die es erlaubt, dem individuellen Rechtschutzinteresse Vorrang vor dem Gültigkeitsanspruch des formellen Gesetzes einzuräumen.

Gesetze: UStG § 13b Abs. 2, UStG § 27 Abs. 19, FGO § 69 Abs. 2, FGO § 69 Abs. 3

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob das Finanzamt Umsatzsteuerbescheide ändern durfte.

Die Antragstellerin führte in den Streitjahren Bauleistungen in Sinn von § 13b Abs. 2 Nr. 4 Umsatzsteuergesetz (UStG) an eine Bauträgerin aus. In Anwendung der damals gültigen Verwaltungsvorschriften gingen die Antragstellerin und die Leistungsempfängerin davon aus, dass letztere die Umsatzsteuer gemäß § 13b Abs. 5 UStG schulde. Dementsprechend wies die Antragstellerin auf ihren Rechnungen keine Umsatzsteuer aus und meldete für diese Umsätze auch keine Umsatzsteuer an.

Ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre stimmte das Finanzamt zu; sie standen gemäß § 168 Abgabenordnung (AO) Steuererklärungen unter Vorbehalt der Nachprüfung gleich.

Im Gefolge der Entscheidung des , BStBl II 2014, 128, berichtigte die Leistungsempfängerin ihre Steuererklärungen und forderte die Umsatzsteuer aus den genannten Umsätzen zurück. Daraufhin forderte das beklagte Finanzamt die Antragstellerin auf, ihrerseits die Steuererklärungen zu berichtigen und auf diese Umsätze Umsatzsteuer zu entrichten. Da sie dieser Aufforderung nicht nachkam, änderte das Finanzamt die streitigen Festsetzungen mit Änderungsbescheiden vom unter Berufung auf § 27 Abs. 19 UStG. Hieraus resultieren Nachforderungsbeträge in Höhe von rund 150.000 €.

Über den gegen diese Bescheide erhobenen Einspruch hat das Finanzamt noch nicht entschieden. Einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide lehnte es mit Bescheid vom ab.

Hierauf beantragte die Antragstellerin bei Gericht, die Umsatzsteuerbescheide vom für die Jahre 2010 bis 2012 vollumfänglich von der Vollziehung auszusetzen.

Sie begründet dies im Wesentlichen wie folgt: Die Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG sei sehr zweifelhaft und deswegen in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Daraus resultierten ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide, die eine Aussetzung rechtfertigten. Zudem ergäbe sich aus der Notwendigkeit, für die Nachforderungsbeträge zumindest in Vorleistung gehen zu müssen, eine unbillige Härte für sie. Auch sei unklar, ob sie die Beträge tatsächlich zivilrechtlich zurückfordern könnte, da Verjährung zu befürchten sei.

Das Finanzamt beantragt, den Antrag abzuweisen und begründet dies im Wesentlichen damit, dass es keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG habe und es eine unbillige Härte angesichts des zivilrechtlichen Zahlungsanspruchs gegenüber der Leistungsempfängerin und der Möglichkeit, diesen Anspruch an Erfüllung statt dem Finanzamt abzutreten, nicht erkennen könne.

Gründe

II.

Der Antrag ist unbegründet. An der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen bei der gebotenen überschlägigen Prüfung anhand des aktenkundigen Sachverhalts und der präsenten Beweismittel keine ernsthaften Zweifel.

Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes auf Antrag auszusetzen, soweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes ist ernstlich zweifelhaft, wenn bei Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel, der gerichtsbekannten Tatsachen und des unstreitigen Sachverhalts erkennbar wird, dass aus gewichtigen Gründen eine Unklarheit in der Beurteilung von Tatsachen oder eine Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Bescheid als rechtswidrig erweisen könnte (, BFH/NV 2001,1119).

Wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift gestützt werden, ist darüber hinaus das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts zu beachten (, BStBl II 1984, 454, unter III.). Die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz in Form der Aussetzung der Vollziehung (AdV) wird hierdurch zwar nicht per se ausgeschlossen (, BStBl II 2009, 826, m.w.N.). Sie setzt aber nach langjähriger Rechtsprechung des BFH wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus (vgl. zuletzt , BStBl II 2010, 558 mit umfangreichen Nachweisen).

Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist nach dem , BStBl II 2010, 558) dieses mit den gegen die Gewährung von AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an. Das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift ist bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Diese Rechtsprechung ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes vereinbar (Bundesverfassungsgericht- BVerfG-Beschlüsse vom 1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283, und vom 2 BvR 283/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1992, 726).

Der Senat macht sich diesen Standpunkt zu Eigen, da nur diese Auslegung einen sachgerechten Ausgleich zwischen dem Geltungsanspruch des formellen Gesetzes und dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Grundgesetz) ermöglicht. Jedenfalls wenn die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen ist und der Eingriff keine dauerhaft nachteiligen Wirkungen hat, ist dem Geltungsanspruch eines formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes der Vorrang einzuräumen. Die Abwägung des Aussetzungsinteresses des Steuerpflichtigen mit dem öffentlichen Interesse an der Geltung und Beachtung des ordnungsgemäß erlassenen Gesetzes lässt genügend Spielraum für eine sachgerechte Beurteilung jeden Einzelfalles.

Unter diesen Voraussetzungen kann im Streitfall AdV nicht gewährt werden. Aufgrund der Entscheidung des , MwStR 2015, 602 ist offensichtlich, dass gewisse Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG bestehen. Der Senat braucht dabei nicht zu entscheiden, ob er sich diesen Zweifeln letztlich anschließen könnte. Dies müsste in einem Hauptsacheverfahren geklärt werden. Der Senat weist aber bereits jetzt darauf hin, dass § 27 Abs. 19 UStG nicht nur haushalterische Zwecke verfolgt, sondern auch den - unionsrechtlich verankerten - Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer verwirklicht.

Auch die Frage, ob der Eingriff in Rechtspositionen des Steuerpflichtigen angesichts von zivilrechtlichen Ansprüchen gegen den Leistungsempfänger als schwerwiegend zu beurteilen ist, beurteilt der Senat angesichts von § 199 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) abweichend. Aus § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB ergibt sich, dass der Verjährungsbeginn für den Zahlungsanspruch der Antragstellerin an die Veröffentlichung der Entscheidung des anknüpft und gemäß § 199 Abs. 1 BGB die Verjährung mit dem Schluss des Jahres 2013 beginnt. Angesichts einer regelmäßigen Verjährungsfrist von 3 Jahren (§ 195 BGB) scheint eine Verjährung ausgeschlossen. Somit bleibt für die Antragstellerin faktisch nur das Insolvenzrisiko, welches sie aber gemäß § 27 Abs. 19 UStG durch eine Abtretung des Nachforderungsanspruches gegen den Leistungsempfänger auf den Staat abwälzen kann.

Da die Antragstellerin im Verwaltungsverfahren den Anregungen des Finanzamts, berichtigte Rechnungen zu erstellen und den Anspruch daraus an das Finanzamt abzutreten, ohne Begründung nicht gefolgt ist, kann der Senat im summarischen Verfahren keine Beeinträchtigung erkennen, die es erlaubte, ausnahmsweise dem individuellen Rechtsschutzinteresse Vorrang vor dem Gültigkeitsanspruch des formellen Gesetzes einzuräumen.

Die Vollziehung der angefochtenen Bescheide ist auch nicht wegen unbilliger Härte gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO auszusetzen.

Eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte im Sinn dieser Vorschriften liegt vor, wenn dem Zahlungspflichtigen durch die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes wirtschaftliche Nachteile drohen, die durch eine etwaige spätere Rückzahlung des eingezogenen Betrages nicht ausgeglichen werden oder nur schwer gutzumachen sind, oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz führen würde (BFH-Beschlüsse vom II B 98/89, BStBl II 1990, 510; vom VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325).

Eine solche unbillige Härte ist nicht ersichtlich. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend. Hinzu kommt, dass die Ausführungen der Antragstellerin zu den wirtschaftlichen Konsequenzen so vage geblieben sind, dass eine Beurteilung, ob sie durch die Vollziehung in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht wäre oder ihr kaum mehr gutzumachenden Nachteile entstehen würden, nicht möglich ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §135 Abs. 1 FGO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
BBK-Kurznachricht Nr. 21/2015 S. 975
EFG 2015 S. 2135 Nr. 23
PAAAF-05690