NWB Nr. 40 vom Seite 2905

100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland

Professor Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff | Präsident des Bundesfinanzhof

Vom Reichsfinanzhof zum Bundesfinanzhof

Am wurde der Reichsfinanzhof noch von Kaiser Wilhelm II. durch das „Gesetz über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs und über die Reichsaufsicht für Zölle und Steu-ern“ errichtet. Als Sitz dieses Gerichts bestimmte der Bundesrat München. Der Bundesfi-nanzhof steht damit in der Kontinuität dieses ersten eigenständigen obersten Gerichtshofs für Steuer- und Abgabenangelegenheiten. Dies ist Anlass, auf die wechselvolle ein-hundertjährige Geschichte der Steuerrechtsprechung in Deutschland zurückzublicken.

Der Reichsfinanzhof als oberstes Steuergericht

Seine Existenz verdankte der Reichsfinanzhof (RFH) nicht der Eingebung eines Monarchen. Entscheidend war vielmehr der Reichstag, der im Zuge der Beratungen die Verabschiedung des ersten allgemeinen Umsatzsteuergesetzes von der Errichtung eines „reichseigenen obersten Steuergerichtshofs für alle Reichssteuern“ abhängig machte. Grundlage der Errichtung des RFH war damit dessen Aufgabe, den Rechtsschutz der Bürger zu gewährleisten und eine einheitliche Rechtsauslegung im gesamten Reich zu sichern. Dies betont auch der erste Präsident des Reichsfinanzhofs, der Wirkliche Geheime Rat Exzellenz Gustav Jahn in seinen Lebenserinnerungen, wenn er schreibt: „Nicht das Reich oder die Staaten wurden für schutzbedürftig angesehen, um zu den ihnen zukommenden Einnahmen zu gelangen, sondern die Steuerpflichtigen, deren überspannter Inanspruchnahme man einen Riegel vorzuschieben für nötig hielt.“ Grundlage der Tätigkeit der Finanzgerichtsbarkeit ist damit von Anbeginn an der unabhängige gerichtliche Rechtsschutz aller Bürger, dem sich auch heute der Bundesfinanzhof (BFH) verpflichtet fühlt.

Mitglieder des RFH waren am neben dem Chefpräsidenten ein Senatspräsident (Vorsitzender Richter) sowie sieben weitere Richter (damals Reichsfinanzräte). Das erste Urteil verkündete der RFH am . Die Arbeitsbelastung nahm im Zuge der Erzbergerschen Finanzreform mit neuen Reichssteuern rasch zu. Bereits 1920 wurde die Anzahl der Senate auf vier, 1921 auf fünf und 1922 auf sechs erhöht. Seine Tätigkeit in dem bis heute vom BFH genutzten Gerichtsgebäude in der Ismaninger Straße 109 nahm der RFH am auf.

Mit seiner Rechtsprechung hatte der RFH in seinen ersten Jahren Pionierarbeit zu leisten. Die – damals noch – dürren Steuergesetze entwickelte der RFH durch sog. Leitgedanken und Rechtsinstitute weiter. So begründete der RFH die Bilanzbündeltheorie, die Organschaft, die Mitunternehmerschaft und die Übertragung stiller Reserven auf Ersatzwirtschaftsgüter bei höherer Gewalt. Er erarbeitete sich den Ruf eines von der Finanzverwaltung eigenständigen und fachlich exzellenten Rechtsprechungsorgans. Anlässlich seines zehnjährigen Bestehens wurde das Gericht bereits als bedeutende Institution der Weimarer Republik gewürdigt. Pape attestierte dem RFH eine „meisterliche Durchforstung der oft nicht lückenfreien und oft nicht gerade klaren Gesetzgebung auf den dornen- und gestrüppreichen Gefilden des materiellen Steuerrechts“. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise wurde gegen den RFH allerdings auch der Vorwurf der Kassenjustiz erhoben.S. 2906

Der Reichsfinanzhof in nationalsozialistischer Zeit

Gerade in der heutigen Zeit, in der selbst in Staaten der Europäischen Union die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet, Richter gegen ihren Willen entlassen und von staatlicher Seite Druck auf die Justiz ausgeübt wird, besteht Anlass daran zu erinnern, dass auch der RFH Zeiten erlebte, in denen er seiner Aufgabe, unabhängigen Rechtsschutz für jedermann zu gewähren, nicht mehr nachkam und in der seine Richter menschenverachtende und verabscheuungswürdige Entscheidungen trafen.

