BVerwG Beschluss v. - 2 B 7/19

Überraschungsentscheidung durch unzutreffende Bewertung einer vorinstanzlich erhobenen Verfahrensrüge zur Zeugenvernehmung

Gesetze: § 163a Abs 5 StPO, § 52 Abs 3 StPO, § 295 Abs 2 ZPO, § 383 Abs 2 ZPO

Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: DL 13 S 1965/17 Urteilvorgehend VG Freiburg (Breisgau) Az: DL 8 K 1332/15

Gründe

1Die Beschwerde des Klägers hat mit der Maßgabe Erfolg, dass das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO und § 2 LDG BW zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor. Die Bewertung der vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nach § 295 Abs. 1 ZPO erhobenen Rüge durch den Verwaltungsgerichtshof - als "Zugeständnis" eines Zeugnisverweigerungsrechts - stellt eine mit dem Gebot des rechtlichen Gehörs nicht zu vereinbarende Überraschungsentscheidung dar.

21. Der 1961 geborene Kläger steht als Kriminalhauptkommissar (Besoldungsgruppe A 12) im Dienst des beklagten Landes. Mit der angefochtenen Verfügung vom entfernte das Polizeipräsidium F. den Kläger aus dem Beamtenverhältnis. Zur Begründung führte das Polizeipräsidium aus, der Kläger habe die ihm als Polizeibeamten zur Verfügung stehenden dienstlichen Möglichkeiten missbraucht, indem er über mehrere Jahre hinweg mehrfach unberechtigt Halterdaten aus den polizeilichen Auskunftssystemen erhoben und diese gegen Entgelt an einen Dritten zur Verschaffung einer weiteren Einnahmequelle verkauft habe. Der Unbestechlichkeit als Bestandteil der Dienstpflicht zur uneigennützigen Amtsführung komme eine herausragende Bedeutung zu. Ferner sei der Kläger aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, weil er die Durchführung einer verdeckten polizeilichen Maßnahme an den Überwachten verraten habe. Auch sei der Kläger aufgrund des Betrugs im Zusammenhang mit einem fingierten Verkehrsunfall von Mitte Februar 1999 und dem damit zusammenhängenden Versicherungsbetrug aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Die unberechtigten Abfragen aus den polizeilichen Informationssystemen Mitte August 2011 und die Weitergabe der Erkenntnisse an seine Bekannte stützten die Würdigung zum Vertrauensverlust. Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen. Dabei hat es mehrere der vernommenen Zeugen über ein - angebliches - Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO belehrt. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen, ohne selbst Zeugen zu hören. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt:

3In tatsächlicher Hinsicht könnten dem Kläger die in dem angegriffenen Urteil zur Last gelegten Sachverhalte zum Gegenstand der disziplinarrechtlichen Würdigung gemacht werden. Dabei könnten auch die Aussagen der Zeugen in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht in vollem Umfang berücksichtigt werden. Unerheblich sei, dass das Verwaltungsgericht die Zeugen S., O. und L. über ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO belehrt habe, obwohl diesen allenfalls ein Aussageverweigerungsrecht nach § 19 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO BW i.V.m. § 55 StPO zugestanden habe. Die Rüge des Klägers bleibe schon deshalb ohne Erfolg, weil er sein Rügerecht nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 295 Abs. 1 und § 534 ZPO verloren habe. Nach der fehlerhaften Belehrung durch das Verwaltungsgericht habe der Bevollmächtigte des Klägers Fragen an die Zeugen, insbesondere an den Zeugen S., gerichtet. Durch sein Verhalten habe der Bevollmächtigte des Klägers auf die bedingt formulierte Rüge eines Verfahrensfehlers des Verwaltungsgerichts verzichtet und damit sein Rügerecht bereits im ersten Rechtszug verloren. Im Hinblick auf den Zeugen S. habe der Bevollmächtigte des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ein Zeugnisverweigerungsrecht ausdrücklich zugestanden. Durch sein Dienstvergehen habe der Kläger das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit in die pflichtgemäße Amtsführung endgültig verloren. Es sei deshalb nicht zu beanstanden, dass ihn der Beklagte aus dem Dienst entfernt habe.

42. Die Sache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde des Klägers beimisst.

5Dabei ist der Senat wegen des Darlegungserfordernisses nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO darauf beschränkt, ausschließlich auf der Grundlage der Beschwerdebegründung zu entscheiden, ob ein Revisionszulassungsgrund vorliegt. Rechtliche Gesichtspunkte, die der Beschwerdeführer nicht vorgetragen hat, können nicht berücksichtigt werden.

6Grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine - vom Beschwerdeführer zu bezeichnende - grundsätzliche, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf und die für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein wird (stRspr, 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>). Das ist hier nicht der Fall.

