EuGH Urteil v. - C-322/12

Jahresabschluss von Kapitalgesellschaften; Grundsatz der Verbuchung von Vermögensgegenständen zu Anschaffungskosten

Leitsatz

Der in Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom aufgrund von Artikel [44 Abs. 2 Buchst. g EG] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen genannte Grundsatz der Bilanzwahrheit erlaubt es nicht, vom Grundsatz der Bewertung der Vermögensgegenstände auf der Grundlage ihrer Anschaffungs- und Herstellungskosten nach Art. 32 dieser Richtlinie zugunsten einer Bewertung auf der Grundlage ihres tatsächlichen Werts abzuweichen, wenn die Anschaffungs- und Herstellungskosten dieser Vermögensgegenstände offenkundig niedriger sind als ihr tatsächlicher Wert.

Gesetze: EWGRL 660/78 Art 2 Abs 3, EWGRL 660/78 Art 2 Abs 4, EWGRL 660/78 Art 2 Abs 5

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaften in Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom aufgrund von [Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl L 222, S. 11, im Folgenden: Vierte Richtlinie).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem belgischen Staat und der GIMLE SA (im Folgenden: GIMLE) über die buchhalterische Behandlung des Erwerbs von Geschäftsanteilen, die einen Monat nach ihrem Erwerb zu einem 3 400-mal höheren Preis als ihren Anschaffungskosten weiterverkauft wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie lautet:

„(3) Der Jahresabschluss hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.

(4) Reicht die Anwendung dieser Richtlinie nicht aus, um ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Absatzes 3 zu vermitteln, so sind zusätzliche Angaben zu machen.

(5) Ist in Ausnahmefällen die Anwendung einer Vorschrift dieser Richtlinie mit der in Absatz 3 vorgesehenen Verpflichtung unvereinbar, so muss von der betreffenden Vorschrift abgewichen werden, um sicherzustellen, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Absatzes 3 vermittelt wird. Die Abweichung ist im Anhang anzugeben und hinreichend zu begründen; ihr Einfluss auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ist darzulegen. Die Mitgliedstaaten können die Ausnahmefälle bezeichnen und die entsprechende Ausnahmeregelung festlegen.“

In Art. 31 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die Bewertung der Posten im Jahresabschluss folgende allgemeine Grundsätze gelten:

c) Der Grundsatz der Vorsicht muss in jedem Fall beachtet werden. Das bedeutet insbesondere:

aa) Nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne werden ausgewiesen.

…“

Art. 32 der Vierten Richtlinie bestimmt:

„Für die Bewertung der Posten im Jahresabschluss gelten die Artikel 34 bis 42, die die Anschaffungs- und Herstellungskosten zur Grundlage haben.“

Belgisches Recht

Nach Angaben des vorlegenden Gerichts stellen Art. 3 Abs. 1, Art. 4 und Art. 16 Abs. 1 des Arrêté royal du 8 octobre 1976 relatif aux comptes annuels des entreprises (Königliche Verordnung vom über den Jahresabschluss von Unternehmen) in der für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung (im Folgenden: Königliche Verordnung) die Umsetzung des Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie in innerstaatliches Recht dar.

Nach Art. 3 Abs. 1 der Königlichen Verordnung muss der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln.

Art. 4 der Königlichen Verordnung sieht vor, dass der Jahresabschluss in Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieser Verordnung erstellt wird und dass, wenn die Anwendung dieser Bestimmungen nicht ausreicht, um Art. 3 dieser Verordnung Genüge zu tun, im Anhang des Jahresabschlusses zusätzliche Angaben zu machen sind.

Nach Art. 16 Abs. 1 dieser Verordnung ist, wenn die Bewertungsregeln des diesen Artikel enthaltenden Kapitels im Ausnahmefall dazu führen, dass Art. 3 nicht erfüllt wird, davon abzuweichen und Art. 3 anzuwenden.