Das dunkle Kapitel in der Geschichte des RFH begann mit der nationalsozialistischen Machtergreifung. Der zweite Präsident des RFH, der international hoch angesehene Prof. Dr. Herbert Dorn, wurde aufgrund seiner jüdischen Abstammung aus dem Amt gedrängt und emigrierte über die Schweiz und Kuba in die USA. Weitere Richter mussten das Gericht aus dem gleichen Grund verlassen. Zwei von ihnen wurden später in Konzentrationslager deportiert. Rolf Grabower überlebte in Theresienstadt. Franz Oppens wurde in Auschwitz ermordet.

Nach dem unerwarteten Versterben des dritten Gerichtspräsidenten Dr. Richard Kloss, der dieses Amt nicht einmal ein Jahr ausüben konnte, wurde mit Dr. Ludwig Mirre am der vierte Gerichtspräsident ernannt. Mirre hatte kurze Zeit zuvor nach Rücksprache mit dem damaligen Staatssekretär im Reichsfinanzministerium (RFM) die Weisung erteilt, Adolf Hitler im Hinblick auf seine staatsrechtliche Stellung steuerfrei zu belassen. Mirre erhielt später aus dem Reichskanzleramt jährlich Zuwendungen, die der Höhe nach fast seinem Präsidentengehalt entsprachen. Nach dem Kriegsende wurde er verhaftet, zum Senatspräsidenten degradiert und zugleich aus dem Amt entlassen.

In den Jahren ab 1933 bestand die erforderliche Bindung an Gesetz wie auch Recht nur noch eingeschränkt. Nach § 1 Abs. 1 und 3 StAnpG war der Beurteilung gesetzlicher Tatbestände die nationalsozialistische Weltanschauung zugrunde zu legen. Auf dieser Grundlage sah das RFM den RFH als seinen Gehilfen an, der bei den vor 1933 in Kraft getretenen Vorschriften prüfen sollte, ob sie der nationalsozialistischen Weltanschauung entsprachen. War dies nicht der Fall, sollte der gesetzliche Tatbestand entsprechend der nationalsozialistischen Weltanschauung uminterpretiert werden.

Der RFH nahm seine Aufgabe als unabhängiges Organ der Steuerrechtspflege nicht mehr wahr und ordnete sich im Rahmen zahlreicher Verfahrensbeteiligungen des RFM zunehmend dem Willen des Ministeriums unter. Der erste Gerichtspräsident Jahn bemerkte bei Abschluss seiner Lebenserinnerungen im Dezember 1938 hierzu, dass man auf den RFH verzichten könne, solange für ihn nur die Ansichten und Wünsche des RFM maßgebend seien. Beispielhaft erwähnt sei ein „Urteil“ vom , nach dessen Leitsatz § 34 EStG auf Juden nicht anwendbar war. Unter Bezugnahme auf § 1 Abs. 3 StAnpG wurde dies allein damit begründet, dass es der gesunden deutschen Volksanschauung widerspreche, einem Juden den ermäßigten Steuersatz zuzubilligen (Az: IV 47/41). In der bis zum Jahresende im BFH für die Öffentlichkeit zugänglichen Ausstellung zur 100-jährigen Geschichte der Steuerrechtsprechung in Deutschland sind die Hintergründe dieses Falls vom ursprünglichen Entscheidungsvorschlag über die Einflussnahme des RFM bis zur endgültigen Entscheidung dokumentiert.

Neben Entscheidungen zum Nachteil von Steuerpflichtigen jüdischer Abstammung betrifft ein weiterer Schwerpunkt von Unrechtsurteilen die Steuerangelegenheiten von Kirchen, Religionsgemeinschaften und geistlichen Orden.

