(Verstoß der richterrechtlich entwickelten Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung gegen Art. 103 Abs. 2 GG)
Gesetze: § 1 StGB, § 242 StGB, § 259 StGB, Art 103 Abs 2 GG, § 132 Abs 3 GVG
Instanzenzug: nachgehend Az: GSSt 1/17 Beschlussnachgehend Az: 2 StR 495/12 Urteil
Gründe
1Der 2. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:
„1. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig."
2Er hat gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei den übrigen Strafsenaten angefragt, ob sie der beabsichtigten Entscheidung zustimmen und entgegenstehende Rechtsprechung aufgeben.
3Der beabsichtigten Entscheidung des 2. Strafsenats steht Rechtsprechung des 4. Strafsenats entgegen (Beschluss vom - 4 StR 623/07, NJW 2008, 1394, 1395; Urteile vom - 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182; vom - 4 StR 73/57, BGHSt 11, 26, 28 und vom - 4 StR 533/51, BGHSt 1, 302, 304; sowie - hinsichtlich der Zulässigkeit der Wahlfeststellung nicht tragend - Urteile vom - 4 StR 242/13, NStZ 2014, 172; vom - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 153; Beschluss vom - 4 StR 92/10, NStZ 2010, 698). Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest.
I.
4Die Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB.
51. Art. 103 Abs. 2 GG enthält - neben dem hier nicht zu erörternden Rückwirkungsverbot - die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände sowie die Rechtsfolgen eines Verstoßes zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 126, 170, 194; 105, 135, 153 f.; 78, 374, 382; 75, 329, 340 f.; st. Rspr.). Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Es geht einerseits um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Andererseits soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der rechtsprechenden Gewalt verbietet, Straftatbestände oder Strafen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung - etwa durch die Bildung von Analogien oder die Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen - zu begründen oder zu verschärfen (vgl. BVerfGE 130, 1, 43; 126, 170, 197; 71, 108, 115).
62. Die Wahlfeststellung berührt keine dieser Garantien.
7a) Der Umstand, dass bei einer Verurteilung auf der Grundlage einer sog. echten Wahlfeststellung nicht feststeht, welcher der alternativ in Betracht kommenden Straftatbestände verletzt worden ist, ändert nichts daran, dass die maßgeblichen strafbewehrten Verbote für den Normadressaten in Tragweite und Anwendungsbereich erkennbar waren. Das Gesetz verbietet zwei Verhaltensweisen, im Ausgangsfall die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache (§ 242 StGB) und das Sichverschaffen einer Sache, die ein anderer gestohlen hat (§ 259 StGB). Für den Normadressaten ergibt sich deshalb keine Ungewissheit darüber, ob sein Verhalten strafbar ist oder nicht.
8b) Da ein Angeklagter im Fall einer echten Wahlfeststellung nur verurteilt werden darf, wenn die nach der Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten alternativ in Betracht kommenden Sachverhalte jeweils einen (anderen) Straftatbestand vollständig erfüllen und andere Sachverhaltsalternativen sicher ausscheiden (vgl. , NStZ 2014, 42; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 127 mwN), bleibt auch gewährleistet, dass nur der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet (KMR/Stuckenberg, StPO, § 261 Rn. 149 [Stand: August 2013]; NK-StGB/Frister, 4. Aufl., Nachbemerkungen zu § 2 Rn. 77; SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 261 Rn. 103; Lackner/ Kühl, StGB, 28. Aufl., § 1 Rn. 9; von Heintschel-Heinegg, StGB, 2010, § 1 Rn. 43; anders ders. in BeckOK StGB, § 1 Rn. 43; Baumann/Weber/Mitsch, AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 36; Wolter, GA 2013, 271, 274; Schuhr, NStZ 2014, 437; Nüse, GA 1953, 33, 38).
9c) Es liegt auch kein Verstoß gegen das Analogieverbot oder das Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen vor. Der Angeklagte wird nicht wegen des Verstoßes gegen einen aus den in Betracht kommenden Tatbeständen gebildeten außergesetzlichen Gesamttatbestand verurteilt, sondern wegen des Verstoßes gegen einen der in der Urteilsformel angeführten und mit dem Junktor „oder" verknüpften gesetzlich bestimmten Einzelstraftatbestände (vgl. Wolter, GA 2013, 271, 276; Joerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, S. 119 f.; Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrele-vanter Tatsachenzweifel, 1976, S. 167 f.; aA Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 264 ff.; Freund, FS Wolter, 2013, S. 35, 40, 46 ff.; Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozeßrecht, 1976, S. 117). Da bei einer ungleichartigen Wahlfeststellung in Bezug auf jede Sachverhaltsalternative sämtliche Voraussetzungen des jeweils in Betracht kommenden Delikts verwirklicht sein müssen, kommt es auch nicht zu einer „Verschleifung" oder „Entgrenzung" von selbstständigen Tatbestandsmerkmalen oder Tatbeständen (vgl. BVerfGE 126, 170, 211 mwN). Den in Betracht kommenden Strafvorschriften wird durch die Wahlfeststellung inhaltlich weder etwas hinzugefügt noch wird eine einschränkende Voraussetzung der Strafbarkeit außer Acht gelassen (Schuhr, NStZ 2014, 437, 438).
10Zu der Frage, ob eine Verurteilung eindeutig sein muss oder mehrdeutig sein darf, treffen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB keine Aussage (KMR/ Stuckenberg, StPO, § 261 Rn. 149 [Stand: August 2013]; Wolter, GA 2013, 271, 277 f.; NK-StGB/Frister, aaO, Nachbemerkungen zu § 2 Rn. 77 sowie StV 2014, 584, 585).
