(Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Verminderte Schuld- und Steuerungsfähigkeit bei hoher BAK)
Gesetze: § 20 StGB, § 21 StGB, § 64 StGB
Instanzenzug: Az: 24 Ks 10/20
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und eine Entscheidung über den Vorwegvollzug von Freiheitsstrafe getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg, im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
21. Die Überprüfung des Schuldspruchs hat Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben.
32. Hingegen ist der Strafausspruch nicht frei von Rechtsfehlern. Die Ablehnung einer zumindest erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB weist Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
4a) Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat eine Blutalkoholkonzentration zwischen 2,05 und 2,3 Promille aufgewiesen habe. Er sei aber bei bestehender Einsichtsfähigkeit in seiner Steuerungsfähigkeit nicht erheblich beeinträchtigt gewesen. Die Strafkammer hat hierzu festgestellt, dass bei dem Angeklagten um 22.27 Uhr ein Atemalkoholtest durchgeführt worden sei, der eine Alkoholisierung von 1,12 mg/Liter ergeben habe. Dies entspreche einer ungefähren Blutalkoholkonzentration von 2,24 Promille. Weiter ist es davon ausgegangen, dass bei einer um 22.30 Uhr entnommenen Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von zwei Promille festgestellt worden sei. Dies ergebe unter Rückrechnung auf den Tatzeitpunkt eine maximale Blutalkoholkonzentration zum Tatzeitpunkt von 2,3 Promille.
5Der vom Landgericht gehörte Sachverständige hat bei einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 2,3 Promille eine krankhafte seelische Störung angenommen, die aber nicht so schwerwiegend gewesen sei, dass von einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden könne. Der Blutalkoholkonzentration komme nur eine geringe indizielle Bedeutung zu. Die Steuerungsfähigkeit lasse sich nicht linear anhand der Blutalkoholkonzentration beurteilen. Insbesondere spiele die Gewöhnung eine große Rolle. Wer - wie der Angeklagte - in seinem Leben häufig in erheblichem Maße Alkohol konsumiere, bei dem sei das Gehirn trainiert, auch unter Alkoholeinfluss zu funktionieren. Eine mögliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sei daher aus fachmedizinischer Sicht anhand von drei Dimensionen zu beurteilen: Vorliegen einer persönlichkeitsfremden Entscheidung, die das Verhalten unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeit nachträglich „bizarr“ erscheinen lasse; qualitativ richtige Wahrnehmung der Umwelt und Reflektion der Wahrnehmung (Vigilanz); punktuelle, impulsive Handlung versus situativ rationale Reaktionen (Rationalität). Gemessen hieran sei eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit auszuschließen. So sei die Entscheidung, die Nebenklägerin angesichts der ausgesprochenen Trennungsabsicht mit dem Messer anzugreifen, nicht als persönlichkeitsfremd zu werten; die Tat sei Ausdruck einer „narzisstischen Enttäuschungswut“. Auch habe der Angeklagte im Rahmen der Tat keine erhebliche Beeinträchtigung der Vigilanz gezeigt. Er habe sich nicht nur spontan zu der Tat hinreißen lassen, sei vielmehr äußerlich ruhig und gezielt in die Küche gelaufen, um dort ein Messer zu holen. Schließlich sei der Tat auch die situative Rationalität nicht abzusprechen. Er habe insbesondere im Rahmen der Tatausführung zielführend gehandelt. Insgesamt sei deshalb lediglich von einer Enthemmung auszugehen.
