BGH Beschluss v. - IX ZB 41/20

Zustellung einer Hinweisverfügung über eine beabsichtigte Berufungsverwerfung: Widerlegung der Richtigkeit des in dem anwaltlichen Empfangsbekenntnis angegebenen Zustellungsdatums

Leitsatz

Für die Widerlegung der Richtigkeit des in einem anwaltlichen Empfangsbekenntnis angegebenen Zustellungsdatums genügt das Verstreichen eines ungewöhnlich langen Zeitraums zwischen der gerichtlichen Verfügung und diesem Datum nicht.

Gesetze: § 174 Abs 4 S 1 ZPO, § 286 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: LG Rottweil Az: 1 S 130/19vorgehend AG Rottweil Az: 2 C 244/19

Gründe

I.

1Das Landgericht hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Rottweil vom mit Beschluss vom als unzulässig verworfen. Die vorab per Fax übermittelte Berufungsbegründung des Klägers sei erst nach Ablauf der bis zum verlängerten Frist beim Landgericht eingegangen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde.

2Vor Erlass des angefochtenen Beschlusses hat das Berufungsgericht dem Kläger mit Verfügung vom Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Verwerfung mit Fristsetzung bis zum geben wollen. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses des Klägers ist ihm die Verfügung des Gerichts jedoch erst am zugegangen.

3Der Kläger hat unter Bezugnahme auf einen Aktenvermerk des zuständigen Justizbeamten unter anderem geltend gemacht, dass zum Zeitpunkt der Übermittlung der Berufungsbegründung die Uhr des Faxgeräts des Berufungsgerichts fehlerhaft noch auf Sommerzeit eingestellt gewesen sei. Unter Zugrundelegung der richtigen Winterzeit sei seine Berufungsbegründung noch am vor 24.00 Uhr und somit fristgemäß eingegangen.

II.

41. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).

52. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat den Kläger vor seiner Entscheidung nicht auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung sowie seine Absicht, die Berufung zu verwerfen, hingewiesen und damit das Verfahrensrecht des Antragstellers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

6a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwerfung einer Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist dem Berufungskläger rechtliches Gehör zu gewähren (, NJW 1994, 392; vom - XII ZB 162/06, NJW-RR 2008, 78 Rn. 6; vom - XII ZB 168/08, NJW-RR 2010, 1075 Rn. 7; vom - VIII ZB 25/12, NJW-RR 2013, 255 Rn. 5; vom - XII ZB 107/17, MDR 2018, 296 Rn. 6; vgl. auch Musielak/Voit/Ball, ZPO, 18. Aufl., § 522 Rn. 4; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl., § 522 Rn. 4; Zöller/Heßler, ZPO, 33. Aufl., § 522 Rn. 6, 13). Diese Pflicht wird - da eine ausdrückliche Normierung wie beispielsweise in § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO fehlt - unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitet. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. aaO; vom , aaO; vom , aaO Rn. 7).

7b) Der von dem Berufungsgericht erteilte Hinweis ist dem Kläger vor der Entscheidung nicht zugegangen.

8aa) In der Verfahrensakte befindet sich eine Verfügung des Kammervorsitzenden vom , mit der die Parteien auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und die Absicht des Gerichts, die Berufung deshalb als unzulässig zu verwerfen, unter Fristsetzung hingewiesen werden sollten. Diese Verfügung ist ausweislich der Verfahrensakte auch noch an diesem Tag von der Geschäftsstelle ausgefertigt und die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis veranlasst worden. Der Kläger hat jedoch mit dem von ihm unterschriebenen, erst am wieder bei Gericht eingegangenen, Empfangsbekenntnis einen Zugang am und damit zeitlich nach Erlass der angefochtenen Entscheidung am bestätigt. Das Berufungsgericht hat es somit versäumt, sich vor Erlass des Verwerfungsbeschlusses von dem rechtzeitigen Zugang der Hinweisverfügung beim Kläger zu überzeugen (vgl. zu dieser Verpflichtung BVerfG, NJW 2019, 1433 Rn. 17).

9bb) An diesem Umstand ändert es entgegen der Rechtsbeschwerdeerwiderung nichts, dass zwischen der Verfügung des Vorsitzenden und der Zustellung dieser Verfügung an den Kläger ein ungewöhnlich langer Zeitraum vergangen und zudem die gleichzeitig veranlasste Zustellung an die Beklagte bereits am bewirkt worden ist.

10Das Empfangsbekenntnis beweist gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO und der darin enthaltenen gesetzlichen Beweisregel (§ 286 Abs. 2 ZPO) das in ihm angegebene Zustellungsdatum (, NJW 1990, 2125; vom - VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722, 2723; Beschluss vom - IX ZB 303/11, ZInsO 2012, 1088 Rn. 6). Dadurch ist der Beweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt erreicht hat, allerdings nicht ausgeschlossen. Nicht ausreichend ist aber eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im Empfangsbekenntnis. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, mit anderen Worten jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden ( aaO; vom , aaO; Beschluss vom , aaO; vgl. auch BVerfG, NJW 2001, 1563).

11Für Letzteres genügt ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen Verfügung und Zustellung noch nicht. Das gilt hier umso mehr, als der Kläger darauf verwiesen hat, dass es immer wieder vorkomme, dass für sein Postfach vorgesehene Schriftstücke in die Fächer anderer Rechtsanwälte eingelegt würden und umgekehrt. Dafür hat er auch Belege zu den Akten gereicht.

12c) Der angefochtene Beschluss beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Hätte der Kläger vor der Entscheidung des Berufungsgerichts Gelegenheit zur Äußerung zu dem vermeintlich verspäteten Eingang seiner Berufungsbegründung gehabt, hätte er insbesondere auf die falsche Einstellung der Uhr des gerichtlichen Faxgerätes und den dazu gefertigten Aktenvermerk des zuständigen Beamten vom verweisen können. Das Berufungsgericht hätte dann Gelegenheit gehabt, diesem Vorbringen nachzugehen und dessen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass es sich in diesem Fall von dem rechtzeitigen Eingang der Berufungsbegründung überzeugt hätte.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:071021BIXZB41.20.0

Fundstelle(n):
BB 2021 S. 2689 Nr. 46
NJW-RR 2021 S. 1584 Nr. 23
WM 2022 S. 1039 Nr. 21
WAAAH-94158