BFH Urteil v. - X R 34/99

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) verlegte Anfang 1994 seinen Gewerbebetrieb, der das Feilbieten von Textilien und anderen Waren auf Märkten zum Gegenstand hatte, von Nordrhein-Westfalen nach Brandenburg. Ab führte er den Betrieb gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, Frau A, als Gesellschaft bürgerlichen Rechts.

Noch im Februar 1994 ging beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) die steuerliche Anmeldung eines Unternehmens ”A und B” (GbR) ein. Der Beginn der betrieblichen Tätigkeit war mit dem , die Adresse mit X-Straße 55, Z und der Gegenstand des Unternehmens mit Textilverkauf angegeben. In der Anmeldung wurde auch darauf hingewiesen, dass das bestehende Unternehmen ”B” übernommen wurde. Die GbR erhielt eine Steuernummer und wurde im Veranlagungsbezirk 3 geführt.

Am wurde dem FA eine Durchschrift der Gewerbeummeldung des Klägers gegenüber der Stadtverwaltung Z vom übermittelt. Darin zeigte er die Verlegung seiner Betriebsstätte nach Z, X-Straße 55 an. Auf dieser Durchschrift findet sich der undatierte handschriftliche Vermerk: ”ist als GbR gelaufen”. Der Kläger erhielt eine Steuernummer und wurde im Veranlagungsbezirk 5 geführt.

Aus einem der Einkommensteuerakte vorgehefteten Änderungsnachweis, der vom datiert und die steuerlichen Grunddaten des Klägers enthält, geht u.a. hervor, dass der Kläger ab vierteljährlich und ab monatlich Umsatzsteuervoranmeldungen abzugeben hatte. Ab erfolgte keine Umsatzsteuerüberwachung mehr. Auf dem Änderungsnachweis findet sich der undatierte und nicht unterschriebene handschriftliche Vermerk ”gelöscht”.

Der Kläger gab nur für den Monat Januar des Streitjahres eine Umsatzsteuervoranmeldung ab (Umsatz: 2 779 DM; Vorsteuern: 554 DM). Für die Folgemonate wurden die Umsätze nicht geschätzt.

Im Sommer 1995 führte das FA eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei der GbR durch. Im Bericht vom wird ausgeführt, dass die GbR vom bis mit Textilien auf Märkten gehandelt und —unter Angabe der zutreffenden Steuernummer— bei der Einbringung des Einzelunternehmens des Klägers in die GbR Verbindlichkeiten aus Warenlieferungen übernommen habe.

Im Juli 1996 ging die Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1993 beim FA ein (Umsatz: 188 750 DM; Vorsteuern: 26 802 DM). Für das Streitjahr 1994 gab der Kläger zunächst keine Erklärungen ab. Im August 1996 leitete das FA gegen ihn ein Strafverfahren wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen und des damit verbundenen Verdachts der Steuerverkürzung ein. In seiner Vernehmung am wies der Kläger darauf hin, dass nach Auskunft seiner Beraterin die Umsatzsteuererklärungen für 1993 und 1994 dem FA vorlägen. Er habe zum mit seiner Lebensgefährtin eine GbR gegründet, die bis zum mit Textilien gehandelt habe. Möglicherweise habe er die beiden Steuernummern ”durcheinandergebracht”. Am Tag nach der Vernehmung ging beim FA eine Einnahme-Überschuss-Rechnung für das Jahr 1993 ein. Die Betriebseinnahmen stimmen mit den Angaben in der Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1993 überein.

Noch im Oktober 1996 schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen des Einzelunternehmens des Klägers für das Streitjahr —ausweislich eines handschriftlichen Vermerks— in Absprache mit der Beamtin, die die Vernehmung des Klägers am im Steuerstrafverfahren durchgeführt hatte. Der Umsatz des Streitjahres wurde im Bescheid vom in Anlehnung an den Umsatz des Vorjahres (188 750 DM zuzügl. 10 v.H.) auf 210 000 DM geschätzt. Unter Berücksichtigung der abziehbaren geschätzten Vorsteuer- und Kürzungsbeträge (20 000 DM) ergab sich eine Umsatzsteuer in Höhe von 11 500 DM. Dabei wurden in der Spalte ”Voranmeldungssoll 1994” die Umsätze des Streitjahres —entsprechend der Voranmeldung für den Monat Januar 1994— mit 2 779 DM und die Vorsteuern mit 554 DM angegeben.

Mit Schreiben vom , beim FA eingegangen am , legte der Kläger Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 1994 ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er u.a. aus, er habe bereits im Jahr 1994 mehrmals dem FA mitgeteilt, dass sein Einzelunternehmen nicht mehr bestehe, sondern ab in die GbR eingebracht worden sei.

Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, da er erst nach Ablauf der Einspruchsfrist eingelegt worden sei und Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorlägen.

Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen erhobenen Klage statt. Der Umsatzsteuerbescheid vom sei nichtig. Für die Frage der Nichtigkeit eines Bescheids könne es nicht darauf ankommen, ob sich bei groben Schätzungsfehlern ein bewusstes Fehlverhalten des Sachbearbeiters feststellen lasse. Äußerlich sei eine bewusste Strafschätzung in der Regel nicht von einer nur auf Nachlässigkeit beruhenden weit überzogenen Schätzung zu unterscheiden. Im Streitfall sei den Steuerbescheiden für das Jahr 1994 ein Lebenssachverhalt zugrunde gelegt worden, der dem sich aufdrängenden und dem Inhalt der Steuerakten zu entnehmenden tatsächlichen Lebenssachverhalt entgegenstehe. Dies verletze die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in so erheblichem Maße, dass von einem besonders schweren Fehler auszugehen sei, der die Nichtigkeit der Steuerbescheide zur Folge habe. Das Urteil des FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 590.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 125 der Abgabenordnung (AO 1977). Es beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet. Zu Recht hat das FG erkannt, dass der Umsatzsteuerbescheid gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 nichtig ist, und der Klage gegen den Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr stattgegeben.

1. Nach § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt —und damit auch ein Steuerbescheid— nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schwerwiegenden Fehler nur angenommen, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss anhand der jeweiligen für das Verhalten der Behörde maßgebenden Rechtsvorschriften beurteilt werden (, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381, m.w.N.).

2. Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, zu der die Finanzbehörden insbesondere bei Verletzung von Mitwirkungspflichten berechtigt und verpflichtet sind, verlangt die Berücksichtigung aller für die anzuwendende Steuerrechtsnorm einschlägigen Umstände. Die Vorschriften über die Schätzung erlauben es, Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung zu treffen, als dies in der Regel (nach § 88 AO 1977) geboten ist (sog. Reduzierung des Beweismaßes; vgl. , BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462; vom X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128). Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewissheit (”Überzeugung”) reduziert sich in der Weise, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf. Dies bedeutet, dass sich das Gericht hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen kann. Stets ist freilich vorauszusetzen, dass die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder nicht berechnet werden können (§ 162 Abs. 1 AO 1977). Andererseits ist das gewonnene Schätzungsergebnis nur dann schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig (vgl. , BFH/NV 2001, 1217, m.w.N. der Rechtsprechung), wenn feststehende Tatsachen berücksichtigt werden.

3. Eine Schätzung erscheint nicht schon deswegen als rechtswidrig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Schätzung erweist sich vielmehr erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt. Wird die Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige —wie im Streitfall— seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das FA an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 162 AO 1977 Rz. 79). Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits ihre Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Etwas anderes ist nach dieser Rechtsprechung, der der Senat folgt, zu erwägen, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO 1977 an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 abgeben (vgl. Tipke/ Kruse, a.a.O., Rz. 80; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 162 AO 1977 Rz. 42; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl. 2000, § 162 Rz. 50).

4. Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein ”objektiv willkürlicher” Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das FA grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, ”die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten” (BFH in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381); ”Strafschätzungen” eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden.

5. Im Streitfall sind dem FA grobe und auch i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 offenkundige Schätzungsfehler unterlaufen. Obwohl das Einzelunternehmen des Klägers unstreitig nur im Januar 1994 Umsätze erzielt hat, schätzte das FA die Umsätze für das gesamte Streitjahr. Dieser Schätzungsfehler beruht nach den vorstehenden Grundsätzen auch auf einem objektiv willkürlichen —seinerseits i.S. von § 125 AO 1977 offenkundig fehlerhaften— Verhalten des FA. Angesichts der den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG war dem für die GbR zuständigen Veranlagungsbezirk bekannt, dass der Kläger sein Einzelunternehmen ab Februar 1994 nicht mehr fortführte, denn er und seine Mitgesellschafterin gaben bei der steuerlichen Anmeldung der GbR ausdrücklich an, dass das Einzelunternehmen durch die GbR übernommen worden sei. Zudem wurde dieser Sachverhalt in dem Prüfungsbericht der Umsatzsteuersonderprüfung ausdrücklich festgehalten. Auch ergibt sich aus den Steuerakten des Klägers, dass diese Informationen an den für die Besteuerung des Klägers zuständigen Veranlagungsbezirk weitergegeben wurden. Aus den steuerlichen Grunddaten geht hervor, dass der Kläger ab 1. Februar des Streitjahres keine Umsatzsteuer-Voranmeldungen mehr abzugeben hatte und keine Umsatzsteuerüberwachung mehr erfolgte. Da der Kläger ab Januar 1994 anstelle der vierteljährlichen monatliche Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgeben musste, konnte daraus nur der Schluss gezogen werden, dass der Kläger seine Tätigkeit als Einzelunternehmer mit Wirkung zum eingestellt hatte. Darüber hinaus gab der Kläger im Streitjahr auch tatsächlich nur für den Monat Januar eine Umsatzsteuer-Voranmeldung ab und das FA schätzte die Besteuerungsgrundlagen dennoch nicht. Zugleich ergab sich aus der Mitteilung des für die GbR zuständigen Veranlagungsbezirks über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, dass der Kläger ab Februar 1994 an einer GbR beteiligt war, die Einkünfte aus Gewerbebetrieb (und damit entsprechende Umsätze) erzielte und deren Sitz mit der Wohnanschrift des Klägers identisch war. Schließlich erfolgte die Schätzung in Abstimmung mit der Bearbeiterin der Bußgeld- und Strafsachenstelle, der gegenüber der Kläger bei seiner Vernehmung erklärte, dass nach Auskunft seiner Beraterin die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr vorliege, er zusammen mit seiner Lebensgefährtin zum eine GbR gegründet und er möglicherweise die Steuernummern ”durcheinandergebracht” habe.

Fundstelle(n):
EAAAA-67883