6Die Strafkammer hat sich den Ausführungen des Sachverständigen nach kritischer Würdigung angeschlossen. Auch für das Landgericht seien keine Umstände erkennbar, die auf eine intoxikationsbedingte erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB schließen ließen. Der Angeklagte habe vielmehr im Rahmen des Tatgeschehens und in seinem Nachtatverhalten gezeigt, dass er zu rationalem, persönlichkeitskongruentem Verhalten aufgrund zutreffender Wahrnehmung seiner Umgebung noch in der Lage gewesen sei. Das Verhalten des Angeklagten sei im Rahmen des mehraktigen Tatgeschehens auf der Grundlage seiner Wahrnehmung der Trennung als Angriff auf sein Ego und Bewahrheitung seiner Verlustängste zielführend und rational gewesen. Dabei habe er adäquat auf Veränderungen der Lage reagiert, auch motorische Beeinträchtigungen habe die Beweisaufnahme nicht ergeben. Dass der Angeklagte durch die Alkoholintoxikation nicht erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei, entspreche zudem auch dem Eindruck der vor Ort eingesetzten Polizeibeamten. Diese seien von dem hohen Wert des Atemalkoholtests überrascht gewesen. Dem Verhalten des Angeklagten sei eine Beeinträchtigung, wie sie regelmäßig mit einer so hohen Alkoholisierung einhergehe, nicht zu entnehmen gewesen.
7b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.
8aa) Eine maximale Blutalkoholkonzentration von wie hier 2,3 Promille gibt dem Tatrichter Anlass, mit Blick auf die damit verbundene Alkoholintoxikation das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung und einer damit einhergehenden erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zu prüfen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss (BGHSt 43, 66, 72 f.; 57, 247, 250), ist der im Einzelfall festzustellende Wert doch immerhin ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, ist dementsprechend eine Gesamtwürdigung, in die sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen sind. Dabei sind allerdings nur solche Umstände zu berücksichtigen, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei der Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht (BGH NStZ-RR 1998, 107; NJW 2015, 3525, 3526; NStZ-RR 2016, 103, 104).
9bb) Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen der Strafkammer nicht.
10Als rechtsfehlerhaft erweist es sich schon, dass das Landgericht der Blutalkoholkonzentration nur eine geringe indizielle Bedeutung bei der Prüfung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von §§ 20, 21 StGB beigemessen hat. Die Blutalkoholkonzentration ist demgegenüber ein gewichtiges Beweisanzeichen, gibt der Blutalkoholgehalt doch immerhin die wirksam vom Körper aufgenommene Alkoholmenge an (vgl. Senat, NStZ-RR 2016, 103, 104). Die Wertung des Landgerichts lässt deshalb besorgen, dass es die festgestellte Blutalkoholkonzentration nicht mit dem erforderlichen Gewicht in ihre Erwägungen eingestellt hat.
11Auch die weiteren Erwägungen des Landgerichts, die sich im Wesentlichen auf die Erörterung vom Sachverständigen genannter fachmedizinischer Gesichtspunkte beschränken, erweisen sich als rechtlich durchgreifend bedenklich. Ihnen kommt auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wenn überhaupt, nur eine begrenzte Aussagekraft für die Frage zu, ob das Hemmungsvermögen des Täters erheblich beeinträchtigt ist. Infolgedessen erweist sich die notwendig anzustellende Gesamtwürdigung von Blutalkoholkonzentration und psychodiagnostischen Leistungskriterien als lückenhaft. Die Strafkammer hat eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen, weil Tatausführung und Tatnachverhalten gezeigt haben, dass er zu rationalem, persönlichkeitskongruentem Verhalten aufgrund zutreffender Wahrnehmung seiner Umgebung noch in der Lage gewesen sei. Diese zusammenfassende, auf die Ausführungen des Sachverständigen zurückgehende Würdigung lässt schon nicht erkennen, inwiefern sich dies im Einzelnen auf das Hemmungsvermögen des Angeklagten ausgewirkt hat. Mögen „bizarre“ Verhaltensweisen außerhalb des üblichen Verhaltens Anhaltspunkte für die Annahme bieten, dass insoweit das Hemmungsvermögen erheblich beeinträchtigt war, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass eine solche Beeinträchtigung lediglich bei persönlichkeitsfremdem Tun in Betracht kommt. Ginge man wie der Sachverständige davon aus, dass der Angriff auf die