BGH Beschluss v. - VI ZB 66/19

Festsetzung des Werts des Beschwerdegegenstands bei Rechtsmitteln: Berücksichtigung vorprozessual angefallener Rechtsanwaltskosten; Differenzrechnung zwischen angefallenen und fiktiven Rechtsanwaltskosten

Leitsatz

1. Der geltend gemachte Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten erhöht als Nebenforderung den Wert des Beschwerdegegenstands nicht, soweit er neben der Hauptforderung geltend gemacht wird, für deren Verfolgung Rechtsanwaltskosten angefallen sein sollen. Soweit diese Hauptforderung jedoch nicht Prozessgegenstand ist, handelt es sich bei dem geltend gemachten Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten nicht um eine Nebenforderung.

2. Der Wert dieses Anteils ist durch eine Differenzrechnung zu ermitteln, bei der von den gesamten nach der Klagedarstellung vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten diejenigen (fiktiven) Kosten abzuziehen sind, die entstanden wären, wenn der Rechtsanwalt auch vorprozessual den Anspruch nur in der Höhe geltend gemacht hätte, wie er Gegenstand der Klage geworden ist.

Gesetze: § 4 Abs 1 Halbs 2 ZPO, § 511 Abs 2 Nr 1 ZPO

Instanzenzug: LG Regensburg Az: 23 S 162/18vorgehend AG Cham Az: 8 C 121/18

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt nach einem Verkehrsunfall die Beklagte zu 1 als Haftpflichtversicherer sowie den Beklagten zu 2 als Fahrer und Fahrzeughalter auf Schadensersatz in Anspruch. Vertreten durch einen Rechtsanwalt machte der Kläger vorgerichtlich einen Sachschaden in Höhe von 1.053,91 € geltend, den die Beklagte zu 1 in Höhe von 526,96 € regulierte. Die Kosten für die außergerichtliche Vertretung des Klägers durch den Rechtsanwalt wurden nicht beglichen. Mit seiner Klage verlangt der Kläger die Zahlung weiterer 526,96 € und die Freistellung von vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 201,71 € (berechnet auf Grundlage der Geltendmachung von 1.053,91 €).

2Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom als unzulässig verworfen. Der Senat hat durch Beschluss vom (VI ZB 48/18) auf die Rechtsbeschwerde des Klägers den Beschluss des Landgerichts aufgehoben, die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen sowie zur Begründung ausgeführt, dass sich der für die rechtliche Überprüfung erforderliche Sachverhalt und das Rechtsschutzziel des Klägers der angefochtenen Entscheidung nicht mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen lassen.

3Mit dem angefochtenen Beschluss vom hat das Landgericht die Berufung des Klägers, der seine erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt, erneut als unzulässig verworfen und den Streitwert auf 581,11 € festgesetzt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Berufung nicht zugelassen worden sei und der Rechtsmittelwert nach § 511 Abs. 2 ZPO nicht erreicht werde. Hinsichtlich der - über die begehrte Zahlung von 526,96 € hinausgehenden - vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltsgebühren sei zu unterscheiden. Soweit diese auf die noch geltend gemachte Hauptforderung in Höhe von 526,96 € entfielen, handle es sich um eine nicht streitwerterhöhende Nebenforderung. Bei einem Streitwert von 526,96 € entspreche dies einem Betrag von 147,56 €. Nur soweit mit der Klage weitere, zuvor angefallene vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren aus einem Streitwert von 1.053,92 € geltend gemacht würden, handle es sich um eine weitere Hauptforderung. Diese entspreche 54,15 € (der Differenz zwischen 201,71 € und 147,56 €). Damit ergebe sich insgesamt ein Beschwerdewert von (526,96 € + 54,15 € =) 581,11 €.

II.

4Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig erhobene (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, § 575 Abs. 3 Nr. 2 ZPO) Rechtsbeschwerde ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € nicht übersteigt (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

51. Insbesondere hat das Berufungsgericht dabei den Wert des vom Kläger mit seiner Berufung weiterverfolgten Antrags auf Freistellung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten nicht zu gering bemessen.

6a) Die Festsetzung des Werts des Beschwerdegegenstands bei Rechtsmitteln richtet sich - wie sich aus § 2 ZPO ergibt - nach den Vorschriften der §§ 3 ff. ZPO (vgl. , NJW 2019, 1531 Rn. 12). Der geltend gemachte Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten erhöht als Nebenforderung den Wert des Beschwerdegegenstands (und entsprechend den Streitwert) nicht, soweit er neben der Hauptforderung geltend gemacht wird, für deren Verfolgung Rechtsanwaltskosten angefallen sein sollen (§ 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO). Soweit diese Hauptforderung jedoch nicht Prozessgegenstand ist, handelt es sich bei dem geltend gemachten Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten nicht um eine Nebenforderung, weil es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (vgl. Senat, Beschlüsse vom - VI ZB 49/12, NJW 2014, 3100 Rn. 5 f.; vom - VI ZB 60/07, VersR 2009, 806 Rn. 4 ff.). Danach erhöht die vom Kläger beantragte Freistellung von Rechtsanwaltskosten den Wert des Beschwerdegegenstands, soweit sie denjenigen Teil des vorprozessual in Höhe von 1.053,91 € geltend gemachten Sachschadens betrifft, den die Beklagte zu 1 vor Klageerhebung regulierte.

