Pflicht zur Vorlage der den Streitfall betreffenden Akten
Leitsatz
NV: Ist ein Auskunftsanspruch streitig, gehört zu den den Streitfall betreffenden Akten derjenige Verwaltungsvorgang, der die behördliche Bearbeitung des Auskunftsanspruchs betrifft.
Gesetze: DS GVO Art. 15; FGO § 6; FGO § 71 Abs. 2; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; FGO § 119 Nr. 1; FGO § 124 Abs. 2; ZPO § 295 Abs. 1
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) beantragte bei dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) unter Berufung auf Art. 15 Abs. 1 der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) Auskunft über die bei dem FA über ihn gespeicherten Daten sowie Aushändigung der Daten elektronisch oder in Papierform. Das FA erteilte eine Negativauskunft. Es verarbeite keine den Kläger betreffenden Daten.
2 Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, diese Auskunft sei bewusst wahrheitswidrig. Ihm sei aus verschiedenen Auskünften und Verfahren bekannt, dass das FA Daten über ihn verwendet habe und noch verwende und an die damalige Oberfinanzdirektion und das heutige Landesamt für Steuern Berichte über ihn erstattet habe. Er beantragte u.a., die Akten des FA zuzuziehen, die sonstigen Akten beizuziehen, wie in der Folge und im weiteren Verfahren benannt, und nach Zuziehung von Akten —ggf. jeweils— Akteneinsicht zu gewähren. Das Finanzgericht (FG) forderte mit Zustellung der Klage das FA auf, die den Streitfall betreffenden Akten beizufügen.
3 Das FA erwiderte mit Schriftsatz vom , die erteilte Negativauskunft sei zutreffend. Es speichere oder verarbeite keine personenbezogenen Daten des Klägers. Es sei insbesondere datenschutzrechtlich nicht Verantwortlicher für Daten des Klägers, sei örtlich für den Kläger nicht zuständig und habe auch nicht den Einzelfall des Klägers bearbeitet. Ein Verwaltungsvorgang war nicht beigefügt. Nähere Erläuterungen dazu gab das FA nicht ab.
4 Mit Beschluss vom übertrug das FG den Rechtsstreit auf den Einzelrichter. Der Kläger rügte diese Übertragung, verlangte die Hinzuziehung der Verwaltungsakten i.S. von § 71 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und beantragte erneut Akteneinsicht, worauf das FA erklärte, es gebe keine Akten und könne keine Akten geben, da keine personenbezogenen Daten des Klägers bei ihm existierten. Dies ergebe sich aus einer dem Schriftsatz beigefügten Abfrage in seinem System, das zu keinen Treffern bzw. nur zu Treffern im Land Nordrhein-Westfalen führe. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers nahm Akteneinsicht in die FG-Akte.
5 Im Folgejahr beraumte der Einzelrichter Termin zur mündlichen Verhandlung auf den an. Am teilte der Kläger mit, er werde an dem geplanten „Show-Termin“ unter Protest gegen dessen Durchführung nicht teilnehmen, um dem Termin nicht den Anschein der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit zu geben. Alle Anträge und Verfahrensrügen blieben exakt so bestehen wie geschrieben, eine Umwidmung „sinngemäß“ sei unzulässig. Die der Klageerwiderung beigeschlossene Datenabfrage beweise, dass die Negativauskunft des FA falsch sei. Die nicht erläuterten Schlüsselbuchstaben ließen Verwendung und Verwendungszweck der Daten nicht erkennen.
6 Der Einzelrichter hat die Klage abgewiesen. Es gebe keinen Anlass, den Wahrheitsgehalt der Negativauskunft des FA zu bezweifeln. Dem Anspruch auf Akteneinsicht sei genügt. Der Kläger habe sein Akteneinsichtsbegehren unter die Bedingung der Beiziehung weiterer Akten gestellt, die nicht stattgefunden habe.