Nebenklägerin mit dem Messer nicht als persönlichkeitsfremd zu werten wäre, heißt dies damit noch nicht, dass konstellative Faktoren wie etwa ein übermäßiger Alkoholkonsum auf diese mögliche Verhaltensweise aus dem Handlungsspektrum des Angeklagten in jedem Fall ohne Einfluss bleiben. Rationales, zielführendes Verhalten schließt eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit auch bei hoher Blutalkoholkonzentration nicht aus. Aus planvollem oder situationsgerechtem Vorgehen allein, das lediglich die Verwirklichung des Tatvorsatzes darstellt, lassen sich regelmäßig keine tragfähigen Schlüsse in Bezug auf die Steuerungsfähigkeit des Täters ziehen (BGH NJW 2015, 3525, 3526; s. auch Fischer, StGB, 68. Aufl., § 20 Rn. 25). Offensichtliche Ausfallerscheinungen wie etwa auch Bewusstseinseinschränkungen oder kognitive Wahrnehmungsstörungen können zwar grundsätzlich gegen eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sprechen, sind aber keine zwingenden oder auch nur regelmäßigen Begleiterscheinungen einer die Grenze zur erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit überschreitenden Alkoholisierung, weshalb auch aus ihrem Fehlen allein noch nicht auf vollständig erhaltene Schuldfähigkeit geschlossen werden kann (vgl. Fischer aaO Rn. 23 mwN). Zudem ist bei - wie hier - alkoholgewöhnten Tätern zu berücksichtigen, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinanderfallen können (vgl. BGH NStZ 2007, 696; NStZ 2015, 634; NJW 2015, 3525, 3526) und sich gerade bei Alkoholikern oft eine durch "Übung" erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten zeigt (BGH StV 2012, 281; NJW 2015, 3525; StV 2019, 237).
12cc) Mit Blick auf die dargelegten Würdigungsmängel kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht bei ordnungsgemäßer Abwägung zur Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB gelangt und aufgrund dessen eine mildere Strafe verhängt hätte. Der Strafausspruch ist deshalb aufzuheben, ohne dass es noch darauf ankommt, dass mit Blick auf § 46 Abs. 3 StGB auch die ausdrückliche Berücksichtigung der überragenden Bedeutung des Rechtsguts „Leben“ jedenfalls im Rahmen der konkreten Strafzumessung rechtlich nicht unbedenklich ist (vgl. Schäfer/Sander/von Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. Rn. 703 mwN). Dies entzieht der Anordnung des Vorwegvollzugs von Freiheitsstrafe die Grundlage.
13dd) Die Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung, zweckmäßigerweise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen. Im Übrigen schließt der Senat angesichts des festgestellten Leistungsbildes aus, dass der Angeklagte im Zustand aufgehobener Steuerungsfähigkeit gehandelt hat.
143. Auch der Maßregelausspruch ist nicht frei von Rechtsfehlern.
15Das Landgericht ist zwar nachvollziehbar davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten ein Hang vorliege, berauschende Mittel - hier Alkohol - zu sich zu nehmen. Es hat allerdings nicht hinreichend belegt, dass zwischen der festgestellten Alkoholabhängigkeit des Angeklagten und der begangenen Tat auch ein symptomatischer Zusammenhang besteht. Soweit die Strafkammer in diesem Zusammenhang anführt, es sei festzuhalten, dass Gewalttaten des Angeklagten in nüchternem Zustand zu keinem Zeitpunkt bekannt geworden seien, ergibt sich daraus nichts für die zu prüfende Frage, ob die Tat auf den konkret festgestellten Konsum zurückgeht. Zwar hat die Strafkammer im Zusammenhang mit der Erörterung zur Schuldfähigkeit eine Blutalkoholkonzentration von 2,3 Promille festgestellt, dies aber dort als unbeachtlich angesehen, weil der Angeklagte im Rahmen des mehraktigen Tatgeschehens auf der Grundlage seiner Wahrnehmung der Trennung als Angriff auf sein Ego und Bewahrheitung seiner Verlustängste zielführend und rational gehandelt habe. Dies ist - auch wenn es grundsätzlich ausreicht, dass der Hang für die Tatbegehung mitursächlich geworden ist - nicht ohne Weiteres mit der Annahme eines symptomatischen Zusammenhangs in Einklang zu bringen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei die Annahme eines Zusammenhangs mit einem Hang zum Missbrauch berauschender Mittel grundsätzlich wenig naheliegt (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 72, 74). Die Sache bedarf deshalb auch insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:220621B2STR168.21.0
Fundstelle(n):
VAAAI-61459