Mögen auch viele Urteile des RFH aus damaliger Zeit fachlich nicht zu beanstanden sein, ist es zugleich unfassbar und beschämend, wie andere Entscheidungen getroffen und begründet wurden. Bis heute fehlt es an einer wissenschaftlichen Untersuchung der Tätigkeit des RFH in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der BFH befürwortet nachdrücklich, dass dies auf der Grundlage der heute noch in Bundesarchiven vorhandenen Gerichtsakten durch Rechtshistoriker nachgeholt wird. S. 2907

Der Bundesfinanzhof

Nach dem Kriegsende führte zunächst ab Juli 1945 der Oberste Finanzgerichtshof (OFH), der in der amerikanischen Besatzungszone als Rechtsbeschwerdeinstanz tätig war, die Steuerrechtsprechung in dem Gebäude des Reichsfinanzhofs fort. Präsident wurde Dr. Heinrich Schmittmann, der bereits beim RFH Senatspräsident war. Seine Aufgabe ähnelte in gewisser Weise der des ersten Gerichtspräsidenten Jahn. Er musste eine unabhängige Finanzgerichtsbarkeit wieder aufbauen, für Vertrauen in die rechtsprechende Tätigkeit sorgen und sich zusätzlich um die Entnazifizierung kümmern.

Der BFH wurde als erster der insgesamt fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes durch Gesetz vom errichtet. Damals bestanden vier Senate mit 19 Richtern. Erster Gerichtspräsident war – wie zuvor beim OFH – Dr. Heinrich Schmittmann.

Die Anzahl der Senate wuchs mit zunehmender Arbeitsbelastung kontinuierlich. Hinzu kamen der V. Senat (1952), der VI. Senat (1956), der VII. Senat (1958), der VIII. Senat (1971), der IX. Senat (1984), der X. Senat (1987) und schließlich der XI. Senat (1990). Heute sind im BFH insgesamt 59 Richterinnen und Richter tätig. In Fragen der Gleichstellung von Frauen und Männern war der BFH ein Spiegel seiner Zeit. Erste Richterin am BFH wurde 1972 Dr. Gisela Niemeyer, erste Vorsitzende Richterin 1991 Dr. Ruth Hofmann, erste Präsidentin des Gerichts 1999 Dr. Iris Ebeling. Zurzeit besteht die Richterschaft des BFH zu 29 % aus Richterinnen.

Der BFH hat in den letzten fast sieben Jahrzehnten den Anspruch der Steuerpflichtigen auf gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns qualitativ hochwertig erfüllt und gewährleistet heute den rechtsstaatlich unabhängigen, verfassungsrechtlich gebundenen und die Vorgaben des Europarechts berücksichtigenden Steuerrechtsschutz. In zahlreichen Entscheidungen werden grundlegende Fragen des Steuerrechts geklärt und die Statistik zeigt, dass in vielen Fällen die Steuerpflichtigen sich mit ihrer Rechtsauffassung gegenüber der Finanzverwaltung durchsetzen. Entwicklungslinien und Zukunftsfragen werden in einer Festschrift aus Anlass des 100-jährigen Bestehens einer eigenständigen Steuerrechtsprechung in Deutschland gewürdigt, die dem Bundespräsidenten bei einem Festakt am 1. Oktober übergeben wird.

Anders als früher spielt dabei der Rechtsprechungsverbund in Deutschland und Europa eine immer wichtigere Rolle. Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen. Zur Auslegung des Unionsrechts richtet der BFH in langjähriger Tradition Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und ist zum Hauptauftraggeber für den EuGH geworden. Zudem ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu beachten. Im unionsrechtlich harmonisierten Steuerrecht und damit vor allem bei der Umsatzsteuer und den Verbrauchsteuern erfolgt die Grundrechtsprüfung im Schwerpunkt nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Bei deren Auslegung orientiert sich der EuGH an der Rechtsprechung des EGMR zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

Die Zukunft bringt für den BFH und die Verfahrensbeteiligten gewichtige Veränderungen. An erster Stelle ist die bis 2026 umzusetzende Verpflichtung zur elektronischen Führung von Prozessakten zu nennen. Der BFH wird dies voraussichtlich im Jahr 2021 verwirklichen können. Dabei kommt es für den BFH zu baulichen Änderungen. In einem neu zu errichtenden Erweiterungsbau wird Raum für neue Gerichtssäle geschaffen, die den neuen technischen Anforderungen entsprechen.

Der BFH wird auch in der Zukunft die schon dem RFH zugedachten Aufgaben erfüllen und Steuerpflichtigen Rechtsschutz gegen Steuerfestsetzungen gewähren sowie für eine einheitliche Rechtsauslegung sorgen. Solange es Steuern gibt, wird sich hieran auf der Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung wohl auch in den nächsten 100 Jahren nichts ändern.

Rudolf Mellinghoff

Fundstelle(n):
NWB 2018 Seite 2905 - 2907
NWB VAAAG-95356