BSG Beschluss v. - B 14 AS 349/19 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Verwehrung der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung - Ablehnung eines Antrags auf Terminsaufhebung - Anforderungen an die Geltendmachung eines Aufhebungsgrundes - Beruhenkönnen der angefochtenen Entscheidung auf dem Verfahrensmangel

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, § 294 Abs 1 ZPO

Instanzenzug: Az: S 6 AS 2206/16 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 7 AS 82/17 Urteil

Gründe

1I. Streitig ist die Versagung von Alg II (Bescheid vom idF des Widerspruchsbescheids vom ). Klage und Berufung ( für den Zeitraum Oktober 2015 bis April 2016) hatten keinen Erfolg.

2Im Berufungsverfahren hatte der Senatsvorsitzende eine mündliche Verhandlung für den anberaumt. Schon wegen dieses Termins hatte die Klägerin verschiedene Atteste ihrer Hausärztin vom ("aufgrund einer Erkrankung kann Frau G voraussichtlich bis Ende Mai nicht arbeiten und verhandeln"), ("aufgrund einer Erkrankung konnte die Patientin in den letzten Monaten ihre Gerichtskorrespondenz nicht erhalten und bearbeiten sowie Fristen einhalten", Arbeitsunfähigkeit bis ) und ("der … Patientin ist derzeit keine Teilnahme an Verhandlungsterminen möglich, weil Sie an einer starken depressiven Episode leidet … die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen ist derzeit medizinisch absolut kontraindiziert …") sowie ihres behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom ("die Pat. ist an einer schweren depressiven Episode erkrankt und aus ärztlicher Sicht mindestens zwei weitere Monate verhandlungsunfähig") vorgelegt.

3Eine weitere Ladung, nunmehr zur mündlichen Verhandlung am , erhielt die Klägerin am . Am teilte sie telefonisch mit, dass sie krankgeschrieben sei und es ihr schlecht gehe. Mit Schreiben vom wies der Vorsitzende die Klägerin darauf hin, dass der Termin aufgehoben werden könne, wenn sie ein amtsärztliches Attest vorlege, in dem bescheinigt werde, dass sie an der Verhandlung am aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen könne. Das angefragte Gesundheitsamt teilte mit, es könne eine Stellungnahme nicht rechtzeitig vor dem anberaumten Termin fertigen; daraufhin hob der Vorsitzende den Begutachtungsauftrag auf. Mit Schreiben vom und Erinnerung vom informierte der Vorsitzende die Klägerin hierüber und forderte sie auf, unverzüglich eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, aus der sich ergebe, wann sie zuletzt behandelt worden sei, welche Befunde erhoben und welche Diagnosen gestellt worden seien und wie sich diese auf ihre Fähigkeiten, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, auswirkten. Die Klägerin legte am Schreiben ihrer Hausärztin vom , des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom , eines weiteren Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Hausärztin vom (Arbeitsunfähigkeit bis ) vor. Diese Bescheinigungen benannten die Diagnose einer schweren depressiven Episode und attestierten zum Teil Verhandlungsunfähigkeit. Auf Anfrage des Vorsitzenden am teilte der behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit, er werde ohne Schweigepflichtentbindungserklärung keine Auskunft geben. Mit Schreiben vom erhielt die Klägerin den Hinweis, dass die vorgelegten ärztlichen Unterlagen keine Befunde enthielten und sich der Senat daher nicht von ihrer Verhandlungsunfähigkeit überzeugen könne. Dem folgten Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und dann gegen den Senat.

4Mit Urteil vom - L 7 AS 82/17 - hat das LSG entschieden, ohne dass die zum damaligen Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene Klägerin an der vorangegangenen mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Die Atteste wegen der Verhandlung im Mai seien zu alt. Die Atteste aus Juli 2018 seien mangels konkreter Angaben zur jeweils letzten ärztlichen Untersuchung und den dabei erhobenen Befunden nicht nachvollziehbar.

5Ihre Nichtzulassungsbeschwerde stützt die Klägerin über ihren beigeordneten Prozessbevollmächtigten auf die Zulassungsgründe der Divergenz und des Verfahrensmangels. Das LSG habe entgegen §§ 202 SGG, 227 ZPO und 124 SGG ohne die Anwesenheit der Klägerin verhandelt und entschieden. Das sei zugleich ein Verstoß gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör. Wegen der Divergenz macht die Klägerin Abweichungen des LSG von den Urteilen des ) und vom (B 4 AS 42/12 R) geltend.

