Anforderungen an die schlüssige Begründung einer Schätzung des Finanzamts im summarischen Verfahren
Leitsatz
Bei einer Schätzung gemäß § 162 AO muss das Finanzamt auch im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes ausreichende Belege vorlegen, die Zweifel an einer Schätzungsbefugnis des Finanzamts ausräumen und zudem seine Schätzung der Höhe nach durch die Offenlegung einer nachvollziehbaren Kalkulation substantiieren. Dafür müssen sowohl die verwendeten Ausgangszahlen (in der Regel die Buchungskonten), als auch der Kalkulationsweg nachvollziehbar dargestellt werden, damit das Finanzgericht in die Lage versetzt wird, seine eigene Schätzungsbefugnis auszuüben.
Gesetze: AO § 162, FGO § 69 Abs. 2, FGO § 69 Abs. 3
Gründe
I.
Streitig sind Zuschätzungen nach einer Betriebsprüfung.
Der Antragsteller betrieb in den Streitjahren (und betreibt bis heute) u.a. eine Kaffeebar nach italienischem Vorbild in der Innenstadt.
Der Antragsteller wohnt derzeit - entgegen seiner eigenen Angabe in der Klageschrift - ausweislich der Meldedaten der Stadt an der Adresse Str. 1, 1; die in der Antragsschrift angegebene Adresse ist die des Cafés.
Mit Änderungsbescheiden vom änderte das Finanzamt die Umsatzsteuerfestsetzungen der Streitjahre (Steuernummer xxx/xxx/xxxxx) zu Lasten des Antragstellers (2010 +7.136,38 €, 2011 +12.102,56 €, 2012 +13.535,14 €, 2013 +6.335,07 €, 2014 +11.153,33 €). Die Änderungen beruhen auf einer Außenprüfung; die angesetzten Werte entsprechen den Werten laut dem Betriebsprüfungsbericht vom .
Der Betriebsprüfungsbericht vom führt nach umfangreichen allgemeinen Ausführungen zu den rechtlichen Anforderungen an Buchführung und Aufzeichnungen von Steuerpflichtigen als tatsächliche Feststellungen zum Unternehmen des Antragsteller nur auf, dass der Antragsteller seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 Einkommensteuergesetz ermittle und anscheinend geführte "Strichlisten" nicht alle Geschäftsvorfälle (wohl insb. außer-Haus-Verkäufe) erfassten. Im Bericht werden die Ergebnisse einer Getränkekalkulation für 2013 und 2014 verwendet, um Rohgewinnaufschläge zu ermitteln (2013: 311% und 2014: 310%), die anschließend auf die früheren Jahre übertragen werden (310%). In diese Rohaufschläge finden auch kalkulierte Erlöse für "Ciabatta" und "Gebäck" Eingang. Für diese findet sich eine einfache Kalkulation im Bericht, die anscheinend auf dem gebuchten Wareneinkauf ansetzt und mit einem Aufschlag von 80% operiert. Ausweislich des Berichts habe sich dieser Aufschlag aus "den Einkaufspreisen lt. Rechnung und den Verkaufspreisen lt." dem Antragsteller ergeben.
Der Bericht verweist anschließend auf eine Kalkulation des Antragstellers vom , die nicht herangezogen werden könne. Dennoch sei glaubhaft gemacht worden, dass Gratisgetränke, Bruch etc. in der Kalkulation der Betriebsprüfung nicht ausreichend berücksichtigt worden seien und deswegen der Rohgewinnaufschlag auf 257 % reduziert werde. Dadurch würden "sämtliche Gratisgetränke, Anpassungen des Mahlgrades der Kaffeemaschine, Bruch etc. berücksichtigt".
Der Antragsteller hat fristgerecht Einspruch erhoben, über den noch nicht entschieden worden ist. Den mit dem Einspruch gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide hat das Finanzamt unter Verweis auf ein Schreiben des Finanzamts vom abgelehnt. Das Schreiben vom besteht neben Standardtextblöcken nur aus der per "Kopieren und Einfügen" übernommene Stellungnahme des Betriebsprüfers vom . Aus diesem Schreiben ergibt sich, dass der Antragsteller wohl bereits mit Schreiben vom zu den Punkten der Betriebsprüfung Stellung genommen und dabei eine eigene - von der späteren eigenen deutlich abweichende - Kalkulation vorgelegt hat. Die dieser Kalkulation zugrundeliegenden vom Antragsteller "rekonstruierten Preise" der Jahre 2013 und 2014 hat die Betriebsprüfung daraufhin übernommen.
