Leitsatz
[1] Zur Frage des Mitverschuldens eines Bauherrn, der im Vertrauen auf eine rechtswidrige Baugenehmigung das Bauvorhaben trotz eines Nachbarwiderspruchs in Angriff nimmt (Fortführung der in den Senatsurteilen BGHZ 149, 50 und vom [III ZR 414/02, NVwZ 2004, 638] aufgestellten Grundsätze).
Gesetze: BGB § 839 Fe; BGB § 254 F
Instanzenzug: LG Leipzig, 15 O 3117/04 vom OLG Dresden, 6 U 1112/05 vom
Tatbestand
Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks in der ländlichen Gemeinde B. , Ortsteil P. . Sie beabsichtigte, dieses Grundstück mit einem Mehrfamilienhaus zu bebauen, und stellte beim Bauamt des beklagten Landkreises einen Baugenehmigungsantrag.
Bereits während des Genehmigungsverfahrens erhob der Eigentümer des Nachbargrundstücks Einwände, weil er eine Beeinträchtigung seines landwirtschaftlichen Betriebes, insbesondere durch zu erwartende Immissionsschutzauflagen, befürchtete. Der Beklagte holte daraufhin Stellungnahmen der zuständigen Fachabteilung für Umweltschutz, Sachgebiet Immissionsschutz, und des Staatlichen Amtes für Landwirtschaft und Gartenbau ein. Mit Bescheid vom erteilte er der Klägerin die Baugenehmigung. Am erteilte er der Klägerin die Baufreigabe für die Durchführung der Erdarbeiten und am für die Tiefbauarbeiten. Die Klägerin nahm diese Arbeiten daraufhin in Angriff.
Mit Schreiben vom hatte der Nachbar gegen die Baugenehmigung Widerspruch eingelegt. Am folgte ein Antrag beim Verwaltungsgericht auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung dieses Rechtsbehelfs. Am erlangte die Klägerin von dem Widerspruch Kenntnis. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom wurde die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Unter dem verfügte der Beklagte die Baueinstellung, der die Klägerin unverzüglich nachkam. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wurde durch Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom zurückgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht stellte zusätzlich zu den bereits vom Verwaltungsgericht bejahten Immissionsproblemen noch darauf ab, dass das Vorhaben an einer Stelle, nämlich mit einem geplanten Erker, den Grenzabstand nicht einhalte.
Die Klägerin änderte die Tekturplanung dahin ab, dass dieser Erker wegfiel. Auf einen weiteren Antrag der Klägerin genehmigte der Beklagte die geänderte Planung mit Bescheid vom . Der hiergegen gerichtete Widerspruch des Nachbarn blieb erfolglos. Auf dessen Klage hob das Verwaltungsgericht die Ursprungsbaugenehmigung vom in der Fassung der Änderungsgenehmigung vom und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom auf. Die von der Klägerin gegen dieses Urteil beantragte Zulassung der Berufung wurde vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht abgelehnt.
Die Klägerin verlangt nunmehr von dem Beklagten wegen der Erteilung der rechtswidrigen Baugenehmigung Schadensersatz aus Amtspflichtverletzung in Höhe ihrer fehlgeschlagenen Aufwendungen. Ihren Zahlungsanspruch hat sie zuletzt auf 353.129,12 € nebst Zinsen beziffert und außerdem die Feststellung begehrt, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihr sämtliche weiteren Schäden aus der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung zu ersetzen.
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom Senat gegen das Berufungsurteil zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Gründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Beide Vorinstanzen gehen zu Recht davon aus, dass die Erteilung der Baugenehmigung vom - auch in der Fassung der Änderung vom - rechtswidrig gewesen ist und eine schuldhafte Amtspflichtverletzung der zuständigen Amtsträger des Beklagten gegenüber der Klägerin dargestellt hat.
2. Die Vorinstanzen haben sodann - der Rechtsprechung des Senats folgend - die insbesondere im Urteil BGHZ 149, 50, 53 ff getroffene Unterscheidung zwischen objektiver Reichweite des Vertrauensschutzes einerseits und einer Anspruchsminderung unter dem Gesichtspunkt des mitwirkenden Verschuldens andererseits beachtet. Feststellungen in dem Sinne, dass es hier bereits an einer jeglichen Ersatzanspruch von vornherein ausschließenden "Verlässlichkeitsgrundlage" gefehlt habe, sind nicht getroffen worden. Sie liegen auch fern.
