BSG Beschluss v. - B 4 AS 76/21 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Revisionszulassung - Verfahrensfehler - Prozessentscheidung wegen unwirksamer Berufungseinlegung - Nichtvorlage einer aktuellen Vollmachtsurkunde durch den Rechtsanwalt - berechtigte ernsthafte Zweifel an der Bevollmächtigung

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 73 Abs 6 S 1 SGG, § 73 Abs 6 S 2 SGG, § 73 Abs 6 S 4 SGG, § 73 Abs 6 S 5 SGG

Instanzenzug: Az: S 16 AS 1341/17 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 15 AS 123/19 Urteil

Gründe

1I. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, ein Rechtsanwalt, hat Berufung gegen einen klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG eingelegt. Die Berichterstatterin des Berufungssenats hat den Prozessbevollmächtigten wiederholt auf Zweifel des Senats am Vorliegen einer wirksamen Bevollmächtigung hingewiesen und - zuletzt unter Setzung einer Frist bis zum - zur Vorlage einer aktuellen Prozessvollmacht aufgefordert. Der Prozessbevollmächtigte hat eine aktuelle Vollmacht daraufhin nicht vorgelegt, sondern vorgetragen, dass die vor Erhebung der Klage ausgestellte und auch im Berufungsverfahren vorgelegte Generalvollmacht der Klägerin vom , die sich nicht auf ein bestimmtes Verfahren bezog, weiterhin gültig sei.

2Das LSG hat die Berufung anschließend als unzulässig verworfen (Urteil vom ). Mangels Vorlage der angeforderten aktuellen Vollmacht fehle es an einer wirksam eingelegten Berufung.

3Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Prozessbevollmächtigte im Namen der Klägerin eine Verletzung des § 73 Abs 6 Satz 5 SGG und des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG). Die Vollmacht vom sei nicht widerrufen worden. Das LSG hätte auch keine größere Anzahl von Verfahren benennen können, bei denen er Verfahren geführt habe, obwohl das Mandat bereits beendet gewesen sei. Das LSG habe nur acht Verfahren bzw sechs verschiedene Personen/Bedarfsgemeinschaften benannt, von denen keines einen Bezug zur hiesigen Klägerin habe, obwohl er selbst mehrere tausend Verfahren vor dem SG und dem LSG geführt habe. Die angeblich fehlende Kenntnis der Mandanten von einzelnen Verfahren sei nicht mit einer weiteren Tätigkeit nach ausdrücklicher Beendigung des Mandats gleichzustellen.

4II. 1. Die Beschwerde ist unbegründet. Der von der Klägerin allein geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Prozessentscheidung statt einer Sachentscheidung wegen unwirksamer Berufungseinlegung mangels Vorlage einer aktuellen Vollmachtsurkunde liegt nicht vor.

5a) Gemäß § 73 Abs 6 Satz 1 SGG ist die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten einzureichen. Sie kann nachgereicht werden; hierfür kann das Gericht eine Frist bestimmen (§ 73 Abs 6 Satz 2 SGG). Der Mangel der Vollmacht kann in jeder Lage des Verfahrens geltend gemacht werden (§ 73 Abs 6 Satz 4 SGG). Das Gericht hat den Mangel der Vollmacht von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt (§ 73 Abs 6 Satz 5 SGG). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet ist (vgl aber auch - juris RdNr 9; - juris RdNr 7), den Mangel der Vollmacht von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt. Mit dem Wegfall der Pflicht, den Mangel der Vollmacht in einer solchen Konstellation von Amts wegen zu berücksichtigen, ist jedoch nicht zugleich die Befugnis, den Mangel unabhängig von einer Rüge anderer Beteiligter zu prüfen und zu berücksichtigen, entfallen ( - juris RdNr 16 zu § 67 Abs 6 VwGO; Schneider in Gärditz, VwGO, 2. Aufl 2018, § 67 RdNr 17; vgl auch Schenk in Schoch/Schneider, VwGO, § 67 RdNr 101, Stand Juni 2016). Dies gilt umso mehr als § 73 Abs 6 Satz 4 SGG das Recht, den Mangel der Vollmacht in jeder Lage des Verfahrens geltend zu machen, anders als § 88 Abs 1 ZPO - an den die Norm angeglichen werden sollte (vgl die Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucks 16/3655, S 33, 90, 96) - nicht auf den Gegner beschränkt. Das Gericht ist daher jedenfalls dann im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens ( - juris RdNr 5 zu § 62 Abs 6 Satz 4 FGO; Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, § 73 RdNr 136, Stand ) zumindest berechtigt (für eine Verpflichtung in diesem Fall: - juris RdNr 9; - juris RdNr 7), die Vorlage der Vollmacht auch ohne Rüge der Gegenseite unter Fristsetzung zu verlangen, wenn ernstliche Zweifel an der Bevollmächtigung bestehen (zuletzt - juris RdNr 4 mwN; zu der dem § 73 Abs 6 Satz 5 SGG gleichlautenden Parallelvorschrift § 88 Abs 2 ZPO: - juris RdNr 11).

