Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) setzte ihre Einkommensteuer für 1994 auf ... DM fest. Nachdem die Kläger dagegen Einspruch eingelegt hatten, wies sie das FA gemäß § 367 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) auf die Möglichkeit einer Verböserung der Einkommensteuerfestsetzung durch eine Einspruchsentscheidung hin.
Mit Einspruchsentscheidung vom , die an diesem Tage durch Aufgabe zur Post versandt wurde, setzte das FA die Einkommensteuer für 1994 verbösernd auf ... DM fest. Dagegen erhoben die Kläger Klage mit dem Vorbringen, sie hätten den Einspruch bereits am durch Einwurf eines Schreibens in den Hausbriefkasten des FA zurückgenommen.
Das FA beantragte Klageabweisung mit der Begründung, angesichts des Eingangsstempels des FA vom auf dem Rücknahmeschreiben vom wie auch in Anbetracht des Hinweises der Kläger im Schreiben an das FA vom , der Einspruch sei nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung zurückgenommen worden, müsse davon ausgegangen werden, dass die Kläger das Rücknahmeschreiben erst nach Kenntnis der Einspruchsentscheidung gefertigt hätten.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 60 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 122 AO 1977. Entgegen der Auffassung des FG könne der Einspruch nicht mehr wirksam zurückgenommen werden, nachdem die Einspruchsentscheidung dem Steuerpflichtigen bekannt gegeben worden sei, selbst wenn die drei Tage für die Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 AO 1977 noch nicht abgelaufen seien. Nach dem Zweck des § 362 Abs. 1 AO 1977, überflüssige Rechtsbehelfsentscheidungen zu vermeiden bzw. unzulässige Rechtsbehelfe zu unterbinden, komme es für die Bekanntgabe im Sinne der Vorschrift auf den tatsächlichen Zugang bzw. die Kenntnisnahme an.
Das FA beantragt, das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger haben keinen Antrag gestellt und nicht Stellung genommen.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA die Einkommensteuer für das Streitjahr durch Änderungsbescheid vom auf ... DM festgesetzt. Ausweislich der beigefügten Erläuterung ist dieser Steuerbescheid das Ergebnis der Überprüfung aufgrund des § 53 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zur Steuerfreistellung des Existenzminimums von Kindern.
II. 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) der —während des Revisionsverfahrens ergangene— Bescheid vom .
a) Nach § 68 FGO i.d.F. durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom (BGBl I 2000, 1757) führt die Änderung oder Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsakts während eines Klageverfahrens dazu, dass der Änderungs- oder Ersetzungsbescheid —abweichend zur früheren Fassung der Vorschrift auch ohne Antrag des Klägers— zum Gegenstand des Verfahrens wird. Diese Fassung ist nach Art. 6 des 2.FGOÄndG auf den Streitfall anzuwenden, weil der Änderungsbescheid nach dem ergangen ist (vgl. von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 68 Rz. 10).
b) § 68 FGO findet auch auf Änderungsbescheide Anwendung, die —wie im Streitfall— während des Revisionsverfahrens ergehen. Dies galt schon für die alte Fassung des § 68 FGO (§ 123 Satz 2 FGO a.F.: ”§ 68 bleibt unberührt."; vgl. Bundesfinanzhof —BFH—, Urteil vom VIII R 42/97, BFH/NV 1999, 1113). Mit der Streichung des § 123 Satz 2 FGO a.F. durch das 2.FGOÄndG hat der Gesetzgeber an dieser Rechtslage nichts ändern wollen (BTDrucks 14/4061, S. 11) und hat auch tatsächlich nichts geändert. Denn nach § 68 FGO n.F. wird der neue Bescheid kraft Gesetzes zum neuen Verfahrensgegenstand, ohne dass insoweit eine zeitliche Begrenzung —z.B. eine Beschränkung auf das erstinstanzliche Verfahren— vorgesehen ist (vgl. Suhrbier-Hahn, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2001, 467, 469). Damit ist die frühere Regelung in § 123 Satz 2 FGO aufgrund der Neuregelung des § 68 FGO entbehrlich geworden (vgl. Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, 2.FGOÄndG Aktuelles, Tz. 16). Deshalb kann aus dem Wegfall des § 123 Satz 2 FGO a.F. nicht gefolgert werden, dass die Anwendung des § 68 FGO nach In-Kraft-Treten des 2.FGOÄndG im Revisionsverfahren ausgeschlossen sein soll (Ruban in Gräber, a.a.O., § 123 Rz. 3; a.A. Leingang-Ludolph/ Wiese, DStR 2001, 775). Dies folgt auch aus § 127 FGO; danach kann der BFH das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, wenn während des Revisionsverfahrens ein neuer oder geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden ist (vgl. Ruban in Gräber, a.a.O., § 123 Nr. 3 und § 127 Rz. 1).
