EuGH Urteil v. - C-236/97

Abgabe auf die Übertragung von Aktien unabhängig davon, ob die ausgebende Gesellschaft zum Börsenverkehr zugelassen ist und ob die Aktienübertragung über die Börse oder direkt zwischen dem Veräußerer und dem Erwerber erfolgt

Leitsatz

[1] Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335 des Rates betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital ist dahin auszulegen, daß er die Erhebung einer Abgabe auf die Übertragung von Aktien unabhängig davon zulässt, ob die Gesellschaft, die diese Aktien ausgegeben hat, zum Börsenverkehr zugelassen ist und ob die Aktienübertragung über die Börse oder direkt zwischen dem Veräusserer und dem Erwerber erfolgt ist.

Gesetze: Richtlinie 69/335 Art. 12 Abs. 1 Buchst. a

Gründe

1 Das Östre Landsret hat mit Beschluß vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25; nachstehend: die Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Skatteministeriet und der Aktieselskabet Forsikringsselskabet Codan über die Zahlung einer Abgabe auf die Übertragung von Aktien.

3 Durch die Richtlinie sollen insbesondere die Faktoren, die die Festsetzung und die Erhebung der Steuer auf die Ansammlung von Kapital in der Gemeinschaft beeinflussen, im Rahmen der Beseitigung der steuerlichen Hindernisse, die dem freien Kapitalverkehr entgegenstehen, harmonisiert werden (vgl. insbesondere Urteil vom in der Rechtssache C-347/96, Solred, Slg. 1988, I-937, Randnr. 3).

4 Artikel 4 der Richtlinie führt die Vorgänge auf, die der Gesellschaftsteuer unterliegen, sowie diejenigen, auf die die Mitgliedstaaten Gesellschaftsteuer erheben können.

5 Nach Artikel 10 der Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten abgesehen von der Gesellschaftsteuer keinerlei andere Steuern oder Abgaben auf bestimmte in diesem Artikel aufgeführte Vorgänge, insbesondere die in Artikel 4 genannten Vorgänge, erheben. Artikel 11 der Richtlinie verbietet die Besteuerung bestimmter anderer Vorgänge.

6 Nach Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie können die Mitgliedstaaten in Abweichung von den Artikeln 10 und 11 "pauschal oder nicht pauschal erhobene Börsenumsatzsteuern" erheben.

7 Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie hat nicht in allen Sprachfassungen denselben Inhalt. Die dänische und die deutsche Fassung enthalten den Begriff "Börsenumsatzsteuern" statt "Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren".

8 § 1 Absatz 1 des dänischen Gesetzes Nr. 228 vom über die Abgabe auf die Übertragung von Aktien bestimmt:

"Beim Verkauf oder Umtausch von dänischen oder ausländischen Aktien, übertragbaren Anteilscheinen, Investmentzertifikaten und vergleichbaren Wertpapieren ist an den Staat eine Abgabe nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu zahlen."

9 Nach § 2 des Gesetzes Nr. 228 tritt die Abgabepflicht beim Abschluß des Vertrages über die Aktienübertragung ein. § 4 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 228 sieht eine Befreiung von der Abgabepflicht u. a. vor für die erste Übertragung durch den Emittenten auf den ersten Erwerber, für den Umtausch der Aktien beim Emittenten in neue Aktien von gleicher Art und mit gleichem Wert sowie für die im Rahmen einer Verschmelzung erfolgende Übertragung von Aktien von der ihre Tätigkeit einstellenden Gesellschaft auf die diese fortsetzende oder neue Gesellschaft.

10 Gemäß § 3 des Gesetzes Nr. 228 belief sich die Abgabe zum Zeitpunkt der hier streitigen Übertragung auf 1 % des gesamten Kurswertes der übertragenen Wertpapiere. Anläßlich einer späteren Gesetzesänderung wurde die Abgabe auf 0,5 % gesenkt.

11 Nach § 5 des Gesetzes Nr. 228 hat der Veräusserer die Abgabe zu entrichten, es sei denn, daß er seinen Sitz im Ausland hat; in diesem Fall ist die Abgabe vom Erwerber zu zahlen.