Am hat der Antragsteller 40.906,41 € unter Angabe seiner Steuernummer und den Worten "unter Vorbehalt" überwiesen. Er hat dazu am dem Finanzamt mitgeteilt, dass er diesen Betrag nur aus einer kürzlich erhaltenen Erbschaft habe aufbringen können und angesichts der Steuerforderungen seinen Betrieb sonst "liquidieren" müsse.
Ausweislich der in den vorgelegten Akten befindlichen Abfragen der offenen Steuerverbindlichkeiten ("O-Abfragen) zum und zum ist dieser Betrag auf die streitige Umsatzsteuer verbucht worden; offen sind danach zum unter dieser Steuernummer nur noch neben Umsatzsteuer 2014 in Höhe von 9.356,17 € Nebenleistungen zur Umsatzsteuer sowie in geringem Umfang Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer zur Lohnsteuer.
Am hat der Antragsteller bei Gericht beantragt, die Änderungsbescheide vom (u.a.) über Umsatzsteuer der Jahre 2010 bis 2014 in vollem Umfang von der Vollziehung "auszusetzen".
Er begründet dies im Wesentlichen damit, dass die besonderen Verhältnisse des geprüften Betriebes in der Schätzung nicht (ausreichend) berücksichtigt worden seien.
Das Finanzamt beantragt, den Antrag abzuweisen und begründet dies im Wesentlichen damit, dass alle Einwendungen des Antragstellers ausreichend berücksichtigt worden seien.
Das Finanzamt hat eine Umsatzsteuerakte vorgelegt, in der die Streitjahre und den Streitgegenstand betreffend ausschließlich die Steuererklärungen der Jahre 2010 und 2011 enthalten sind. Für die Jahre 2012 und 2014 enthält die Umsatzsteuerakte nichts. Des Weiteren hat das Finanzamt eine Gewerbesteuerakte vorgelegt. Hier sind die Gewinnermittlungen für das Café für die Streitjahre abgelegt; Informationen zur Betriebsprüfung sind dort nicht enthalten. In der ebenfalls vorgelegten Akte zur gesonderten Feststellung der Einkünfte unter der Steuernummer xxx/xxx/xxxxx findet sich zum Café neben der Erklärung für 2010 und dem Ausdruck der elektronischen Erklärung für 2011 nur der Hinweis auf eine umsatzsteuerliche Organschaft mit einem weiteren Café in 2 (Organtochter; Schreiben des Antragstellers vom ). In der vorgelegten Betriebsprüfungsakte ist nur der Bericht vom abgeheftet. In der ebenso vorgelegten Rechtsbehelfsakte finden sich neben den bereits genannten Schriftstücken (O-Abfragen, Schreiben vom , , und ) nur die Einspruchsschreiben und standardisierte Rücknahmeaufforderungen und eine "Ergebnisanzeige".
II.
Der Antrag ist begründet. An der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen bei der gebotenen überschlägigen Prüfung anhand des aktenkundigen Sachverhalts und der präsenten Beweismittel ernsthafte Zweifel.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes auf Antrag auszusetzen, soweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids bestehen. Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung seit dem , BStBl III 1967, 182; , BFH/NV 2009, 1437). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl. , BStBl II 2012, 590, unter II.2.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (, BFH/NV 2014, 999).
2. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt, da das Finanzamt die steuererhöhenden Tatsachen nicht glaubhaft gemacht hat.
Das Finanzamt trägt die Feststellungslast für steuererhöhende Tatsachen (vgl. z.B. , BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220).
Es ist dabei nicht Aufgabe der Gerichte im Vollziehungsaussetzungsverfahren, einen unvollständig begründeten und bestrittenen Steueranspruch durch eigene Ermittlungen zu belegen (vgl. schon , BFHE 140, 153, BStBl II 1984, 443).