c) Für die Anwendbarkeit des § 68 FGO macht es des Weiteren keinen Unterschied, ob Revisionskläger der Steuerpflichtige oder —wie im Streitfall— das FA ist (, BFHE 155, 245, BStBl II 1989, 370).
d) Der Änderungsbescheid für 1994 vom ist auch ein Bescheid, mit dem der ”angefochtene Verwaltungsakt” i.S. des § 68 FGO geändert wird.
aa) Angefochten haben die Kläger mit ihrer Klage die Einkommensteuerfestsetzung für 1994, soweit das FA diese —mit der Einspruchsentscheidung— von ... DM auf ... DM verbösert hat. Die angefochtene Verböserung ist eine —geänderte— Steuerfestsetzung für das Streitjahr (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 44 FGO Rz. 16).
bb) Die verbösernde Festsetzung der Einkommensteuer auf ... DM durch die Einspruchsentscheidung ist mit dem Änderungsbescheid vom auf ... DM vermindert worden. Darin liegt eine Änderung i.S. des § 68 FGO. Denn die Begriffe ”Änderung und Ersetzung” in § 68 FGO sind weit auszulegen und schon dann als gegeben anzusehen, wenn die Steuerfestsetzung in dem vorhergehenden Bescheid —wie hier der verbösernden Einspruchsentscheidung— formell geändert oder ersetzt wurde, ohne dass es darauf ankommt, ob materielle Änderungen wie eine Erhöhung oder —wie im Streitfall— eine Herabsetzung der Steuer vorliegen (vgl. Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 68 FGO Rz. 12; von Groll in Gräber, a.a.O., § 68 Rz. 61 ff., m.w.N.). Der Änderungsbescheid tritt in vollem Umfang an die Stelle der früheren Steuerfestsetzung in Gestalt der Einspruchsentscheidung und nimmt deren Regelungsinhalt in sich auf (vgl. , BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231).
cc) Verfahrensrechtliche Folge dieser Änderung der angefochtenen Steuerfestsetzung in der Einspruchsentscheidung durch den Änderungsbescheid vom ist zum einen, dass das angefochtene FG-Urteil aus Verfahrensgründen aufzuheben ist, weil es nur die verbösernde Einspruchsentscheidung betrifft und diese durch den Änderungsbescheid ersetzt wurde (vgl. , BFHE 170, 57, BStBl II 1993, 589). Zum anderen ist nach Maßgabe des § 68 FGO nunmehr im Rahmen dieses Verfahrens die Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids zu prüfen, soweit er die —von den Klägern ausschließlich angegriffene— verbösernde Einkommensteuerfestsetzung durch die Einspruchsentscheidung aufrecht erhalten hat. Nur so wird dem Anliegen der Neuregelung in § 68 FGO Rechnung getragen, aus Gründen der Verfahrenseffizienz und -beschleunigung ein neues außergerichtliches Verfahren und ein neues Klageverfahren gegen den Änderungsbescheid entbehrlich zu machen (vgl. Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 123 FGO Rz. 13).
dd) Diese verfahrensrechtliche Folge ist im Streitfall nicht von einer vorherigen Anpassung des Klagebegehrens bzw. einer Anpassung des vom FA verfolgten Rechtsbehelfsbegehrens abhängig. Denn das Begehren der Kläger, wegen rechtzeitiger Rücknahme des Einspruchs eine Beschränkung der Einkommensteuerfestsetzung auf den vor der Verböserung festgelegten Betrag zu erreichen, ist auch nach Erlass des Änderungsbescheides vom , mit dem die angefochtene Verböserung durch die Einspruchsentscheidung von ... DM auf ... DM vermindert wurde, nicht erfüllt. Entsprechendes gilt für das Rechtsbehelfsbegehren des FA, mit dem ausschließlich geltend gemacht wird, entgegen der Auffassung des FG sei das Klagebegehren der Kläger unbegründet. Geändert hat sich lediglich der Gegenstand des Verfahrens von der verbösernden Steuerfestsetzung in der Einspruchsentscheidung hin zu dem —diese Verböserung fortschreibenden— Änderungsbescheid vom . Diesen müssen die Beteiligten indessen nach der Neuregelung des § 68 FGO nicht ausdrücklich in ihre Anträge aufnehmen, weil er unmittelbar kraft Gesetzes zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Eine Anpassung des Klagebegehrens und damit auch darauf bezogener Änderung der Prozesserklärungen der Beteiligten (vgl. dazu von Groll in Gräber, a.a.O., § 68 Rz. 80) kann deshalb nur dann notwendig werden, wenn der jeweilige Änderungsbescheid zu einer teilweisen Erledigung oder zu einer —weiteren— Verböserung geführt hat oder mit ihm zwar Einwendungen der Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dies aber wegen Saldierung nach § 177 AO 1977 keine Änderung der Steuerfestsetzung zur Folge hat.
2. Die Revision ist unbegründet.
Zwar ist das angefochtene Urteil aus den vorstehend unter 1. d cc dargelegten Gründen aufzuheben. In der Sache selbst hat das FG aber zu Recht die Einspruchsrücknahme durch die Kläger als wirksam und die streitige verbösernde Einkommensteuerfestsetzung deshalb als unzulässig angesehen; sie ist damit auch zu Unrecht der Steuerfestsetzung durch den Änderungsbescheid vom zugrunde gelegt worden.
a) Nach § 362 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann der Einspruch ”bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch” zurückgenommen werden. Als bekannt gegeben gilt die Einspruchsentscheidung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977, § 366 Satz 2 AO 1977 bei einer Übermittlung im Geltungsbereich dieses Gesetzes —wie im Streitfall— am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, es sei denn, der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen.
aa) Geht der Bescheid —oder wie im Streitfall die Einspruchsentscheidung— tatsächlich früher als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post zu, ist diese frühere Bekanntgabe rechtlich unerheblich, weil die Bekanntgabe im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf des dritten Tages fingiert wird (Senatsurteil vom X R 96/98, BFHE 193, 512, BStBl II 2001, 774; ebenso Stelkens/ Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl., § 41 Rz. 64; a.A. Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 362 AO 1977 Rz. 38). Denn mit der Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 wollte der Gesetzgeber —zugunsten wie zuungunsten des Adressaten— generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs so weit wie möglich ausschließen. Die Vorschrift gilt kraft der ausdrücklichen Verweisung in § 366 Satz 2 AO 1977 auch für Einspruchsentscheidungen und hat damit insbesondere für die Prüfung der Klagefrist im finanzgerichtlichen Verfahren eine beachtliche Entlastungsfunktion, die sich sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen auswirken kann.
bb) Die ausdrückliche und uneingeschränkte Bezugnahme in § 366 Satz 2 AO 1977 auf § 122 AO 1977 schließt aus, für verbösernde Einspruchsentscheidungen i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 auf einen tatsächlich —vor Ablauf der drei Tage liegenden— früheren Zeitpunkt der Bekanntgabe abzustellen, selbst wenn der Steuerpflichtige aufgrund eines derart frühen Zugangs der Einspruchsentscheidung die Möglichkeit erhält, die Verböserung bis zum Ablauf des dritten —für die Bekanntgabefiktion maßgeblichen— Tages durch Rücknahme des Einspruchs unwirksam zu machen. Denn der Zweck des § 362 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, überflüssige Rechtsbehelfsentscheidungen zu vermeiden (so schon Reichsfinanzhof, Urteil vom II A 673/30, Steuer und Wirtschaft 1931 II Nr. 275 zu § 237 der Reichsabgabenordnung —RAO— a.F.; , EFG 1977, 195 zu § 243 Abs. 1 RAO), rechtfertigt eine einschränkende Auslegung des § 122 AO 1977 schon deshalb nicht, weil das FA die Möglichkeit einer Einspruchsrücknahme nach Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der drei Tage nach Aufgabe zur Post durch förmliche Zustellung der Einspruchsentscheidung nach § 3 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes ausschließen kann.
b) Nach diesen Grundsätzen haben die Kläger ihren Einspruch gegen die angefochtene Einspruchsentscheidung vom vor deren ”Bekanntgabe” zurückgenommen, weil das Rücknahmeschreiben nach den tatsächlichen und den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG bereits am und damit vor Ablauf des dritten —für die Bekanntgabefiktion nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 maßgeblichen— Tages bei dem FA eingegangen ist.
3. Da der Einkommensteueränderungsbescheid vom nach § 68 FGO Verfahrensgegenstand geworden ist und damit anstelle der zunächst angefochtenen Einspruchsentscheidung der Überprüfung unterliegt, ob die streitige Verböserung der Einkommensteuerfestsetzung rechtmäßig ist, muss er aufgrund der —wegen Rechtswidrigkeit der Verböserung— gebotenen Zurückweisung der Revision in der Weise geändert werden, dass die Einkommensteuer auf ... EUR (= ... DM —verbösernde Festsetzung— ./. ... DM —ursprüngliche Festsetzung— = ... DM) vermindert wird.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 1409 Nr. 11
HAAAA-67895