12 § 4 des Gesetzes Nr. 228 wurde später dahin geändert, daß die Abgabe nicht zu zahlen ist, wenn ein in Dänemark wohnender Käufer Aktien von einer Person mit Wohnsitz im Ausland erwirbt.

13 Im Juni 1990 schloß Codan mit drei britischen Gesellschaften - Sun Insurance Office Ltd, The London Assurance und Alliance Assurance Co. Ltd - , den Alleinaktionären der dänischen Fjerde Sö A/S, einen Vertrag über die vollständige Übertragung des Aktienkapitals dieser Gesellschaft. Fjerde Sö war nicht an der Börse notiert. Der Wert der übertragenen Aktien belief sich auf 850 004 134 DKK.

14 Nachdem die britischen Gesellschaften die Aktien von Fjerde Sö an Codan übertragen hatten, beschloß diese am auf einer ausserordentlichen Hauptversammlung die Erhöhung ihres Aktienkapitals um einen Betrag, der dem Wert der übernommenen Aktien entsprach. Sämtliche aus dieser Erhöhung stammenden Aktien wurden den britischen Gesellschaften zur Bezahlung des Aktienkapitals von Fjerde Sö übertragen.

15 Aufgrund der von Codan vorgenommenen Erhöhung des Aktienkapitals zahlte diese am nach dem Gesetz Nr. 284 vom 23. März 1973 über die Gesellschaftsteuer, durch das die Richtlinie in Dänemark durchgeführt wurde, Gesellschaftsteuer. Der gezahlte Betrag belief sich auf 1 % des Gesamtwertes der Einlage, d. h. auf 8 500 041 DKR.

16 Die dänische Finanzverwaltung verlangte jedoch auch die Zahlung der 1%igen Abgabe auf die Übertragung von Aktien nach dem Gesetz Nr. 228. Da Codan es ablehnte, diese Abgabe zu zahlen, erhob das Steuerministerium gegen sie beim Östre Landsret Klage auf Zahlung des dieser Abgabe entsprechenden Betrages von 8 500 041 DKR zuzueglich Zinsen.

17 Nach Auffassung des Östre Landsret hängt die Entscheidung über den Rechtsstreit von der Auslegung der Richtlinie ab; es hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital dahin auszulegen, daß er die Erhebung einer Abgabe auf die Übertragung von Aktien unabhängig davon zulässt, ob die Gesellschaft, die diese Aktien ausgegeben hat, zum Börsenverkehr zugelassen ist und ob die Aktienübertragung über die Börse oder direkt zwischen dem Veräusserer und dem Erwerber erfolgt ist?

18 Vorab ist festzustellen, daß die Parteien des Ausgangsverfahrens übereinstimmend davon ausgehen, daß es sich hier um einen Vorgang handelt, der unter die Richtlinie fällt, soweit es um die Erhöhung des Aktienkapitals von Codan durch Einlage der Aktien von Ferde Sö geht.

19 Auf dieser Grundlage trägt Codan vor, der Vorgang dürfe nicht zweimal besteuert werden, da die in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie vorgesehene Ausnahme die Erhebung einer Steuer auf die Übertragung von Aktien lediglich im Falle von Börsenumsätzen erlaube.

20 Das Steuerministerium, die französische, die österreichische und die finnische Regierung sowie die Kommission tragen dagegen vor, die Vorschrift, um die es im Ausgangsverfahren gehe, dürfe nicht dahin ausgelegt werden, daß sie lediglich für Börsenumsätze gelte.

21 Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie enthält eine abschließende Liste der anderen Steuern oder Abgaben, die keine Gesellschaftsteuer sind und die in Abweichung von den Artikeln 10 und 11 von Kapitalgesellschaften im Zusammenhang mit den in diesen Artikeln genannten Vorgängen erhoben werden können (Urteil vom in der Rechtssache C-188/95, Fantask u. a., Slg. 1997, I-6783, Randnr. 18).