Ist dem Gericht im Aussetzungsverfahren eine sachliche Entscheidung der Frage unmöglich, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vorliegen, weil die Besteuerungsgrundlagen dem Antragsteller nicht in einem für die Rechtsverteidigung ausreichenden Umfang mitgeteilt worden sind, so begründet dies bereits für eine Aussetzung ausreichende ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit im Sinne des § 69 Abs. 2 und 3 FGO (vgl. , BFHE 125, 20, BStBl II 1978, 402-404).
Dasselbe gilt, wenn die Ergebnisse einer Betriebsprüfung zwar anscheinend mit dem Steuerpflichtigen erörtert wurden, sich diese aber nicht nachvollziehbar dokumentiert in den dem Gericht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorgelegten Akten finden. Auch dann ist es dem Gericht unmöglich, die aufgeworfenen Rechts- und Tatsachenfragen zu bewerten.
Zwar muss nicht in allen Fällen die schlüssige Begründung des Steueranspruchs bereits im Steuerbescheid selbst erfolgen. Es kann auch die Bezugnahme auf einen bekanntgemachten Prüfungsbericht genügen, sofern dieser so viele Angaben enthält, dass sich das Gericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ein Bild von dem geltend gemachten Anspruch machen kann (, BFHE 140, 153, BStBl II 1984, 443).
Bei einer Schätzung gemäß § 162 Abgabenordnung (AO) muss das Finanzamt daher - auch im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes - ausreichende Belege vorlegen, die Zweifel an einer Schätzungsbefugnis des Finanzamts ausräumen und zudem seine Schätzung der Höhe nach durch die Offenlegung einer nachvollziehbaren Kalkulation substantiieren. Dafür müssen sowohl die verwendeten Ausgangszahlen (in der Regel die Buchungskonten), als auch der Kalkulationsweg nachvollziehbar dargestellt werden, damit das Finanzgericht in die Lage versetzt wird, seine eigene Schätzungsbefugnis auszuüben. Dies wird in der Regel dadurch gewährleistet werden, dass der Sachbearbeiter in der Rechtsbehelfsstelle seinerseits die Kalkulation der Betriebsprüfung nachvollzieht und überprüft und dies in der Rechtsbehelfsakte dokumentiert. Dadurch gewährleistet er, dass dem Gericht die maßgeblichen Dokumente vorgelegt werden, anhand derer es selbst die Eröffnung einer Schätzungsbefugnis nachprüfen und diese sachgerecht ausüben kann.
Im Streitfall ist in den vorgelegten Akten weder ein Beleg für eine Schätzungsbefugnis des Finanzamt dokumentiert, noch lässt sich die Kalkulation - nicht einmal in Grundzügen - überprüfen.
3. Die Aussetzungsanordnung war trotz der sich aus dem Schreiben vom ergeben Zweifel an der Realisierung der Steuerforderung nicht von der Leistung einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen.
In der Regel rechtfertigt eine Gefährdung des Steueranspruchs die Anordnung einer Sicherheitsleistung. Allerdings ist von dieser trotzdem abzusehen, wenn und soweit mit Gewissheit oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit ein für den Steuerpflichtigen günstiger Prozessausgang zu erwarten ist (, BFHE 97, 240, BStBl II 1970, 127). Davon ist für Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes auch auszugehen, wenn der Sachverhalt, aus dem ein Steueranspruch hergeleitet werden soll, vom Finanzamt unvollständig, widersprüchlich oder auch so ungeordnet vorgetragen wird, dass die rechtliche Subsumtion Schwierigkeiten bereitet. Das Finanzamt muss sich, soweit es die Feststellungslast trägt, im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung entgegenhalten lassen, dass der von ihm geltend gemachte Steueranspruch nicht schlüssig aus dem vorgetragenen Sachverhalt hergeleitet werden kann (, BFHE 140, 153, BStBl II 1984, 443; , BFH/NV 1998, 84).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
EFG 2018 S. 902 Nr. 11
PStR 2018 S. 223 Nr. 9
BAAAG-84166