Art. 20 der Königlichen Verordnung bestimmt, dass Vermögensgegenstände unbeschadet der Art. 16, 27, 27a und 34 dieser Verordnung mit ihrem Anschaffungswert bewertet und mit diesem Wert in die Bilanz eingestellt werden, wobei für zugehörige Abschreibungen und Wertminderungen Abzüge vorzunehmen und unter Anschaffungswert die in Art. 21 definierten Anschaffungskosten, die in Art. 22 definierten Herstellungskosten oder der in Art. 23 dieser Verordnung definierte Einbringungswert zu verstehen sind.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

Der Sachverhalt, wie er sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, kann wie folgt zusammengefasst werden.

GIMLE, eine Aktiengesellschaft belgischen Rechts, wurde am von Herrn Sjöwall und Frau Larsson gegründet, die beide die schwedische Staatsangehörigkeit besitzen und im Vereinigten Königreich wohnhaft sind. Unternehmensgegenstand von GIMLE ist insbesondere die Beteiligung an Unternehmen und deren Verwaltung.

Am erwarb GIMLE 50 Aktien der ebenfalls von Herrn Sjöwall gegründeten TV-Shop Europe AB, einer Gesellschaft schwedischen Rechts, für einen Betrag von 5 000 Schwedischen Kronen (SEK), d. h. 100 SEK pro Aktie. Am , also 38 Tage nach deren Erwerb, verkaufte GIMLE diese Aktien an die Electronic Retailing AB, eine Gesellschaft schwedischen Rechts, zum Preis von 17 000 000 SEK, d. h. 340 000 SEK pro Aktie. Nach diesem Verkauf verbuchte GIMLE buchhalterisch einen Wertzuwachs von 74 776 696 Belgischen Franken (BEF) (1 853 668 Euro), der der Differenz zwischen dem Verkaufspreis und den Anschaffungskosten dieser Aktien entsprach.

Aus steuerrechtlicher Sicht galt für diese Art von Wertzuwachs infolge eines Aktienverkaufs in Belgien eine Befreiung, so dass GIMLE ihn nicht als steuerbares Einkommen in ihre Körperschaftsteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 2000 (Einkommen des Jahres 1999) aufnahm.

In einem Berichtigungsbescheid vom vertrat die Steuerverwaltung gleichwohl die Ansicht, dass GIMLE steuerbares Einkommen erzielt habe, und zwar aufgrund des durch den Erwerb der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktien realisierten Wertzuwachses, d. h. „aufgrund des Abflusses monetären Vermögens, das durch Aktien ersetzt wurde, deren tatsächlicher Wert höher als der gezahlte Preis war“. Die Steuerverwaltung nahm somit an, dass der tatsächliche Wert der Aktien zum Zeitpunkt des Erwerbs am nicht ihren Anschaffungskosten (100 SEK je Aktie) entsprochen habe, sondern ihrem Weiterverkaufspreis vom (340 000 SEK je Aktie). Folglich unterwarf sie den entsprechenden Wertzuwachs in Höhe von 74 776 696 BEF (1 853 668 Euro) der Einkommensteuer.

Das Tribunal de première instance de Bruxelles erklärte die Klage von GIMLE gegen die Entscheidung vom , mit der die Steuerverwaltung ihren Einspruch zurückgewiesen hatte, für zulässig und begründet. Dementsprechend ordnete es die Herabsetzung der streitigen Besteuerung an und verurteilte den belgischen Staat, alle von ihm zu Unrecht erhobenen Beträge zuzüglich Verzugszinsen rückzuerstatten.