22 Die dänische Fassung der in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmebestimmung nimmt Bezug auf "pauschal oder nicht pauschal erhobene Börsenumsatzsteuern".

23 Zwar verwendet auch die deutsche Fassung den Begriff "Börsenumsatzsteuern", doch findet sich in den meisten anderen Sprachfassungen der Richtlinie, d. h. der griechischen, der spanischen, der französischen, der italienischen, der niederländischen, der portugiesischen und der englischen Fassung, der Begriff "Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren".

24 Nach Auffassung von Codan ist die dänische Fassung der Richtlinie so konkret formuliert, daß sie Rechte für einzelne und für Gesellschaften begründet. Die juristischen Personen, die ihren Sitz in Dänemark hätten, müssten sich daher auf die dänische Fassung der Richtlinie berufen können. Im übrigen müsse eine Ausnahmevorschrift, die es den Mitgliedstaaten erlaube, eine besondere Steuer zu erheben, wie dies Artikel 12 der Richtlinie tü, im Interesse des guten Funktionierens des Gemeinsamen Marktes im Zweifel eng ausgelegt werden. Schließlich mache es der Unterschied zwischen den verschiedenen Sprachfassungen unmöglich, zu einer gemeinsamen Auslegung des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie zu gelangen.

25 Zunächst ist festzustellen, daß die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift einen Vergleich ihrer sprachlichen Fassungen erfordert (Urteil vom in der Rechtssache 283/81, Cilfit u. a., Slg. 1982, 3415, Randnr. 18).

26 Ferner verlangt das Erfordernis einer einheitlichen Auslegung der Sprachfassungen, falls diese voneinander abweichen, daß die fragliche Bestimmung anhand der allgemeinen Systematik und des Zweckes der Regelung ausgelegt wird, zu der sie gehört (Urteile vom in der Rechtssache C-449/93, Rockfon, Slg. 1995, I-4291, Randnr. 28, und vom in der Rechtssache C-72/95, Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Randnr. 28).

27 Was schließlich den Zweck der Richtlinie angeht, will diese, wie aus ihrer Präambel hervorgeht, den freien Kapitalverkehr fördern, der als wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer Wirtschaftsunion mit ähnlichen Eigenschaften wie ein Binnenmarkt angesehen wird. Die Verfolgung dieses Zieles setzt hinsichtlich der Steuern auf die Ansammlung von Kapital voraus, daß die in den Mitgliedstaaten bisher geltenden indirekten Steuern aufgehoben und durch eine innerhalb des Gemeinsamen Marktes nur einmal und in allen Mitgliedstaaten in gleicher Höhe erhobene Steuer ersetzt werden (Urteil vom in der Rechtssache C-2/94, Denkavit Internationaal u. a., Slg. 1996, I-2827, Randnr. 23, und Urteil Fantask u. a., Randnr. 13).

28 Somit ergibt sich sowohl aus einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts als auch aus dem Zweck der Richtlinie, daß deren Vorschriften einheitlich ausgelegt werden müssen.

29 Die Ausserachtlassung der eindeutigen Formulierung der grossen Mehrzahl der Sprachfassungen des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie und die damit einhergehende Unterscheidung zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Gesellschaften liefen nämlich nicht nur dem Erfordernis einer einheitlichen Auslegung der Richtlinie zuwider, sondern könnten zu Wettbewerbsverzerrungen führen und manche Gesellschaften davon abhalten, sich an der Börse notieren zu lassen.

30 Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie kann daher nicht dahin ausgelegt werden, daß er es den Mitgliedstaaten lediglich erlaubt, auf Börsenumsätze Steuern zu erheben.

31 Aufgrund all dessen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er die Erhebung einer Abgabe auf die Übertragung von Aktien unabhängig davon zulässt, ob die Gesellschaft, die diese Aktien ausgegeben hat, zum Börsenverkehr zugelassen ist und ob die Aktienübertragung über die Börse oder direkt zwischen dem Veräusserer und dem Erwerber erfolgt ist.

Kostenentscheidung:

Kosten

32 Die Auslagen der französischen, der österreichischen und der finnischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
VAAAB-72668

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg