Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Nichtberücksichtigung eines nach Verzicht auf mündliche Verhandlung eingegangenen Schriftsatzes
Gesetze: FGO § 96 Abs. 2
Gründe
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist Besitzer eines Gutes. Er betreibt den Weinbau und eine Landwirtschaft. Seinen Gewinn ermittelt er nach § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Der Kläger erlöste im Oktober und November 1991 aus dem ”Verkauf von aktiven Zuckerlieferrechten” 238 742 DM. Der Preis betrug 50 DM bzw. 55 DM pro Doppelzentner Lieferrecht. Der Kläger bildete zunächst eine Rücklage nach § 6b EStG in Höhe von 119 371 DM. Im Wirtschaftsjahr 1991/92 übertrug er einen Teil der gebildeten Rücklage (29 700 DM) auf das Wirtschaftsgut ”Dachwohnung X-Straße” im Weingut. Der Rest (89 671 DM) wurde im Wirtschaftsjahr 1994/95 auf das Wirtschaftsgut ”Z” übertragen.
Bei einer Außenprüfung erkannte der Prüfer die Rücklage nicht an, weil Lieferrechte nicht nach § 6b EStG begünstigt seien. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) änderte gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) die Einkommensteuerbescheide 1991 bis 1994 (Streitjahre) entsprechend. Der Einspruch, mit dem der Kläger geltend machte, es seien Anteile an der Zucker AG veräußert worden, blieb erfolglos. Das FA war der Ansicht, die Kaufpreise hätten sich nur auf die Lieferrechte bezogen. Eine Rücklage könne daher nicht gebildet werden (Hinweis auf den , BFH/NV 1994, 172).
Auch die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte in seinem am ergangenen Urteil u.a. aus:
Die Sache sei entscheidungsreif. Beide Beteiligten hätten noch vor dem anberaumten Termin auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, wobei der Kläger angekündigt habe, zur Ermittlung des Buchwerts (vom Grund und Boden abzuspaltender Lieferrechte) bis zum noch gesondert vorzutragen. Da das FG aber einen Vortrag über den ”in der Milchquote enthaltenen Bodenanteil” und dessen Buchwert für unerheblich halte, könne es ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Der Kläger habe eine Rücklage nach § 6b EStG nicht bilden können. Die Aufzählung der Wirtschaftsgüter, für die bei einer Veräußerung eine Rücklage gebildet werden könne, sei abschließend (, BFHE 158, 250, BStBl II 1989, 1016). Der Kläger habe aber trotz Aufforderung nicht nachgewiesen, dass er Anteile an Kapitalgesellschaften veräußert habe. Ausweislich der vorgelegten Verträge habe er bestimmte Mengen aktiver Lieferrechte der Zucker AG verkauft. Das ergebe sich aus dem Zusatz: ”Die genaue Bezeichnung der Aktienpakete des Verkäufers erfolgt durch die A.” Daraus folge nicht, dass die Aktienpakete mit den Zuckerlieferrechten übergegangen seien. Es wäre Sache des Klägers gewesen nachzuweisen, dass die Lieferrechte untrennbar mit den Aktien verbunden seien (Hinweis auf das , BFH/NV 1997, 831).
Die Revision ließ das FG nicht zu.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers mit der Begründung, das FG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es seinen angekündigten und am beim FG eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt habe. Dort habe er dargelegt, dass die Rechtsprechung des BFH zur Milchreferenzmenge auf die Zuckerrübenlieferrechte anzuwenden sei. Er habe den Verzicht auf mündliche Verhandlung nur erklärt, weil er mit dem Vorsitzenden abgesprochen habe, dass das FG den Schriftsatz noch berücksichtigen werde.
Materiell-rechtlich sei die Rechtsprechung des BFH zum Buchwert der Milchreferenzmenge auf das Zuckerrübenlieferrecht zu übertragen. Danach sei auch dem Zuckerrübenlieferrecht ein Anteil des Buchwerts des Grund und Bodens zuzuordnen. Der aufgrund des Vergleichs des Deckungsbeitrags eines Betriebes mit Zuckerrübenanbau mit dem Deckungsbeitrag eines Betriebes ohne Zuckerrübenanbau ermittelte Differenzbetrag stelle den Jahreswert des Lieferrechts dar, der kapitalisiert den Verkehrswert ergebe. Danach ergebe sich ein Deckungsbeitragsverlust von 21 000 DM/Jahr, wenn sein, des Klägers, Betrieb ohne den Zuckerrübenanbau betrieben werde. Da die Zuckerrübenlieferrechte immerwährende Nutzungen ermöglichten, sei der Betrag von 21 000 DM mit dem Faktor 18 zu multiplizieren = 378 000 DM. Verglichen mit dem Verkehrswert des Betriebes von 6,4 Mio. DM (8 DM/qm) seien das 5,9 %. Damit entspreche ein Betrag von 301 903 DM dem Anteil, der von dem Buchwert des Grund und Bodens (5 117 000 DM) auf das Zuckerrübenlieferrecht entfalle.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Es meint, das FG habe in seinem Urteil vom die grundsätzlichen Erwägungen des Klägers zur Kenntnis genommen, aber nicht für entscheidungserheblich gehalten. Auf den nachgereichten Schriftsatz sei es daher nicht mehr angekommen.
