Online-Nachricht - Mittwoch, 25.05.2022

Sozialrecht | Berücksichtigung des wirtschaftlichen Kindererziehungsaufwands (BVerfG)

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat auf die Vorlage eines Sozialgerichts und zwei Verfassungsbeschwerden entschieden, dass § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Sätze 1 und 2 sowie § 57 Abs. 1 Satz 1 SGB XI insoweit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sind, als beitragspflichtige Eltern in der sozialen Pflegeversicherung unabhängig von der Zahl der von ihnen betreuten und erzogenen Kinder mit gleichen Beiträgen belastet werden. Weitergehende Verfassungsbeschwerden wurden zurückgewiesen, soweit sie die Frage der Berücksichtigung der Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung des Beitrags zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur gesetzlichen Krankenversicherung betrafen (, 1 BvR 2824/17, 1 BvR 2257/16, 1 BvR 717/16).

Hintergrund: Seit dem beträgt der Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung 3,05 %. Für Versicherte, die das 23. Lebensjahr vollendet haben und nicht Eltern sind, erhöht sich der Beitragssatz um einen Beitragszuschlag für Kinderlose, den sozialversicherungspflichtig Beschäftigte stets allein tragen (§ 55 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XI). Bis einschließlich betrug dieser unverändert 0,25 Beitragssatzpunkte und wurde mit Wirkung ab dem auf 0,35 Beitragssatzpunkte angehoben.

Der mit Wirkung zum eingeführte Beitragszuschlag für Kinderlose geht zurück auf das sog. Pflegeversicherungsurteil des . Das Bundesverfassungsgericht stellte dort fest, dass es mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen zusätzlichen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Hingegen erfolgt weder im Beitragsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung noch in dem der gesetzlichen Krankenversicherung eine Berücksichtigung der Kindererziehung.

Sachverhalt: Das Vorlageverfahren 1 BvL 3/18 eines Sozialgerichts sowie die Verfassungsbeschwerden in den Verfahren 1 BvR 717/16 und 1 BvR 2257/16 haben zum Gegenstand, ob im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung, das Eltern gegenüber Kinderlosen beitragsrechtlich privilegiert, eine Beitragsdifferenzierung in Abhängigkeit von der Kinderzahl geboten ist. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 2257/16 stellt sich daneben die Frage der Erforderlichkeit einer beitragsrechtlichen Privilegierung der Eltern auch in der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung; letztere Frage ist alleiniger Verfahrensgegenstand der Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 2824/17.

Das BVerfG führt hierzu aus:

  • Im gegenwärtigen System der sozialen Pflegeversicherung werden Eltern mit mehr Kindern gegenüber solchen mit weniger Kindern in spezifischer Weise benachteiligt, weil der mit steigender Kinderzahl anwachsende Erziehungsmehraufwand im geltenden Beitragsrecht keine Berücksichtigung findet. Die gleiche Beitragsbelastung der Eltern unabhängig von der Zahl ihrer Kinder ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum eine Neuregelung zu treffen.

  • Das Beitragsrecht der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung verletzt Art. 3 Abs. 1 GG hingegen nicht dadurch, dass Mitglieder mit Kindern mit einem gleich hohen Versicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Insoweit fehlt es an einer Benachteiligung der Eltern, weil der wirtschaftliche Erziehungsaufwand im System der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung jeweils hinreichend kompensiert wird.

Quelle: BVerfG, Pressemitteilung Nr. 46/2022 vom 25.5.2022 (RD)

Fundstelle(n):
ZAAAI-62366