11d) Soweit der Bestimmtheitsgrundsatz neben den Anforderungen an die Voraussetzungen der Strafbarkeit auch verlangt, dass die mögliche Strafe in einem Gesetz hinreichend bestimmt geregelt sein muss, gerät die Wahlfeststellung auch insoweit nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt. Wie bereits das Reichsgericht ausgeführt hat, ist bei der gebotenen Ermittlung des mildesten Gesetzes nicht ein abstrakter Strafrahmenvergleich vorzunehmen, sondern der Tatrichter hat auf der Grundlage der jeweiligen Sachverhaltsalternativen jeweils zu erörtern, welche Strafe er für angemessen gehalten hätte, wenn zweifelsfrei die eine oder die andere Handlung nachgewiesen wäre (RGSt 69, 369, 374).
12e) Dementsprechend hat auch das Reichsgericht, das die Wahlfeststellung nur in engen Grenzen für zulässig erachtet hat, seine restriktive Haltung nicht mit einem Verstoß gegen das auch zum Zeitpunkt seiner Entscheidungen geltende Bestimmtheitsgebot (§ 2 Satz 1 RStGB) begründet (vgl. RGSt 68, 257; 57, 174; 56, 35 f.; 55, 228; 55, 44; 53, 231; 23, 47; 11, 103 f.). Gleiches gilt für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. , BGHSt 9, 390; Urteile vom - 4 StR 377/52, BGHSt 4, 128; vom - 1 StR 353/51, BGHSt 1, 327; und vom - 3 StR 165/51, BGHSt 1, 127). Soweit ersichtlich, wird vom Reichsgericht lediglich in der Entscheidung vom 1. Juli 1869 (RGSt 22, 213, 216) der „Grundsatz nullum crimen sine lege" auch nur erwähnt.
133. Da somit die Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG durch die Wahlfeststellung nicht berührt werden, kann letztlich dahinstehen, ob es sich bei den Grundsätzen der Wahlfeststellung um eine prozessuale Entscheidungsregel (als Ausnahme zu dem Grundsatz in dubio pro reo) handelt, auf die Art. 103 Abs. 2 GG schon grundsätzlich keine Anwendung findet.
II.
14Eine Verurteilung aufgrund wahldeutiger Tatsachengrundlage ist - sofern die alternativ in Betracht kommenden Tatbestände rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind - auch im Übrigen unbedenklich.
15Der Umstand, dass dem Verurteilten bei einer mehrdeutigen Verurteilung in der Urteilsformel immer auch die Erfüllung eines Tatbestandes als möglich angelastet wird, den er tatsächlich nicht verwirklicht hat (vgl. RG - Vereinigte Strafsenate -, Beschluss vom - 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 261; , BGHSt 1, 327, 328; Günther, aaO, S. 112 ff., 185), führt nicht zu deren Unzulässigkeit. Da nach den bisher geltenden Grundsätzen zur ungleichartigen Wahlfeststellung eine solche Verurteilung nur erfolgen kann, wenn den mehreren möglicherweise verwirklichten Delikten im allgemeinen Rechtsempfinden eine gleiche oder zumindest ähnliche rechtsethische Bewertung zukommt und eine vergleichbare psychologische Beziehung des Täters zu den mehreren in Frage kommenden Sachverhalten besteht (vgl. , BGHSt 9, 391, 394; Urteil vom - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 153), wird die mit der alternativen Aufzählung mehrerer Delikte in der Urteilsformel verbundene Belastung für den Verurteilten auf ein Maß begrenzt, das zur Vermeidung lebensfremder und der Gerechtigkeit widersprechender Ergebnisse (Freispruch trotz zweifelsfreier Strafbarkeit) hinnehmbar ist (vgl. Günther, aaO, S. 113).
III.
16Der Zulässigkeit der Wahlfeststellung steht im zugrundeliegenden Fall schließlich auch nicht entgegen, dass eine Verurteilung wegen eines dritten Tatbestandes möglich gewesen wäre, nämlich wegen des formell subsidiären Auffangtatbestands der Unterschlagung gemäß § 246 StGB (vgl. Wolter, Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, S. 91; Frister, StV 2014, 584, 586).
17Zwar hat die Möglichkeit einer eindeutigen Verurteilung wegen eines milderen Gesetzes grundsätzlich Vorrang vor der Anwendung der Grundsätze über die Wahlfeststellung (vgl. , BGHSt 36, 262, 268; vom - 1 StR 21/93, BGHSt 39, 164, 166 f.). Von diesem Grundsatz ist aber dann eine Ausnahme anzuerkennen, wenn - wie im Ausgangsfall - feststeht, dass der Täter in jeder der möglichen Sachverhaltsalternativen über den feststehenden subsidiären Tatbestand hinaus entweder das eine oder das andere schwerer wiegende und konkurrenzdominante Delikt verwirklicht hat (vgl. , BGHSt 5, 280, 281; Urteil vom - 2 StR 249/84, NStZ 1984, 506: Wahlfeststellung zwischen [versuchtem] Raub und [versuchter] räuberischer Erpressung - ungeachtet der in jedem Fall verwirklichten [versuchten] Nötigung; vgl. auch Wolter, Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, S. 87, 90 f.). Andernfalls würde der in jeder Alternative feststehende höhere Schuldgehalt der Tat durch die Verurteilung wegen des subsidiären Delikts nicht ausgeschöpft (KMR/Stuckenberg, StPO, § 261 Rn. 139 [Stand: August 2013]; Wolter, aaO, S. 91).
Sost-Scheible Cierniak Franke
Bender Quentin
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HAAAI-01657