7b) Das Berufungsgericht hat den Anteil der beantragten Freistellung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten, der den Wert des Beschwerdegegenstands (und entsprechend den Streitwert) erhöht, entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zu gering bewertet. Es hat zutreffend angenommen, dass der Wert dieses Anteils durch eine Differenzrechnung zu ermitteln ist, bei der von den gesamten nach der Klagedarstellung vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten diejenigen (fiktiven) Kosten abzuziehen sind, die entstanden wären, wenn der Rechtsanwalt auch vorprozessual den Anspruch nur in der Höhe geltend gemacht hätte, wie er Gegenstand der Klage geworden ist (vgl. , DAR 2008, 431, juris Rn. 12 [Streitwert]; Feldmann, r+s 2016, 546, 551; Herget, in: Zöller, ZPO 33. Aufl., § 4 Rn. 13; a.A. , NJW-RR 2018, 1339 Rn. 22 [Streitwert]; Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl., § 43 GKG Rn. 29 ff.; ders., AGS 2018, 407, 408; Wern, in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 40 Rn. 26; offen OLG Braunschweig, Beschluss vom - 1 W 82/19, NJW-RR 2020, 317 Rn. 14 ff. [Streitwert]).

8Denn entsprechend ist nicht nur der Wert des Prozesskostenanteils zu ermitteln, der auf den einseitig für erledigt erklärten Teil eines Rechtsstreits entfällt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XI ZR 577/18, juris Rn. 4; vom - VIII ZR 100/17, AGS 2018, 124, juris Rn. 2; vom - XI ZR 138/15, juris Rn. 3; vom - XI ZR 323/14, juris; vom - III ZR 47/09, juris Rn. 5; vom - XII ZR 295/02, NJW-RR 2005, 1728, juris Rn. 10; vom - VIII ZR 157/91, WM 1991, 2009, juris Rn. 3 f.; vom - VIII ZR 289/87, NJW-RR 1988, 1465, juris Rn. 4; siehe weiter Senat, Beschluss vom - VI ZB 26/17, NJW-RR 2019, 189 Rn. 7). Bei einer Teilerledigungserklärung ist eine solche Differenzrechnung auch hinsichtlich der vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten durchzuführen (vgl. , AGS 2018, 124, juris Rn. 3 [Streitwert]).

9Es ist nicht ersichtlich, warum die Wertermittlung bei behauptetem teilweisen Erlöschen der (Haupt-)Forderung vor Klageerhebung (wie im vorliegenden Fall) anders erfolgen sollte als bei behauptetem teilweisen Erlöschen der (Haupt-)Forderung nach Klageerhebung und anschließender Teilerledigungserklärung. Im Übrigen weist die Rechtsbeschwerde zwar zutreffend darauf hin, dass dem Anspruch des Geschädigten auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten im Verhältnis zum Schädiger grundsätzlich der Gegenstandswert zugrunde zu legen ist, der der berechtigten Schadensersatzforderung entspricht (vgl. Senat, Urteile vom - VI ZR 24/17, NJW 2018, 935 Rn. 2, 7 f.; vom - VI ZR 82/17, NJW 2018, 937 Rn. 2 ff., 9 f.), und dass bei einer nicht begründeten Zuvielforderung keine anteilige Kürzung erfolgt, die wegen der degressiven Gebührensteigerung zu geringeren ersatzfähigen Rechtsanwaltskosten führen würde (vgl. , NJW 2008, 1888 Rn. 10, 13; Schneider, AnwBl 2008, 282; Enders, JurBüro 2008, 169). Aus diesem materiellrechtlichen Maßstab können jedoch keine Schlüsse zur Abgrenzung sowie anteiligen Bewertung von Haupt- und Nebenforderung im Sinne von § 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO gezogen werden. Schließlich ist die mögliche Auswirkung, „dass sich der Wert […] im Laufe des Verfahrens beliebig durch Klageerweiterungen oder -rücknahmen ändern könnte“, entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kein „unerträgliche[s] Ergebnis“ der Differenzberechnung. Vielmehr ist es nicht ungewöhnlich, dass Klageerweiterungen und -rücknahmen Auswirkungen auf Beschwerde- und Streitwert haben.

102. Danach liegt auch kein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren vor, da das Berufungsgericht dem Kläger den Zugang zur Berufungsinstanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert hat.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:070720BVIZB66.19.0

Fundstelle(n):
NJW 2020 S. 3174 Nr. 43
LAAAH-55036