7 Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger mehrere Verfahrensmängel nach §§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 119 FGO, darunter die Übertragung der quantitativ und qualitativ schwierigen Sache auf den Einzelrichter sowie die Nichterfüllung des auf alle vorzulegenden Akten gerichteten Akteneinsichtsanspruchs. Dieser sei umfassend. Einsicht sei nur in eine dünne willkürlich und nichtssagend vom FA zusammengestellte Pseudo-Akte gewährt worden. Statt dem FA nur zu glauben, hätte das FG durch Beiziehung der Akten den Sachverhalt aufklären müssen.
8 Das FA hält die Beschwerde insgesamt für unzulässig, da die geltend gemachten Verfahrensmängel entgegen § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht dargelegt seien.
Gründe
II.
9 Die Beschwerde ist begründet. Das FG hat verfahrensfehlerhaft (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) die den Streitfall betreffenden Akten des FA i.S. von § 71 Abs. 2 FGO nicht beigezogen. Zur Straffung des Verfahrens verweist der Senat den Rechtsstreit bereits im Beschwerdeverfahren nach § 116 Abs. 6 FGO an das FG zurück. Ein Anlass zur Zurückverweisung an den Vollsenat besteht nicht.
10 1. Die fehlende Anforderung der den Streitfall betreffenden Akten des FA widerspricht der Grundordnung des Verfahrens. Der Kläger hat diesen Verfahrensfehler in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Weise dargelegt, indem er beanstandet hat, das FG habe die Streitakten nicht zugezogen. Soweit er außerdem vorgetragen hat, es sei Einsicht in eine „Pseudo-Akte“ des FA gewährt worden, handelt es sich nach Aktenlage um einen Irrtum, denn der FG-Akte ist keine Einsicht in einen Verwaltungsvorgang gleich welcher Art zu entnehmen.
11 a) Nach § 71 Abs. 2 FGO hat die beteiligte Finanzbehörde die den Streitfall betreffenden Akten nach Empfang der Klageschrift an das Gericht zu übermitteln. Dabei handelt es sich um diejenigen Aktenstücke, die aus der Sicht des FG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage erheblich sind und für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung sein können (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom - XI B 9/19, BFH/NV 2019, 837, Rz 15, und vom - II S 11/20, BFH/NV 2021, 532, Rz 9). Die Vorschrift ist Ausfluss des Untersuchungsgrundsatzes. Das FG hat die Akten beizuziehen, die Informationen für die Entscheidung des Rechtsstreits enthalten können (, BFH/NV 1997, 293; , BFH/NV 2016, 1483, Rz 11). Wie der BFH zum Verfahren nach § 86 Abs. 3 FGO bereits entschieden hat, verfügt das FG über eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage, welche Akten es für entscheidungserheblich hält (BFH-Beschlüsse vom - VII S 35/19, BFH/NV 2020, 1076, Rz 20, und in BFH/NV 2021, 532, Rz 9), die den BFH allerdings nicht bindet, wenn die Rechtsauffassung des FG offenkundig fehlerhaft ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 1076, Rz 20). Es gibt keinen Grund, dies anders zu beurteilen, wenn die Frage der Aktenvorlage nicht Gegenstand des in-camera-Verfahrens, sondern des Hauptsacheverfahrens ist. Regelmäßig entscheidungserheblich sind diejenigen Akten, deren Gegenstand mit demjenigen der Klage identisch ist. Deshalb sind bei Klagen betreffend die Besteuerung in einem bestimmten Veranlagungszeitraum die die jeweilige Steuer dieses Veranlagungszeitraums betreffenden Steuerakten vorzulegen (vgl. dazu BFH-Beschluss in BFH/NV 2020, 1076, Rz 20).
