BGH Beschluss v. - 4 StR 134/21

Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr: Vorsatzfeststellung bei Beschleunigung des Fahrzeugs auf einer Fluchtfahrt innerorts zwecks verkehrswidrigen Überholens eines Polizeifahrzeugs zur Vermeidung einer Festnahme wegen mitgeführter Betäubungsmittel

Gesetze: § 315b Abs 1 Nr 3 StGB, § 315c Abs 2 Buchst b StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: LG Itzehoe Az: 1 KLs 315 Js 33482/19 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten M.    wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, räuberischer Erpressung und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten T.   hat es wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen und vorsätzlichen „schweren“ gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat das Landgericht gegen den Angeklagten T.   Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB verhängt und gegen beide Angeklagte die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Hiergegen richten sich die jeweils auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten. Das Rechtsmittel des Angeklagten T.   hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es - wie das Rechtsmittel des Angeklagten M.   - unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I. Revision des Angeklagten T.

21. Die Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch in den Fällen II. 1 und II. 2 der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

32. Hingegen hält der Schuldspruch im Fall II. 3 (Tat 8) der Urteilsgründe der rechtlichen Nachprüfung nicht stand soweit der Angeklagte auch wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verurteilt worden ist.

4a) Ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr wird von § 315b StGB nur erfasst, wenn ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu „pervertieren“, und es ihm darauf ankommt, hierdurch in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert zudem, dass durch den tatbestandsmäßigen Eingriff Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert konkret gefährdet werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 240/20 Rn. 26, vom - 4 StR 334/17 Rn. 3 f. und vom - 4 StR 408/09 Rn. 4). Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wurde. Ein bloß vorschriftswidriges Verkehrsverhalten fällt deshalb grundsätzlich nicht unter § 315b StGB, sondern - bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen - nur unter § 315c StGB. Insoweit kommt § 315c StGB eine „Sperrwirkung“ zu (vgl. Rn. 26 mwN; Urteil vom - 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233, 237 f.).

5b) Gemessen hieran ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Die Urteils-gründe belegen nicht, dass der Angeklagte das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug bewusst zweckwidrig einsetzte.

6Nach den Feststellungen beschleunigte er innerorts sein Fahrzeug, um unter Nutzung des Gehwegs ein Polizeifahrzeug zu überholen, dessen Fahrer die Flucht des Angeklagten unterbinden wollte. Der vorhandene Platz reichte für den Überholvorgang nicht aus, was der Angeklagte erkannte. Um die Entdeckung mitgeführter Betäubungsmittel und seine Festnahme zu verhindern, wollte er dennoch das Überholen erzwingen und nahm hierbei die Beschädigung beider Fahrzeuge in Kauf. Nach einer vom Angeklagten vorhergesehenen Kollision mit der Heckseite des Polizeifahrzeugs gelang es ihm zu überholen.

7Diese Feststellungen ergeben nicht, dass der Angeklagte über ein bewusst falsches Fahren beim Überholvorgang hinaus sein Fahrzeug auch bewusst zweckwidrig einsetzte und den Verkehrsvorgang zu einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr „pervertierte“. Die Urteilsgründe verhalten sich nicht dazu, welche Vorstellung über das weitere Geschehen der Angeklagte mit seinem Fahrverhalten und einer - seinem Fortkommen womöglich hinderlichen - Kollision verband. Insoweit ist auch die Annahme eines bedingten Schädigungsvorsatzes hier nicht ohne weiteres mit einem gezielten Auffahren auf das Polizeifahrzeug vereinbar, um die eigene Weiterfahrt durch ein Freirammen der Durchfahrt zu erzwingen. Das Landgericht hat die Beschädigung des Polizeifahrzeugs als zwangsläufige Folge einer solchen Kollision angesehen, was bereits mit der hierauf gestützten Annahme eines lediglich bedingten Schädigungsvorsatzes des Angeklagten nicht einhergeht. Damit hat es die naheliegende Möglichkeit nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, dass der Angeklagte sein Fahrzeug bei dem Überholvorgang in erster Linie lediglich als Fluchtmittel zwar grob verkehrswidrig, aber nicht bewusst zweckwidrig in verkehrsfeindlicher Einstellung einsetzte (vgl. ).

8c) Der Schuldspruch im Fall II. 3 (Tat 8) der Urteilsgründe war daher aufzuheben. Der Rechtsfehler zieht die Aufhebung der tateinheitlich ausgeurteilten Delikte nach sich (vgl. Rn. 10).

9Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass der neue Tatrichter - sollte er sich nicht nur von einem Verstoß des Angeklagten gegen § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB, sondern erneut von einem qualifizierten vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr überzeugen - den Strafrahmen nicht wie geschehen § 315 Abs. 3, sondern § 315b Abs. 3 StGB zu entnehmen haben wird.

103. Der Strafausspruch im Fall II. 2 e) (Tat 7) der Urteilsgründe hält der sachlich-rechtlichen Nachprüfung ebenfalls nicht stand.