Im Übrigen seien die Zuckerrübenlieferrechte bereits durch die EG-Zuckermarktordnung im Jahr 1968 eingeführt worden. Die zum angesetzten Grundstückswerte seien daher nicht mehr zu vermindern.
In seiner Replik meint der Kläger, der vom FA vorgenommenen Unterscheidung zwischen grundsätzlichen Einwendungen und solchen, denen das FG rechtliches Gehör zu schenken habe, sei mangels Rechtsgrundlage nicht zu folgen. Der BFH habe noch nicht entschieden, dass sich die Existenz des Zuckerrübenlieferrechts auf den Pauschalwert des Grund und Bodens nur dann auswirke, wenn es nach dem entstanden sei. Auch sei der Wert des Grund und Bodens unabhängig von der tatsächlichen Produktionsweise festgestellt worden. Deshalb müsse das Zuckerrübenlieferrecht ebenso abgespalten werden wie die Milchreferenzmenge.
Wäre dies anders, hätte die Aktie einen um den Wert des Lieferrechts erhöhten Kurswert.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat macht im Streitfall von der in § 116 Abs. 6 FGO geschaffenen Möglichkeit Gebrauch; er hebt das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Der Kläger hat ausreichend dargelegt, dass das angefochtene Urteil auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruht. Nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ist das Gericht verpflichtet, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt; auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an (, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1993, 51; , BFHE 100, 351, BStBl II 1971, 25; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Tz. 93; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 90 Rz. 19). Im Fall des wirksamen Verzichts auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO tritt an die Stelle des Endes der mündlichen Verhandlung, bis zu dem das FG die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen hat, der Zeitpunkt des Absendens der Urteilsausfertigungen (, BFH/NV 2002, 356). Das FG hat im Streitfall den ausdrücklich angekündigten und am eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Zwar hatten sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, so dass das FG durch Urteil entscheiden konnte (§ 90 FGO). Das angefochtene Urteil ist aber erst am abgesandt worden, so dass das FG die Sache eventuell hätte neu beraten müssen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2002, 356).
Dem steht nicht entgegen, dass das FG in seinem Urteil einen möglichen Vortrag des Klägers über einen in der Milchquote enthaltenen Teil des Buchwerts des Grund und Bodens für unerheblich gehalten hat. Denn die Ausführungen des Klägers im nachgereichten Schriftsatz bezogen sich tatsächlich auf den Buchwert der veräußerten Zuckerrübenlieferrechte, die nach seiner Auffassung wie eine Milchreferenzmenge als vom Buchwert des Grund und Bodens abgespaltenes Recht zu behandeln seien (vgl. dazu auch das Senatsurteil vom IV R 33/98, BFHE 189, 132, BFH/NV 1999, 1550). Die Ausführungen betrafen daher nach dem klägerischen Vortrag die Höhe der vom FA angesetzten Gewinne, und zwar unabhängig davon, ob die veräußerten Zuckerrübenlieferrechte nur durch die Aktien (vgl. § 6b EStG a.F.) an der Zucker AG verkörpert wurden oder ob wegen der denkbaren Abspaltung vom angesetzten Pauschalwert für den Grund und Boden den Aktien auch noch ein Buchwert zuzuordnen ist.
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob die Rechtssache auch grundsätzliche Bedeutung hat. Das erscheint bereits deshalb nicht ausgeschlossen, weil —je nach Satzung der einzelnen Zuckerfabrik— Zuckerrübenlieferrechte sich auch aus den Aktien einer entsprechenden Zucker-AG ergeben können (vgl. Senatsurteil in BFHE 189, 132, BFH/NV 1999, 1550, unter 2.a).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 751
BFH/NV 2003 S. 751 Nr. 6
GAAAA-70414