6Zweifel am Fortbestand der einem Rechtsanwalt früher erteilten Generalvollmacht können etwa dann bestehen, wenn feststeht, dass der Rechtsanwalt in einer größeren Zahl von Fällen unter Rückgriff auf solche Generalvollmachten Rechtsbehelfe oder -mittel eingelegt hat, obwohl das Mandatsverhältnis von den Mandanten bereits beendet worden war ( - SozR 4-1500 § 73 Nr 10 RdNr 13; - juris RdNr 12; - juris RdNr 11). Es bedarf dabei keines Belegs, dass eine einmal erteilte Vollmacht ausdrücklich widerrufen worden ist. Ausreichend sind Zweifel, ob die Vollmacht mittlerweile im Innenverhältnis erloschen ist. Solche Zweifel können sich auch aus dem Verhalten des Rechtsanwaltes in früheren Verfahren unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles, zu denen auch die zeitliche Dimension gehört, ergeben. Das dem Gericht obliegende pflichtgemäße Ermessen ( - juris RdNr 5 zu § 62 Abs 6 Satz 4 FGO; Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, § 73 RdNr 136, Stand ) ist vom BSG nur auf sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen hin zu überprüfen (so zum pflichtgemäßen Ermessen vor einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG stRspr; etwa - juris RdNr 4 mwN; BH - juris RdNr 5; - juris RdNr 9).