11Das Landgericht hat bei der Bestimmung des Strafrahmens den Strafmilderungsgrund der Aufklärungshilfe gemäß § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG nicht erörtert. Dies ist rechtsfehlerhaft, weil es sich nach den Ausführungen im angefochtenen Urteil aufdrängt, dass der Angeklagte die Voraussetzungen der Aufklärungshilfe in Bezug auf diese Tat des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) erfüllt hat:

12a) Nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG setzt die fakultative Strafmilderung voraus, dass der Täter durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Straftat nach den §§ 29 bis 30a BtMG, die mit seiner Tat in Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte (vgl. dazu Rn. 4; Urteil vom ‒ 3 StR 429/13 Rn. 6 ff.). Einen solchen Aufklärungserfolg lassen die Urteilsgründe mit Blick auf den Mitangeklagten L.      nicht fernliegend erscheinen. Die Strafkammer hat sich von dessen Tatbeteiligung als Gehilfe im Fall II. 2 e) (Tat 7) der Urteilsgründe maßgeblich auch aufgrund der Angaben des Angeklagten bei seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung überzeugt (UA S. 32 f.). Das Landgericht hätte daher im Rahmen der Strafzumessung bereits bei der Prüfung eines minder schweren Falls im Sinne von § 29a Abs. 2 BtMG erörtern müssen, ob § 31 BtMG als Strafmilderungsgrund hinzutritt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 94/19 Rn. 5 und vom - 2 StR 594/18 Rn. 13).

13b) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer unter Heranziehung von § 31 BtMG in Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens einen milderen Strafrahmen angewendet und ‒ resultierend daraus ‒ eine niedrigere Einzelstrafe für die von ihr abgeurteilte Tat verhängt hätte (vgl. , BGHSt 63, 210; Beschluss vom ‒ 3 StR 21/15 Rn. 4).

14c) Die weiteren Einzelstrafaussprüche in den Fällen II. 2 a) bis d) (Taten 3 bis 6) der Urteilsgründe, in denen der Angeklagte ebenfalls wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist, sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen. Wird dem Angeklagten eine Mehrzahl von Taten vorgeworfen, so sind die Voraussetzungen der Aufklärungshilfe für jede dieser Taten gesondert zu prüfen (vgl. ‒ 3 StR 429/13 Rn. 6). Die Urteilsgründe legen eine wesentliche Aufklärungshilfe im Sinne von § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG allein bei der abgeurteilten Tat des Mitangeklagten L.     im Fall II. 2 e) (Tat 7) der Urteilsgründe nahe, die nur in der einmalig praktizierten Absicherung beim Erwerb der Betäubungsmittel von diesem Lieferanten bestand.

154. Der Wegfall des Schuldspruchs im Fall II. 3 und der Einzelstrafe im Fall II. 2 e) der Urteilsgründe entzieht dem Gesamtstrafausspruch die Grundlage. Die an den aufgehobenen Fall II. 3 der Urteilsgründe (Tat 8) anknüpfende Maßregelanordnung nach §§ 69, 69a StGB kann ebenfalls nicht bestehen bleiben.

165. Soweit der Generalbundesanwalt beantragt hat, das Verfahren im Fall II. 2 e) (Tat 7) der Urteilsgründe nach § 154 Abs. 2 StPO einzustellen, hindert dies den Senat nicht, durch Beschluss zu entscheiden (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 279/15 und vom - 2 StR 243/00).

II. Revision des Angeklagten M.

17Die Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten M.    ergeben.

181. Insbesondere ist auch dessen Verurteilung wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen räuberischer Erpressung rechtsfehlerfrei (Taten 1 und 2).

19Der vom Generalbundesanwalt insoweit beantragten Abänderung des Schuldspruchs in besonders schwere räuberische Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung ist der Senat nicht gefolgt. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen wirkte der Angeklagte zunächst gewaltsam mit einem gefährlichen Werkzeug auf einen Abnehmer von Betäubungsmitteln ein, um ihn (auch) zur Zahlung seiner „Drogenschulden“ zu bewegen. Das Opfer versprach, seinen Vater zur Zahlung des Geldes zu bewegen, was jedoch zunächst nicht gelang. Daraufhin nötigte der Angeklagte diesen durch eine telefonische Drohung mit dem Tode des Sohnes dazu, den geforderten Betrag an den Mitangeklagten Tu.  auszuhändigen, was am nächsten Tag geschah.

20Bei dieser Sachlage scheidet eine (vollendete) besonders schwere räuberische Erpressung gemäß §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB bereits deshalb aus, weil der Angeklagte das gefährliche Werkzeug nicht einsetzte, um den Willen des später Geschädigten zu brechen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 5/20 Rn. 4 und vom - 4 StR 544/13 Rn. 6 mwN). Das Landgericht ist zudem ohne Rechtsfehler von Tatmehrheit ausgegangen. Die Drohung gegenüber dem weiteren Geschädigten fußte den Feststellungen zufolge auf einem neuen Tatentschluss, nachdem es dem ersten Opfer nicht gelungen war, diesen zur Zahlung der Schulden zu bewegen. Deshalb musste das Landgericht auch nicht von einer natürlichen Handlungseinheit ausgehen (vgl. Rn. 15 mwN).

212. Der Senat kann über das Rechtsmittel durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO entscheiden. Insoweit ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine vom Generalbundesanwalt beantragte und - wie hier - mit einem Verwerfungsantrag gemäß § 349 Abs. 2 StPO verknüpfte Schuldspruchänderung, welcher der Senat nicht folgen will, einer Verwerfung des Rechtsmittels durch Beschluss nicht entgegensteht (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 345/19 Rn. 6 und vom - 4 StR 158/19 Rn. 4, jeweils mwN).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:111121B4STR134.21.0

Fundstelle(n):
OAAAJ-44671