12 b) Ist ein Auskunftsanspruch streitig, gehört zu den Akten i.S. von § 71 Abs. 2 FGO jedenfalls derjenige Verwaltungsvorgang, der die behördliche Bearbeitung des Auskunftsanspruchs betrifft. Das gilt auch dann, wenn der Vorgang lediglich aus wenigen Schriftstücken bestehen sollte, beginnend bei dem Auskunftsantrag und endend bei der tatsächlich erteilten Auskunft. Welchen Inhalt die Akten haben, namentlich, ob dazwischen Ermittlungen oder Verfügungen vorgenommen wurden wie etwa die Abfrage, die das FA im finanzgerichtlichen Verfahren vorgelegt hat, kann das FG erst wissen, wenn ihm die Akten vorliegen. Die Pflicht zur Vorlage dient gerade dazu, dass das FG sich bei der Prüfung der Richtigkeit und damit der Rechtmäßigkeit der Auskunft eine Auffassung dazu bilden kann, wie die Auskunft zustande gekommen ist.
13 c) Das bedeutet im Streitfall, dass derjenige Verwaltungsvorgang vorzulegen ist, der die finanzamtsseitige Bearbeitung des —bisher nicht aktenkundigen— Antrags des Klägers vom 03./ dokumentiert. In welcher äußeren Form der Vorgang im FA abgelegt wurde, ist für die Vorlagepflicht unerheblich. Aus einer etwaigen Sammelmappe können diejenigen Blätter, die sich auf das Auskunftsersuchen des Klägers beziehen, ausgeheftet und vorgelegt werden. Das FG hätte das FA zur Vorlage dieses Vorgangs auffordern müssen. Die Erklärung des FA, es gebe keine Akten, stand dem nicht entgegen. Einem FG unterläuft zwar kein Verfahrensfehler, wenn das FA Akten nicht vorlegt, weil es sie erklärtermaßen nicht mehr besitzt und deswegen nicht mehr vorlegen kann (, BFH/NV 2013, 180, Rz 29). Im Streitfall ist die Äußerung des FA jedoch nicht als endgültige Weigerung zu verstehen, Akten vorzulegen. Sie beruhte vielmehr ersichtlich auf einem Irrtum über den Begriff der Akten. Das FG hätte deshalb Anlass gehabt zu erläutern, was unter den vorzulegenden Akten zu verstehen ist, und auf der Vorlage genau dieser Akten bestehen müssen.
14 d) Der Kläger hat sein Recht, die fehlende Beiziehung der Akten zu rügen, nicht nach § 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 155 Satz 1 FGO verloren.
15 aa) Nach § 295 Abs. 1 ZPO kann u.a. die Verletzung einer das Verfahren betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war. Die Vorschrift greift schon deshalb unmittelbar nicht ein, weil der Kläger nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen war.
16 bb) Eine ausdehnende Anwendung der Präklusionsvorschrift kommt für die Beiziehung von Akten nicht in Betracht. Zwar kann der Beschwerdeführer auch durch unentschuldigtes Nichterscheinen zur mündlichen Verhandlung sein Recht endgültig verlieren, die Verletzung einer verzichtbaren Verfahrensvorschrift zu rügen, sofern die Verletzung vorhersehbar war (vgl. , BFH/NV 1995, 320; BFH-Beschlüsse vom - VII B 142/04, BFH/NV 2005, 1576, unter 3., und vom - X B 4/10, BFH/NV 2012, 958, Rz 27). Die Beiziehung der den Streitfall betreffenden Akten betrifft jedoch die Grundordnung des Verfahrens (BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 293) und ist deshalb nicht verzichtbar.
17 2. Es ist keine Zurückverweisung an den Vollsenat vorzunehmen, wie sie geboten wäre, wenn die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ihrerseits einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 119 Nr. 1 FGO begründet hätte (vgl. , BFH/NV 2016, 1574, Rz 9). Daran fehlt es.
18 a) Nach § 6 Abs. 1 FGO kann der Senat den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Der betreffende Beschluss ist gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 FGO unanfechtbar und damit nach § 124 Abs. 2 FGO grundsätzlich vom Revisionsgericht nicht zu überprüfen. Eine Besetzungsrüge mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO für eine Übertragung auf den Einzelrichter hätten nicht vorgelegen, kann deshalb nur Erfolg haben, wenn die Übertragung willkürlich war (, BFH/NV 2005, 1078, unter II.II.6.). Das ist etwa dann der Fall, wenn sich der Einzelrichter selbst bestellt hat, ihm der Rechtsstreit statt durch Senatsbeschluss durch Verfügung des Vorsitzenden zugewiesen worden ist, ein Verstoß gegen die ausdrücklichen Verbote des § 6 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 FGO vorliegt, oder wenn sich die Übertragung auf den Einzelrichter aus sonstigen Gründen als „greifbar gesetzwidrig“ erweist (, BFH/NV 1998, 720, unter 2.a aa).
19 b) In zeitlicher Hinsicht kann der Senat die Voraussetzungen des § 6 FGO beurteilen und deshalb über die Übertragung entscheiden, wenn er sich ein hinreichendes Urteil über den Fall bilden kann. Dafür genügt im Allgemeinen der Eingang von Klagebegründung, Klageerwiderung und Steuerakten (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2005, 1078, unter II.II.6., und in BFH/NV 2016, 1574, Rz 5). Mit Steuerakten sind im vorliegenden Zusammenhang die den Streitfall betreffenden Akten i.S. von § 71 Abs. 2 FGO gemeint.
20 c) Nach diesen Maßstäben geht die auf die Einzelrichterbestellung gestützte Besetzungsrüge fehl.
21 aa) Die in dem BFH-Beschluss in BFH/NV 1998, 720 exemplarisch genannten Verfahrensfehler oder vergleichbare grobe Mängel sind nicht ersichtlich. Die Übertragung war auch nicht greifbar gesetzwidrig. Soweit der Kläger meint, die Sache sei quantitativ und qualitativ schwierig, womit er wohl „besondere“ Schwierigkeiten i.S. von § 6 Abs. 1 FGO meint, ist dies eine pauschale und für den Senat nicht ohne Weiteres nachvollziehbare Bewertung, die zudem selbst dann, wenn sie zuträfe, für sich noch keine greifbare Gesetzwidrigkeit begründen könnte.
22 bb) Soweit das FG die Einzelrichterübertragung vorgenommen hat, bevor die Akten des FA vorlagen, begründet dies unter den Umständen des Streitfalles keinen Willkürvorwurf. Das FA hatte auf die in der Eingangsverfügung des FG enthaltene Aufforderung, die den Streitfall betreffenden Akten beizufügen, zwar weder Akten vorgelegt noch anderweit reagiert, jedoch in der Klageerwiderung erkennen lassen, dass ihm zu dem Kläger nichts vorliege, worüber es Auskunft geben oder was es vorlegen könne. Daraus war nicht nur zu schließen, dass die unterlassene Aktenvorlage auf einem fehlerhaften Aktenbegriff beruhte. Vor allem war dem zu entnehmen, dass die den Streitfall betreffenden Akten i.S. von § 71 Abs. 2 FGO mutmaßlich keine weitreichenden Informationen enthalten würden. Wenn auch eine unbelegte Annahme im Allgemeinen keine zweckmäßige Entscheidungsgrundlage ist, war es jedoch nicht greifbar gesetzwidrig, auf der Grundlage einer zumindest naheliegenden Annahme den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zu übertragen und einen etwaigen Streit um die Frage, welche weiteren Akten wann vorgelegt werden mögen, gerade zur Entlastung des Vollsenats dem Einzelrichter zu überlassen. Bei einem nicht den Annahmen entsprechenden Prozessverlauf bleibt die Rückübertragung auf den Vollsenat nach Maßgabe von § 6 Abs. 3 FGO möglich.
23 3. Die weiteren Verfahrensrügen bedürfen keiner Entscheidung.
24 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2022:B.300522.IIB56.21.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2022 S. 905 Nr. 9
QAAAJ-17346