Die vom belgischen Staat bei der Cour d’appel de Bruxelles eingelegte Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil wurde zurückgewiesen. Die Cour d’appel de Bruxelles stellte die Würdigung des Sachverhalts durch den belgischen Staat nicht in Frage, wonach die Anschaffungskosten der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktien offenkundig niedriger waren als ihr tatsächlicher Wert, der dem 38 Tage später erzielten Verkaufspreis entsprach. Sie war jedoch der Ansicht, dass es auf diese Würdigung nicht ankomme, da GIMLE nach Art. 3 Abs. 1, Art. 4 und Art. 16 Abs. 1 der Königlichen Verordnung verpflichtet gewesen sei, diese Aktien nicht zu ihrem tatsächlichen Wert, sondern zu ihrem ursprünglichen Kaufpreis zu verbuchen. Insbesondere verpflichte Art. 16 der Königlichen Verordnung nur in sogenannten „Ausnahmefällen“ dazu, die ursprünglichen Anschaffungskosten zugunsten des tatsächlichen Werts außer Betracht zu lassen, und erlaube es Art. 4 Abs. 2 dieser Verordnung einem Unternehmen, ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild seines Vermögens zu vermitteln, indem es im Anhang zum Jahresabschluss „zusätzliche Angaben“ mache, ohne jedoch von der Einheitsregel der Bewertung anhand der ursprünglichen Kosten abzuweichen. Demzufolge bestätigte die Cour d’appel de Bruxelles das erstinstanzliche Urteil und entschied, dass der belgische Staat bei der Berechnung der von GIMLE geschuldeten Steuer den Wertzuwachs von 74 776 696 BEF zu Unrecht berücksichtigt habe.

Der belgische Staat legte gegen das Berufungsurteil der Cour d’appel de Bruxelles Kassationsbeschwerde ein und trug vor, dass Art. 3 Abs. 1, Art. 4 und Art. 16 Abs. 1 der Königlichen Verordnung nicht nur vorsähen, dass zusätzliche Angaben im Anhang zum Jahresabschluss zu machen seien, sondern auch dazu verpflichteten, vom Grundsatz der Verbuchung von Vermögensgegenständen zu den Anschaffungskosten abzuweichen, wenn – wie im Ausgangsverfahren – der gezahlte Preis offensichtlich nicht dem tatsächlichen Wert der betreffenden Güter entspreche und deshalb ein falsches Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens vermittelt werde.

Da die Cour de cassation der Ansicht war, dass für die Entscheidung über die Kassationsbeschwerde des belgischen Staates eine Auslegung des Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie erforderlich sei, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie dahin auszulegen, dass er nicht nur vorsieht, dass zusätzliche Angaben im Anhang zum Jahresabschluss zu machen sind, sondern, wenn die Anschaffungskosten offensichtlich nicht dem tatsächlichen Wert der betreffenden Güter

entsprechen und deshalb ein falsches Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens vermittelt wird, auch dazu verpflichtet, vom Grundsatz der Verbuchung von Vermögensgegenständen zu den Anschaffungskosten abzuweichen und sie unmittelbar zu ihrem Weiterverkaufswert zu verbuchen, wenn dieser offenkundig ihr tatsächlicher Wert ist?

Zur Vorlagefrage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

GIMLE, die belgische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht. GIMLE, die deutsche Regierung und die Kommission sind der Auffassung, dass die Vorlagefrage zu verneinen sei. Nur die belgische Regierung vertritt den gegenteiligen Standpunkt.

Nach Ansicht von GIMLE und der deutschen Regierung stützt sich die in Art. 32 der Vierten Richtlinie vorgeschriebene Bewertungsmethode auf die ursprünglichen Kosten der Vermögensgegenstände, nämlich die Anschaffungs- und Herstellungskosten. Zudem dürfe von dieser Methode nur in den in Art. 33 dieser Richtlinie abschließend genannten Fällen abgewichen werden.

Die Kommission erinnert unter Berufung auf die Urteile vom , Tomberger (C-234/94, Slg. 1996, I-3133, Randnr. 17), und vom , DE + ES Bauunternehmung (C-275/97, Slg. 1999, I-5331, Randnr. 26), daran, dass der Grundsatz der Bilanzwahrheit in Art. 2 Abs. 3 der Vierten Richtlinie die Hauptzielsetzung dieser Richtlinie darstelle. Die Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind sich allerdings uneinig über die Reichweite des Art. 2 Abs. 5 dieser Richtlinie, der eine Pflicht zur Abweichung von einer Vorschrift der Richtlinie vorsieht, wenn ihre Anwendung in Ausnahmefällen mit dem Grundsatz der Bilanzwahrheit unvereinbar ist.