7Diese Voraussetzungen für die Anforderung einer aktuellen Vollmachtsurkunde lagen hier vor, ohne dass es auf die Rüge der mangelnden Vollmacht durch den Beklagten mit Schriftsatz vom ankommt. Das LSG hat plausible Gründe dafür angeführt, warum es ernstliche Zweifel am Vorliegen einer Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten für das Berufungsverfahren hatte (vgl - juris RdNr 4). Das LSG hat allein drei beim dort erkennenden Senat anhängig gewesene Verfahren (L 15 AS 233/19, L 15 AS 234/19 und L 15 AS 253/19) benannt, in denen der Prozessbevollmächtigte der Klägerin des vorliegenden Verfahrens das Verfahren ohne Kenntnis der dortigen Kläger betrieben habe. Dies galt nach Darstellung des LSG hinsichtlich der Klägerin in den Verfahren L 15 AS 233/19 und L 15 AS 234/19 auch für weitere beim SG Bremen anhängige Verfahren sowie für eine weitere Klägerin hinsichtlich des Verfahrens S 44 AS 218/17 beim SG Lüneburg. Das LSG hat zwei weitere Verfahren beim SG Bremen (S 16 AS 1815/17 und S 42 AS 410/17) benannt, in denen der Prozessbevollmächtigte Verfahren ehemaliger Mandanten (fort)geführt habe, von denen er ursprünglich beauftragt worden sei, obwohl diese inzwischen von einem anderen Prozessbevollmächtigten vertreten worden oder unbekannt verzogen gewesen seien. Darüber hinaus hat das LSG auf die vom hier tätigen Prozessbevollmächtigten in anderen Verfahren geäußerte (und isoliert betrachtet zutreffende) Ansicht hingewiesen, dass es kein Handeln ohne Vollmacht darstelle, wenn er bei Vorliegen einer Generalvollmacht ohne Kenntnis des Mandanten Klage erhebe. Schließlich hat das LSG dargelegt, dass die Klägerin des vorliegenden Verfahrens zum Zeitpunkt der Klageerhebung nicht mehr unter der vom Prozessbevollmächtigten in der Klageschrift mitgeteilten Anschrift wohnhaft gewesen sei. Dass diese Anhaltspunkte für Zweifel des LSG am Bestehen einer wirksamen Vollmacht für das vorliegende Berufungsverfahren von vorneherein untauglich gewesen wären, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Entgegen der Auffassung der Beschwerde muss das Gericht bei Zweifeln am Vorliegen einer Vollmacht aufgrund von in anderen Verfahren zu Tage getretenen Umständen nicht die dortigen Umstände näher aufklären. Vielmehr dient gerade und allein die Aufforderung, für das zu entscheidende Verfahren eine aktuelle Vollmachtsurkunde vorzulegen, der Verifizierung oder Falsifizierung der Zweifel. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten kommt es auch nicht auf den Anteil der Zweifel verursachenden Verfahren an der Gesamtzahl der von ihm betriebenen Rechtsstreitigkeiten an. Ausreichend ist eine - hier vorliegende - größere, weil über den Einzelfall hinausgehende Anzahl, die den Schluss zulässt, dass es sich nicht um Büroversehen (vgl - SozR 4-1500 § 73 Nr 10 RdNr 13; - juris RdNr 12; - juris RdNr 11; - juris RdNr 5) oder ähnliche Umstände handelt.

8b) Zugleich liegt keine Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art 19 Abs 4 Satz 1 GG vor. Es ist insbesondere nicht zu beanstanden, wenn ein Gericht eine auf das jeweils konkrete Verfahren bezogene Bevollmächtigung verlangt (zum Verfassungsprozessrecht - BVerfGE 152, 1 [5 f, RdNr 19]). Art 19 Abs 4 Satz 1 GG steht Anforderungen an den Rechtsschutzsuchenden nur entgegen, wenn sie für diesen unzumutbar sind und der Zugang zum Gericht in durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (stRspr; vgl etwa - BVerfGE 134, 106 [117 f, RdNr 34] mwN; - BVerfGE 151, 173 [184, RdNr 27]; - SozR 4-1500 § 144 Nr 10 RdNr 23). Dies ist bei der Aufforderung, eine aktuelle Vollmachtsurkunde vorzulegen, nicht der Fall. Dass es dem Prozessbevollmächtigten nicht zumutbar gewesen wäre, nach der ersten oder zweiten Aufforderung des LSG eine aktuelle Vollmachtsurkunde vorzulegen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

9c) Eine Prozesshandlung, die ohne wirksame Prozessvollmacht vorgenommen und auch nicht wirksam genehmigt wird, ist unwirksam. Ein ohne Vollmacht eingelegtes Rechtsmittel ist als unzulässig zu verwerfen (vgl - SozR 3-1500 § 73 Nr 9 S 23 f - juris RdNr 16; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 73 RdNr 66; zum Zivilprozessrecht - juris RdNr 16 mwN). Die vorgelegte Generalvollmacht vom reichte angesichts der Aufforderung des LSG, eine aktuelle Vollmachtsurkunde vorzulegen, nicht aus. Entsprechend hat das LSG die Berufung zu Recht als unzulässig verworfen, nachdem der Prozessbevollmächtigte weder innerhalb der gesetzten Frist noch bis zur Entscheidung des LSG eine aktuelle Vollmachtsurkunde zu den Akten gereicht hat. Auf diese Rechtsfolge hatte das LSG den Prozessbevollmächtigten auch zuvor zutreffend hingewiesen.

102. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2021:120521BB4AS7621B0

Fundstelle(n):
DAAAH-86569