6II. Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 Abs 1 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung ihres beigeordneten Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.

7Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).

8Die Klägerin hat formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt, vom LSG nicht ausreichend rechtlich gehört worden zu sein. Sie hat die Verletzung des § 62 SGG hinreichend bezeichnet. Die Rüge trifft auch zu, weil ihr durch das LSG die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor der Urteilsfindung zu Unrecht verwehrt worden ist.

9Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet, dass die Beteiligten ua auch in der mündlichen Verhandlung als dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ausreichend Gelegenheit zu sachgemäßen Erklärungen haben müssen. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Zwar kann nach entsprechenden Hinweisen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch bei Ausbleiben eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden (vgl § 110 Abs 1 Satz 2 SGG; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 110 RdNr 11). Hieran ist das Gericht jedoch gehindert, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsaufhebung vorliegen und ein Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen ( - RdNr 6 mwN).

10Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter Aufhebungsantrag - hier zuletzt bekräftigt durch die von der Klägerin gestellten Befangenheitsanträge - mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Grund, den Termin aufzuheben, begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsaufhebung ( - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; - RdNr 16). Welche Anforderungen an die Geltendmachung des Aufhebungsgrundes zu stellen sind, ergibt sich aus § 202 Satz 1 SGG iVm §§ 227 Abs 2, 294 ZPO. Danach sind die erheblichen Gründe auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Eines Vollbeweises bedarf es grundsätzlich nicht; zu fordern ist ein den konkreten Umständen angepasstes Maß an Glaubhaftigkeit, dh die Sicherheit der Feststellung muss von den Folgen der zu treffenden Entscheidung abhängig gemacht werden (vgl zu § 294 ZPO Greger in Zöller, ZPO, 33. Aufl 2020, § 294 RdNr 6). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsaufhebung hat der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen, insbesondere, wenn - wie vorliegend - eine mündliche Verhandlung vor dem SG nicht stattgefunden hat (vgl - RdNr 7 mwN). Ein erheblicher Grund für die Aufhebung eines Termins kann die durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Erkrankung eines nicht vertretenen Beteiligten sein ( - RdNr 12), erst recht gilt dies für eine ärztlich bescheinigte Verhandlungsunfähigkeit.

11Diesen Vorgaben wird die Entscheidung des LSG aufgrund der mündlichen Verhandlung vom nicht gerecht. Anhand der im Urteil vorgenommenen Begründung ist schon nicht klar, aufgrund welchen Maßstabs über die Ablehnung des Aufhebungsantrags entschieden worden ist. Zwar enthält das Urteil die Formulierung, die Klägerin habe keinen Verhinderungsgrund glaubhaft gemacht, andererseits wird der Inhalt des letzten Schreibens des Vorsitzenden vom mit den Worten wiedergegeben, der Senat habe sich nicht von der Verhandlungsunfähigkeit der Klägerin überzeugen können.

12Dass eine volle richterliche Überzeugung von der Verhandlungsunfähigkeit Maßstab einer Terminsaufhebung sein durfte, ergibt sich aus dem in der angegriffenen Entscheidung dargestellten Verfahrensverlauf nicht. Objektivierbare Umstände, die darauf hindeuten könnten, dass der Antrag auf Aufhebung des Termins durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen sein könnte (vgl - RdNr 20 mwN), sind nicht festgestellt oder ersichtlich. Vielmehr konnte die Klägerin davon ausgehen, dass die Glaubhaftmachung der Verhandlungsunfähigkeit durch sie nachrangig war, weil der Vorsitzende weitere eigene Ermittlungen zur Verhandlungsunfähigkeit aufgenommen hatte (Auftrag für ein amtsärztliches Gutachten; Nachfrage beim behandelnden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie). Eine Prozessverschleppungsabsicht ist darin nicht erkennbar. Die Nichtverlegung des Termins verletzt daher den Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör.

13Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 551 ZPO), ist doch "wegen des Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten - wie hier die Klägerin - daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung beeinflusst hat ( - SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; - RdNr 11).

14Die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfahrensrüge zur Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch der Klägerin unter Mitwirkung der abgelehnten Richter sowie die Zulässigkeit der Divergenzrügen können angesichts dessen dahinstehen.

15Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:261120BB14AS34919B0

Fundstelle(n):
OAAAH-72956