3. Dementsprechend konzentriert sich der rechtliche Schwerpunkt des Falles auf die Frage, ob hier ein Mitverschulden der Klägerin vorliegt, welches so schwer wiegt, dass dahinter die Verantwortung der Bauaufsichtsbehörde völlig zurücktritt. Insbesondere das Berufungsgericht hat dies bejaht. Darin vermag der Senat ihm nicht zu folgen.
a) Der Senat hat im Urteil vom (BGHZ 149, 51, 55 f) Folgendes ausgeführt: Wenn und soweit eine Genehmigung geeignet ist, schutzwürdiges Vertrauen des Adressaten in ihren Bestand zu begründen, so kommt diese Vertrauensgrundlage im Falle der Anfechtung eines Bescheids durch Dritte jedenfalls dann nicht ohne weiteres völlig in Wegfall (vorbehaltlich einer Risikoüberwälzung auf den Genehmigungsinhaber nach § 254 BGB), wenn und solange der Verwaltungsakt sofort vollziehbar ist. Aus § 50 VwVfG, der in den Fällen, in denen bereits ein Rechtsbehelfsverfahren anhängig ist, den Widerruf oder die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts erleichtert, kann nicht der generelle Schluss gezogen werden, dass mit der Anfechtung das in den Bestand des Verwaltungsakts gesetzte Vertrauen nunmehr auch haftungsrechtlich in vollem Umfang seine Schutzwürdigkeit verliert und daher nachfolgende Investitionen sich von vornherein nicht mehr im Schutzbereich der Amtspflicht halten. Allerdings wird ab dem Vorliegen von Drittanfechtungen grundsätzlich eine größere Eigenverantwortung des Bauherrn unter dem Gesichtspunkt des § 254 BGB anzunehmen sein. Ist zulässigerweise Widerspruch eingelegt oder Klage erhoben, verbunden mit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, so hat der Bauherr die Möglichkeit der Rechtswidrigkeit der ihm erteilten Genehmigung jedenfalls dann ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Setzt er in einer solchen Situation sein Vorhaben entsprechend der Genehmigung fort, ohne die Entscheidung des Gerichts der Hauptsache über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwarten, so nimmt er das in der Drittanfechtung liegende Risiko bewusst auf sich.
b) Diese Grundsätze der Senatsrechtsprechung werden von beiden Parteien von jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkten und mit entgegengesetzter Zielrichtung angegriffen:
aa) Die Klägerin macht, gestützt auf einen Aufsatz von Gallois (BauR 2002, 884, 885), geltend, dass der Bauherr, ob (als Bauträger) fachkundig oder nicht, anwaltlich beraten oder nicht, kaum je erkennen könne, ob solche Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sei. Richtigerweise sei daher davon auszugehen, dass das Risiko einer Drittanfechtung nur in Ausnahmefällen dem Bauherrn zuzuweisen sei, nämlich nur, wenn die Frage, ob der Nachbarwiderspruch überzeugend begründet sei, eindeutig beantwortet werden könne, sich die Richtigkeit der Anfechtungsgründe also jedermann in der gleichen Situation geradezu aufdrängen müsse, etwa nach dem Muster der in § 48 Abs. 2 VwVfG genannten Fälle.
bb) Der Beklagte hält dem entgegen, dass die Schutzwürdigkeit des Vertrauens vielmehr auch im Amtshaftungsprozess am Maßstab des § 50 VwVfG zu messen sei. Danach sei bei Verwaltungsakten mit Doppel- bzw. Drittwirkung der Vertrauensschutz für die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens suspendiert.
cc) Diese Angriffe geben dem Senat zu einer Änderung seiner Rechtsprechung keinen Anlass. Die Abgrenzungsformel des Senats ermöglicht vielmehr eine sachgerechte Haftungszurechnung einerseits an die für den Erlass der rechtswidrigen Genehmigung verantwortliche Behörde, andererseits an den seine eigenen Interessen missachtenden Genehmigungsempfänger. In diesem Sinne hat der Senat in seinem Urteil vom (III ZR 414/02 = NVwZ 2004, 638, 639) die Mitverschuldensquote von 25 %, die sich die dortigen Kläger selbst hatten anlasten lassen und die vom dortigen Berufungsgericht gebilligt worden war, auch revisionsrechtlich nicht beanstandet.
4. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht im konkreten Fall einen Totalverlust des Ersatzanspruchs bejaht, hält jedoch der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
a) Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass - anders als das Landgericht gemeint hat - die Klägerin erst am Kenntnis vom Widerspruch des Nachbarn erlangt hat. Damit ist der Argumentation des landgerichtlichen Urteils, das von einer Kenntnis noch vor Baufreigabe der Erdarbeiten am ausgegangen ist, teilweise der Boden entzogen.
b) Für die Zeit zwischen der Erteilung der Baugenehmigung und der Kenntniserlangung vom Widerspruch, d.h. den Zeitraum vom 1. bis zum , sieht der Senat für ein Mitverschulden der Klägerin keinen Ansatzpunkt. Hiermit in Übereinstimmung hatte das Berufungsgericht ursprünglich der Klägerin mit Verfügung vom aufgegeben, die Ausgaben für jene Arbeiten abzugrenzen, die nach Bekanntwerden des Widerspruchs ausgelöst worden sind. Dieser Auflage war die Klägerin mit Schriftsatz vom nachgekommen. Das Berufungsgericht hatte sodann durch Beschluss vom eine Beweiserhebung über den Sachvortrag der Klägerin, betreffend die vor dem Stichzeitpunkt entstandenen Aufwendungen, angeordnet. Diesen Beweisbeschluss hat es in der mündlichen Verhandlung vom nur unvollkommen ausgeführt. Im Urteil sind zu dieser zeitlichen Abgrenzung überhaupt keine Feststellungen getroffen worden.
c) Darüber hinaus hält der Senat auch die Auffassung des Berufungsgerichts, die nach dem Stichzeitpunkt entstandenen Schäden seien in vollem Umfang der Klägerin anzulasten, nicht für vertretbar. Aus der vorstehend zitierten Abgrenzungsformel des Senats kann keineswegs schematisch der Rückschluss gezogen werden, dass Aufwendungen, die in Kenntnis eines Nachbarwiderspruchs oder sonstigen Rechtsbehelfs getätigt werden, stets dem durch die Baugenehmigung begünstigten Bauherrn selbst zur Last fallen und die Bauaufsichtsbehörde von jeglicher eigener Verantwortlichkeit für die rechts- und amtspflichtwidrige Erteilung befreit wird. Zumindest ist dem Bauherrn gegen den Mitverschuldenseinwand die Replik zuzubilligen, er habe seinerseits bei Prüfung des nachbarlichen Rechtsbehelfs diesem keine Erfolgsaussicht beimessen dürfen. In diesem Zusammenhang macht die Klägerin mit der Revision - wie schon in den Vorinstanzen - zu Recht geltend, dass die Einwände des Nachbarn bereits im Zuge des Baugenehmigungsverfahrens offen gelegt, von der Bauaufsichtsbehörde eingehend geprüft und nicht für durchgreifend erachtet worden waren. Trotz der Einlegung des Widerspruchs kann sich der Bauherr daher auf den allgemeinen Grundsatz berufen, dass er nicht klüger zu sein braucht als die mit der Bearbeitung des Verwaltungsvorgangs betrauten sachkundigen Beamten. Der Senat hat sogar angenommen, dass das "Rechtsanwendungsrisiko", d.h. die ordnungsgemäße Handhabung der einschlägigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, nicht bereits dadurch in vollem Umfang von der Behörde auf den antragstellenden Bürger selbst verlagert wird, dass dieser im Vergleich zu ihr über die besseren Erkenntnisquellen und die größere Erfahrung verfügt (Senatsurteil BGHZ 149, 50, 55; Senatsurteil vom aaO S. 639).
d) Um so mehr gilt dies, als nach dem der revisionsrechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Sachvortrag der Klägerin den Amtsträgern der Beklagten die Bedenken der zuständigen Fachbehörden bei der Erteilung der Baugenehmigung bereits vorgelegen hatten, diese Stellungnahmen der Klägerin selbst jedoch nicht zur Kenntnis gebracht worden waren, so dass diese ihr Bauvorhaben danach nicht hatte ausrichten oder weitere Ermittlungen anregen können.
e) Für nicht durchgreifend hält der Senat das Argument des Berufungsgerichts, die Klägerin habe den Bau mit Rücksicht auf zum Ende des Jahres 1997 auslaufende Abschreibungsmöglichkeiten mit besonderer Eile vorangetrieben. Dazu war die Klägerin - nach ihrem Vorbringen auch im Hinblick auf die gegenüber den Käufern eingegangenen Fertigstellungsverpflichtungen - berechtigt, solange sie sich im Besitz einer vollziehbaren Baugenehmigung befand. Eine Missachtung ihrer wohlverstandenen eigenen Interessen im Sinne eines "Verschuldens gegen sich selbst" vermag der Senat hierin nicht zu erkennen.
5. Das Berufungsurteil kann nach alledem keinen Bestand haben. Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, welches auf der Grundlage der aufgezeigten Gesichtspunkte - und erforderlichenfalls nach weiteren Tatsachenfeststellungen - eine erneute Abwägung vorzunehmen haben wird.
Fundstelle(n):
NJW 2008 S. 2502 Nr. 34
NWB-Eilnachricht Nr. 29/2008 S. 2717
YAAAC-81347
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja