Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Sachaufklärungsrüge - prozessordnungsgemäßer Beweisantrag im Rentenverfahren - Verwertung ärztlicher Gutachten aus dem Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren im sozialgerichtlichen Verfahren
Gesetze: § 103 S 1 Halbs 1 SGG, § 109 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 373 ZPO, § 403 ZPO, § 415 ZPO, §§ 415ff ZPO
Instanzenzug: SG Mannheim Az: S 8 R 3668/19 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 13 R 3303/20 Urteil
Gründe
1I. Die 1964 geborene Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
2Die Beklagte lehnte den Rentenantrag vom ab, nachdem sie das Leistungsvermögen der Klägerin durch den Orthopäden und Unfallchirurgen L (Gutachten vom ), den Internisten B1 (Gutachten vom ) sowie - im Widerspruchsverfahren - durch den Orthopäden und Unfallchirurgen H (Gutachten vom ) und den Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten K hatte begutachten lassen (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat die Klage nach Einholung von Befundberichten abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ). Das LSG hat im dagegen von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren einen Befundbericht beim behandelnden Schmerztherapeuten B2 eingeholt und auf Antrag der Klägerin eine Begutachtung beim Neurologen und Psychiater S veranlasst (Gutachten vom ). Mit Urteil vom hat es die Berufung zurückgewiesen. Nach schlüssiger Einschätzung von L, H und K seien die bestehenden orthopädischen und psychischen Leiden mit qualitativen Leistungseinschränkungen angemessen berücksichtigt. Der Sachverständige S habe ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin bestätigt. Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit weiterer Sachverhaltsermittlungen bestünden nicht.
3Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt.
4II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet wird. Sie ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Die Klägerin bezeichnet die geltend gemachten Verfahrensmängel nicht anforderungsgerecht.
5Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom nicht gerecht.
6Die Klägerin rügt, das LSG sei der tatrichterlichen Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG) nicht ausreichend nachgekommen, indem es von der Einholung eines Gutachtens auf orthopädischem Fachgebiet und eines weiteren Gutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet abgesehen habe. Wird eine solche Sachaufklärungsrüge erhoben, muss die Beschwerdebegründung hierzu jeweils folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zum Schluss aufrechterhaltenen Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (stRspr; vgl zB - juris RdNr 11). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
7Die Klägerin bezieht sich auf die zuletzt im Schriftsatz vom gestellten und in der mündlichen Verhandlung vom aufrechterhaltenen Anträge, zum Beweis der Tatsache, dass ihr zeitliches Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf weniger als sechs Stunden täglich gesunken sei, ein Sachverständigengutachten auf orthopädischem Fachgebiet sowie eines auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet einzuholen. Sie legt nicht ausreichend dar, damit prozessordnungsgemäße Beweisanträge gestellt zu haben. Hierfür muss aufgezeigt werden, über welche im Einzelnen bezeichneten Punkte (vgl § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 403 bzw § 373 ZPO) und mit welchem Ziel Beweis erhoben werden sollte und dass es sich bei dem Vorbringen seinem Inhalt nach nicht nur um eine Beweisanregung gehandelt hat (vgl zB - juris RdNr 8 mwN). Der Beweisantrag im Rentenverfahren muss sich möglichst präzise mit dem Einfluss dauerhafter Gesundheitsbeeinträchtigungen auf das verbliebene Leistungsvermögen befassen. Im Rahmen eines Rentenverfahrens darf es dabei nicht nur auf eine Diagnosestellung ankommen, es muss vielmehr der negative Einfluss von weiteren, dauerhaften Gesundheitsbeeinträchtigungen auf das verbliebene Leistungsvermögen behauptet und möglichst genau dargetan werden (vgl zB - juris RdNr 7 mwN; - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6). Die Klägerin zeigt nicht auf, derartige Gesundheitsbeeinträchtigungen gegenüber dem LSG beschrieben zu haben, die sich aus einem weiteren Gutachten ergeben können. Wie sich aus ihrem Vorbringen ergibt, hat sie keine Verschlechterung des Gesundheitszustands geltend gemacht. Ungeachtet dessen ist jedenfalls nicht ausreichend dargetan, inwiefern für das LSG zwingende Veranlassung für weitere Sachverhaltsermittlungen bestanden haben könnte.
8Das LSG hat im Berufungsurteil hinsichtlich der orthopädischen Erkrankungen der Klägerin ausgeführt, die von H erhobenen Untersuchungsbefunde würden nur zu gering ausgeprägten Funktionseinschränkungen führen. Diese seien mit den anerkannten qualitativen Einschränkungen angemessen berücksichtigt. Gleiches gelte für die von der Klägerin zuletzt vorgebrachten Einschränkungen (sie könne ua nicht längere Zeit am PC arbeiten; keine längeren handschriftlichen Ausführungen machen oder längere Zeit Gegenstände tragen; keine Drehbewegungen des Handgelenks und keine monotonen Bewegungsabläufe durchführen; nicht längere Zeit sitzen). Es ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine seit der Begutachtung durch H eingetretene Verschlechterung. Im Befundbericht von B2 seine keine wesentlich abweichenden Befunde oder Diagnosen angegeben; danach konnte sogar punktuell eine Beschwerdeverbesserung erreicht werden. Befundberichte über aktuelle fachorthopädische Vorstellungen seien nicht vorgelegt worden. Der Sachverständige S habe weitere Begutachtungen für entbehrlich gehalten und mitgeteilt, es seien keine nennenswerte Bewegungsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, der großen Gelenke oder des Gangbilds erkennbar gewesen. In Bezug auf die seelischen Leiden der Klägerin hat das LSG ausgeführt, S habe die gutachterliche Einschätzung des K ausdrücklich bestätigt. Eine regelmäßige fachpsychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung erfolge nicht. Die Beschwerde zeigt nicht hinreichend auf, dass sich das LSG bei diesem Sachstand zur Einholung eines orthopädischen und eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens hätte gedrängt fühlen müssen.
9a) Die Klägerin bringt in Bezug auf beide Beweisanträge vor, weitere Sachverhaltsermittlungen seien nicht erst dann gerechtfertigt, wenn eine Verschlechterung des Gesundheitszustands nachgewiesen sei. Vielmehr müsse auch unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Gesundheitszustands eine Minderung des quantitativen Leitungsvermögens geprüft werden. Hieraus erschließt sich nicht, aufgrund welcher konkreten Umstände weiterhin klärungsbedürftig gewesen sein könnte, wie sich die orthopädischen Erkrankungen und seelischen Leiden der Klägerin auf ihr Leistungsvermögen auswirken.
10Solche Umstände zeigt die Klägerin auch nicht ausreichend auf, indem sie hervorhebt, sowohl H als auch K hätten ihre Stellungnahmen im Auftrag der Beklagten erstellt. Ärztliche Gutachten aus dem Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren können grundsätzlich als Urkunden iS des § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 415 ff ZPO verwertet werden (grundlegend 9a RV 29/83 - SozR 1500 § 128 Nr 24, S 19; aus jüngerer Zeit zB - juris RdNr 9; - juris RdNr 10 mwN; - juris RdNr 7). Ein Tatsachengericht kann ein solches Verwaltungsgutachten zur alleinigen Entscheidungsgrundlage machen (vgl zB - BSGE 128, 78 = SozR 4-2700 § 200 Nr 5, RdNr 14; - BSGE 131, 10 = SozR 4-4200 § 22 Nr 110, RdNr 24). Dies gilt jedenfalls dann, wenn es bestimmten Mindestanforderungen entspricht ( 9a RV 45/82 - juris RdNr 12; vgl zu den aktuellen wissenschaftlichen Standards AWMF-Leitlinie "Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung", Überarbeitungsstand: 01/2019) und dem Gericht der besondere Beweiswert des Gutachtens bewusst ist (vgl - juris RdNr 6). Ungeachtet der Frage, inwiefern dies im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich gerügt werden kann, macht die Klägerin schon nicht geltend, die gutachterlichen Stellungnahmen von H bzw K hätten nicht dem wissenschaftlichen Standard entsprochen. Ihre Ausführungen, wonach Verwaltungsgutachten grundsätzlich keine ausreichend objektive und neutrale Basis für eine richterliche Entscheidung seien, vermögen konkretes Vorbringen zu den hier vorliegenden gutachtlichen Stellungnahmen nicht zu ersetzen. Ebenso wenig wird von der Klägerin gerügt, das LSG habe in den Entscheidungsgründen nicht ausreichend dargestellt, die Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises zu verwerten (vgl hierzu - juris RdNr 9; - BSGE 128, 78 = SozR 4-2700 § 200 Nr 5, RdNr 14).
11Die Klägerin zeigt auch keinen fortbestehenden Klärungsbedarf auf, indem sie auf das Alter der gutachterlichen Stellungnahmen von H und K abstellt und vorbringt, ein rund zweieinhalb bzw fast zweieinhalb Jahre altes Gutachten sei keine Grundlage für eine gerichtliche Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz. Sie legt nicht hinreichend dar, inwiefern sich dem LSG allein angesichts des Alters der Verwaltungsgutachten weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen, wenn die Klägerin keine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands geltend gemacht hat. Hinsichtlich der damaligen Leistungseinschätzung durch K tritt hinzu, dass der Sachverständige S diese zwei Monate vor dem Berufungsurteil im Wesentlichen bestätigt hat.
12b) Speziell in Bezug auf die beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Fachgebiet bringt die Klägerin vor, erst mit einem von Amts wegen eingeholten Gutachten könne geprüft werden, welche Auswirkungen die in den Befundberichten beschriebenen Gesundheitsstörungen auf ihr quantitatives Leistungsvermögen hätten, zumal die behandelnden Ärzte hierzu nicht befragt worden seien und weder S noch B2 sich zu den für sie fachfremden Leistungseinschränkungen auf orthopädischem Gebiet haben äußern können. Damit wendet sie sich letztlich gegen die Beweiswürdigung durch das LSG. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde jedoch von vornherein nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das Gleiche gilt für das Vorbringen, die Einholung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten sei geboten gewesen, weil das Gutachten des Sachverständigen S nicht ausreichend plausibel sei und Gutachten nach § 109 SGG in der Praxis geringere Bedeutung beigemessen werde.
13c) Soweit die Klägerin ihre bereits im Berufungsverfahren geäußerten Einwände insbesondere gegen das Sachverständigengutachten von S wiederholt, setzt sie sich zudem nicht ausreichend damit auseinander, dass das LSG hierauf eingegangen ist. Es hat im Berufungsurteil ua ausgeführt, die Kritik an der vom Sachverständigen angenommenen Aggravation vermöge vor dem Hintergrund des objektiven Ergebnisses des Beschwerdevalidierungsfragebogens nicht zu überzeugen; dass die Klägerin trotz der nach eigenem Vortrag seit vielen Jahren bestehenden ausgeprägten Beschwerden keine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung begonnen habe, sei auch eingedenk der üblichen längeren Wartezeiten nicht nachvollziehbar.
14Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
152. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG. Düring Körner Hannes
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:170522BB5R2122B0
Fundstelle(n):
KAAAJ-16872