GIMLE, die deutsche Regierung und die Kommission sind der Meinung, dass der Erwerb eines Vermögensgegenstands zu einem niedrigeren Preis als dessen tatsächlichem Wert kein „Ausnahmefall“ im Sinne des Art. 2 Abs. 5 der Vierten Richtlinie sei, der eine Abweichung vom Grundsatz der Bewertung auf der Grundlage der ursprünglichen Kosten in Art. 32 dieser Richtlinie rechtfertigte. GIMLE hebt insoweit hervor, dass die Entscheidung des Unionsgesetzgebers für die auf die ursprünglichen Kosten gestützte Methode dazu führe, dass in der Unternehmensbuchführung Bewertungen enthalten seien, die nur selten dem tatsächlichen Wert der Vermögensgegenstände entsprächen. Die deutsche Regierung ergänzt, dass diese Methode unumgänglich zu manchmal erheblichen stillen Reserven führe, wenn die Anschaffungskosten unter dem tatsächlichen Wert des Vermögensgegenstands lägen, dass aber solche stillen Reserven mit dem Vorsichtsprinzip im Sinne von Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie vereinbar seien.

Die belgische Regierung ist dagegen der Ansicht, dass der Begriff „Ausnahmefall“ in Art. 2 Abs. 5 der Vierten Richtlinie den Fall erfasse, dass die Anschaffungskosten eines Vermögensgegenstands – wie im Ausgangsverfahren – offensichtlich niedriger seien als sein tatsächlicher Wert und demnach die Verwendung der Anschaffungskosten ein falsches Bild der Finanzlage des Unternehmens vermittle. Sie verweist hierzu entsprechend auf das Urteil DE + ES Bauunternehmung (Randnr. 32), in dem der Gerichtshof entschieden habe, dass „Ausnahmefälle“ im Sinne von Art. 31 Abs. 2 der Vierten Richtlinie die Fälle seien, in denen eine Einzelbewertung kein den tatsächlichen Verhältnissen so weit wie möglich entsprechendes Bild der Finanzlage der betreffenden Gesellschaft vermitteln würde.

Würdigung durch den Gerichtshof

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der Bilanzwahrheit in Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie dazu verpflichtet, vom Grundsatz der Bewertung von Vermögensgegenständen auf der Grundlage ihrer Anschaffungs- und Herstellungskosten nach Art. 32 dieser Richtlinie zugunsten einer Bewertung auf der Grundlage ihres tatsächlichen Werts abzuweichen, wenn die Anschaffungs- und Herstellungskosten dieser Vermögensgegenstände offensichtlich niedriger sind als ihr tatsächlicher Wert.

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass es im Ausgangsrechtsstreit um die buchhalterische Behandlung des Erwerbs von Geschäftsanteilen geht, die einen Monat nach ihrem Erwerb zu einem 3 400-mal höheren Preis als ihren Anschaffungskosten weiterverkauft wurden.

Aus dieser Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit einen steuerrechtlichen Ursprung hat, da eine Verbuchung der Aktien zu ihrem tatsächlichen Wert zum Zeitpunkt ihres Erwerbs den belgischen Behörden ermöglichen würde, die betroffene Gesellschaft aufgrund des Wertzuwachses zu besteuern, der sich aus der Differenz zwischen dem tatsächlichen Wert der Aktien und deren Anschaffungskosten ergibt.

Der Gerichtshof hatte in diesem Zusammenhang bereits Gelegenheit, klarzustellen, dass die Vierte Richtlinie nicht darauf gerichtet ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse der Gesellschaften bei der Festsetzung der Besteuerungsgrundlage und der Höhe von Steuern wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Körperschaftsteuer zugrunde legen können oder müssen. Es ist aber auch keineswegs ausgeschlossen, dass die Jahresabschlüsse von den Mitgliedstaaten als maßgebliche Grundlage für steuerliche Zwecke verwendet werden (Urteil vom , BIAO, C-306/99, Slg. 2003, I-1, Randnr. 70), und keine Bestimmung der Vierten Richtlinie verbietet den Mitgliedstaaten, aus steuerlicher Sicht die Wirkungen der Buchführungsvorschriften in dieser Richtlinie zu korrigieren, um ein zu versteuerndes Ergebnis zu ermitteln, das der wirtschaftlichen Realität näher kommt.

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Vierte Richtlinie die einzelstaatlichen Vorschriften über die Gliederung und den Inhalt des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie über die Bewertungsmethoden im Hinblick auf den Schutz der Gesellschafter sowie Dritter koordinieren soll. Zu diesem Zweck soll sie ihrer dritten Begründungserwägung zufolge Mindestbedingungen hinsichtlich des Umfangs der zu veröffentlichenden finanziellen Angaben aufstellen (Urteil BIAO, Randnr. 69).

Die Vierte Richtlinie stützt diese Koordinierung des Inhalts der Jahresabschlüsse auf den Grundsatz der „Bilanzwahrheit“, dessen Beachtung ihre Hauptzielsetzung darstellt (Urteile Tomberger, Randnr. 17, DE + ES Bauunternehmung, Randnr. 26, und BIAO, Randnr. 72). Nach diesem in Art. 2 Abs. 3 bis 5 dieser Richtlinie genannten Grundsatz muss der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln.

Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie, der den Grundsatz der Bilanzwahrheit enthält, findet sich in Abschnitt 1 („Allgemeine Vorschriften“) dieser Richtlinie. Abschnitt 7 („Bewertungsregeln“) der Richtlinie definiert die Bewertungsregeln der Posten im Jahresabschluss, darunter die in Art. 31 der Richtlinie genannten allgemeinen Grundsätze.

Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, darzulegen, dass sich die Anwendung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit möglichst weitgehend an den in Art. 31 der Vierten Richtlinie enthaltenen allgemeinen Grundsätzen zu orientieren hat, wobei dem in Art. 31 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie vorgesehenen Grundsatz der Vorsicht besondere Bedeutung zukommt (Urteil Tomberger, Randnr. 18).

Nach Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Vierten Richtlinie, der den Grundsatz der Vorsicht enthält, gestattet es die Berücksichtigung aller Faktoren – realisierte Gewinne, Aufwendungen, Erträge, Risiken und Verluste –, die sich tatsächlich auf das fragliche Geschäftsjahr beziehen, die Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit sicherzustellen (Urteile Tomberger, Randnr. 22, und BIAO, Randnr. 123). Insbesondere Art. 31 Abs. 1 Buchst. c Unterabs. aa regelt, dass nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne ausgewiesen werden dürfen.

Der Grundsatz der Bilanzwahrheit ist auch im Licht des in Art. 32 der Vierten Richtlinie genannten Grundsatzes zu verstehen, wonach der Bewertung der Posten im Jahresabschluss die Anschaffungs- und Herstellungskosten der Vermögensgegenstände zugrunde gelegt werden.

Nach dieser Bestimmung stützt sich das den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Bild, das der Jahresabschluss einer Gesellschaft vermitteln muss, auf eine Bewertung der Vermögensgegenstände nicht aufgrund ihres tatsächlichen Werts, sondern aufgrund ihrer ursprünglichen Kosten.

Es trifft zu, dass Art. 2 Abs. 5 der Vierten Richtlinie vorsieht, dass in Ausnahmefällen, wenn die Anwendung einer Vorschrift dieser Richtlinie mit der in Art. 2 Abs. 3 vorgesehenen Verpflichtung unvereinbar ist, von der betreffenden Vorschrift abgewichen werden muss, um sicherzustellen, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne von Art. 2 Abs. 3 vermittelt wird.

Nach Art. 2 Abs. 5 dieser Richtlinie ist es daher denkbar, dass in Ausnahmefällen von Art. 32 der Richtlinie, der eine Bewertung der Vermögensgegenstände auf der Grundlage der Anschaffungs- und Herstellungskosten vorschreibt, abzuweichen ist, wenn die Anwendung dieser Methode dazu führen würde, ein falsches Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.

Jedoch ist – mit GIMLE, der deutschen Regierung und der Kommission – festzustellen, dass die Unterbewertung von Vermögensgegenständen in den Büchern der Gesellschaften an sich keinen „Ausnahmefall“ im Sinne des Art. 2 Abs. 5 der Vierten Richtlinie darstellt.

Die Möglichkeit, dass bestimmte Vermögensgegenstände in den Büchern der Gesellschaften unterbewertet werden, wenn ihr Anschaffungswert niedriger ist als ihr tatsächlicher Wert, ist nämlich nur die notwendige Folge der Entscheidung des Unionsgesetzgebers in Art. 32 der Vierten Richtlinie für eine Bewertungsmethode, die sich nicht auf den tatsächlichen Wert der Vermögensgegenstände, sondern auf deren ursprüngliche Kosten stützt.

Wie die deutsche Regierung betont, steht ferner die Unterbewertung bestimmter Vermögensgegenstände – wie z. B. Geschäftsanteile – in den Büchern einer Gesellschaft aufgrund ihrer Bewertung auf der Grundlage der Anschaffungs- und Herstellungskosten im Einklang mit dem Grundsatz der Vorsicht nach Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Vierten Richtlinie. Insbesondere die Bewertung solcher Vermögensgegenstände nach ihrem tatsächlichen Wert ließe in den Büchern der Gesellschaft einen Wertzuwachs in Höhe der Differenz zwischen dem tatsächlichen und dem Anschaffungswert dieser Vermögensgegenstände erscheinen, was im Widerspruch zu Art. 31 Abs. 1 Buchst. c Unterabs. aa dieser Richtlinie stünde, wonach nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne ausgewiesen werden.

Im Übrigen stellt die Kommission zutreffend fest, dass der belgische Staat zum Zeitpunkt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Transaktionen keine fakultativen Bestimmungen auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 5 oder Art. 33 der Vierten Richtlinie erlassen hatte. Die Kommission hebt auch zu Recht hervor, dass eine Gesellschaft, die sicher ist, aufgrund einer eingegangenen Verpflichtung zum künftigen Weiterverkauf eines Vermögensgegenstands einen bedeutenden Gewinn zu realisieren, nach Art. 2 Abs. 4 dieser Richtlinie dazu verpflichtet ist, hierzu zusätzlich Angaben zu machen.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der in Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie genannte Grundsatz der Bilanzwahrheit es nicht erlaubt, vom Grundsatz der Bewertung der Vermögensgegenstände auf der Grundlage ihrer Anschaffungs- und Herstellungskosten nach Art. 32 dieser Richtlinie zugunsten einer Bewertung auf der Grundlage ihres tatsächlichen Werts abzuweichen, wenn die Anschaffungs- und Herstellungskosten dieser Vermögensgegenstände offenkundig niedriger sind als ihr tatsächlicher Wert.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Der in Art. 2 Abs. 3 bis 5 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom aufgrund von Artikel [44 Abs. 2 Buchst. g EG] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen genannte Grundsatz der Bilanzwahrheit erlaubt es nicht, vom Grundsatz der Bewertung der Vermögensgegenstände auf der Grundlage ihrer Anschaffungs- und Herstellungskosten nach Art. 32 dieser Richtlinie zugunsten einer Bewertung auf der Grundlage ihres tatsächlichen Werts abzuweichen, wenn die Anschaffungs- und Herstellungskosten dieser Vermögensgegenstände offenkundig niedriger sind als ihr tatsächlicher Wert.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
EAAAE-51064