7Der Kläger sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in der Frage:

"Kann eine Partei eines Rechtsstreits bei einer fehlerhaften Belehrung der Zeugen über ihr Zeugnisverweigerungsrecht bzw. Auskunftsverweigerungsrecht (hier: Belehrung nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 384 ZPO statt richtiger Weise nach § 19 AGVwGO BW i.V.m. § 55 StPO) wegen Rügeverzichts oder unterlassener Rüge dieses Verfahrensfehlers im Sinne von § 295 Abs. 1 und § 534 ZPO ihr Rügerecht verlieren oder steht dem § 295 Abs. 2 ZPO entgegen, wonach ein Rügeverlust bei der Verletzung solcher Verfahrensvorschriften nicht eintreten kann, auf deren Befolgung eine Partei nicht wirksam verzichten kann?"

8Diese Frage vermag die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht zu rechtfertigen, weil sie auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens auf der Grundlage der vorliegenden Rechtsprechung - auch der anderer oberster Bundesgerichte - beantwortet werden kann.

9Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Vorschriften über den Verlust des Rügerechts - § 295 ZPO oder §§ 534 und 295 ZPO - nach § 173 Satz 1 VwGO im Verwaltungsprozess anwendbar ( 6 C 110.79 - ZBR 1982, 30 f. und vom - 4 C 37.13 - BVerwGE 150, 286 Rn. 19 m.w.N. und Beschluss vom - 9 B 562.98 - Buchholz 303 § 391 ZPO Nr. 1 S. 2). Gemäß § 295 Abs. 1 ZPO kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen wird, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Nach § 295 Abs. 2 ZPO ist Absatz 1 nicht anzuwenden, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann.

10Die Beschwerde verkennt den Schutzzweck des § 295 Abs. 2 ZPO. Nach Auffassung der Beschwerde ist für die Beschränkung der Möglichkeit des Rügeverlustes nach § 295 Abs. 2 ZPO die persönliche Schutzrichtung der vom Gericht im Einzelfall verletzten Vorschrift im Sinne von § 295 Abs. 1 ZPO maßgeblich. Danach soll eine Partei nach § 295 Abs. 2 ZPO nicht auf Vorschriften verzichten können, die nicht ihrem Schutz, sondern dem Schutz von Zeugen zu dienen bestimmt sind - hier die Vorgaben über das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts oder eines bloßen Auskunftsverweigerungsrechts eines Zeugen.

11Das Abstellen auf die persönliche Schutzrichtung einer vom Gericht verletzten Verfahrensvorschrift steht mit der Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts zu § 295 ZPO nicht in Einklang. § 295 ZPO soll im Interesse der Prozessökonomie einen schnellen und sicheren Ablauf des gerichtlichen Verfahrens gewährleisten. Bei den - nicht verzichtbaren - Vorschriften im Sinne von § 295 Abs. 2 ZPO handelt es sich um solche gesetzlichen Vorgaben, die so gewichtig sind, dass sie auch im Hinblick auf das öffentliche Interesse an einem schnellen und sicheren Ablauf von Gerichtsverfahren zwingend einzuhalten sind. § 295 Abs. 2 ZPO trägt dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung, nach dem bestimmte Garantien eines formell ordnungsgemäßen gerichtlichen Verfahrens, d.h. zwingende Grundnormen des Verfahrensrechts, deren Einhaltung im öffentlichen Interesse liegt, gewährleistet sein müssen und bei denen das Risiko ihrer Verletzung nicht durch das Erfordernis einer rechtzeitigen Rüge auf die Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens abgewälzt werden darf ( 6 C 110.79 - ZBR 1982, 30 f.). Maßgeblich ist danach nicht die persönliche Schutzrichtung einer Verfahrensvorschrift, sondern ihre Bedeutung für ein den rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht werdendes gerichtliches Verfahren.

12Danach meint § 295 Abs. 2 ZPO solche Verfahrensvorschriften, an deren Einhaltung im Sinne einer geordneten und funktionsfähigen Rechtspflege ein vorrangiges öffentliches Interesse besteht. Dies sind etwa die von Amts wegen zu beachtenden Prozessvoraussetzungen, die Vorgaben für die ordentliche Besetzung des Gerichts bei der Entscheidungsfindung ( 4 C 41.68 - BVerwGE 41, 174 <176> und vom - 6 C 110.79 - ZBR 1982, 30 f.) oder die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zurückweisung einer verspäteten Prozesshandlung (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 295 Rn. 3 m.w.N.), nicht aber z.B. die gesetzlichen Vorgaben über die Notwendigkeit eines Beweisbeschlusses ( 5 B 48.13 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 62 Rn. 15 m.w.N.).

13Zu den nach diesen Vorgaben nach § 295 Abs. 2 ZPO unverzichtbaren Verfahrensvorschriften zählen die Vorschriften über die Belehrung von Zeugen nicht. § 295 Abs. 2 ZPO ist nicht einschlägig, wenn ein Gericht die Zeugenaussage eines Angehörigen verwertet, obwohl dieser Zeuge entgegen § 383 Abs. 2 ZPO vor seiner Vernehmung nicht belehrt worden ist; dies gilt entsprechend für die unmittelbare oder mittelbare Verwertung der Zeugenaussage eines Angehörigen, die dieser in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ohne vorherige Belehrung gemäß § 52 Abs. 3 und § 163a Abs. 5 StPO gemacht hat (vgl. - NJW 1985, 1158 f. und vom - IV ZR 129/06 - NJW-RR 2007, 1624 Rn. 41; vgl. auch - juris Rn. 5).

143. Eine der vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen ist begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils sowie zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof nach § 133 Abs. 6 VwGO und § 2 LDG BW.

15a) Die Beschwerde rügt zunächst, der Verwaltungsgerichtshof sei bei seiner Entscheidung über die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu Unrecht von der Anwendung des § 295 ZPO i.V.m. § 534 ZPO ausgegangen. Diese Rüge eines Verfahrensverstoßes trifft nicht zu, weil hier, wie vorstehend ausgeführt, die Anwendung von § 295 Abs. 1 ZPO nicht nach Absatz 2 ausgeschlossen ist. § 295 Abs. 2 ZPO greift nicht ein bei Verstößen des Gerichts gegen die gesetzlichen Vorgaben für die Belehrung von Zeugen über Zeugnisverweigerungs- oder Auskunftsverweigerungsrechte.

16b) Begründet ist dagegen die Rüge eines mit dem Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO) nicht zu vereinbarenden Überraschungsurteils.

17Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass ein Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhalten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äußerungsrecht keine umfassende Frage-, Aufklärungs- und Hinweispflicht des Gerichts. Vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich aus erkennen, welche Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können, und entsprechend vortragen. Jedoch verlangt der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung, dass das Gericht nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr, vgl. - BVerfGE 86, 133 <144 f.> sowie Kammerbeschluss vom - 1 BvR 980/10 - NVwZ-RR 2011, 460 Rn. 13 m.w.N.; 2 B 12.16 - Buchholz 230 § 127 BRRG Nr. 64 Rn. 12).

18Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Denn mit der Wertung des Verwaltungsgerichtshofs, der Bevollmächtigte des Klägers habe dem Zeugen S. in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht in der Terminologie des § 384 Nr. 2 ZPO ein "Zeugnisverweigerungsrecht ausdrücklich 'zugestanden'", hat der Verwaltungsgerichtshof einen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben, mit der der Kläger nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte.

19In der Niederschrift der - um 9:55 Uhr eröffneten - mündlichen Verhandlung (S. 34) vor dem Verwaltungsgericht ist zu einer vom Prozessbevollmächtigten des Klägers - nach 20:22 Uhr und unmittelbar vor dem Schluss der Beweisaufnahme - abgegebenen Erklärung das Folgende festgehalten:

"Der Prozessbevollmächtigte rügt vorsorglich, dass, ohne dem Gericht unterstellen zu wollen, dass es damit einen Verfahrensfehler begangen hätte, dass Herr S. heute ein Zeugnisverweigerungsrecht geltend machen konnte und dass er über das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO durch das Gericht belehrt wurde."

20Die Auslegung dieser - so protokollierten - Erklärung des Klägerbevollmächtigten als das "Zugeständnis eines Zeugnisverweigerungsrechts" an den Zeugen S. durch den Verwaltungsgerichtshof ist unverständlich. Denn ersichtlich diente diese Erklärung des Bevollmächtigten dazu, eine konkrete Verfahrenshandlung des Verwaltungsgerichts bei der Vernehmung des Zeugen S. zu beanstanden ("Der Prozessbevollmächtigte rügt ...."). Ungeachtet der konkreten Formulierung ist zudem erkennbar, dass es dem Bevollmächtigten bei der Rüge um die - tatsächlich auch unzutreffende - Annahme des Verwaltungsgerichts ging, dieser Zeuge sei über ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO - und nicht über das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 19 AGVwGO BW und § 55 StPO - zu belehren. Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der Bevollmächtigte des Klägers habe dem Zeugen S. in der Terminologie des § 384 Nr. 2 ZPO ein Zeugnisverweigerungsrecht ausdrücklich "zugestanden", verkehrt die ersichtlich erhobene Rüge in ihr Gegenteil. Denn nach der Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs hat der Bevollmächtigte des Klägers damit - i.S.v. § 295 Abs. 1 ZPO - "gerügt", dass das Verwaltungsgericht - auch in Bezug auf diesen Zeugen - zu Recht von einem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO ausgegangen ist und damit bei der Belehrung dieses Zeugen keinen Verfahrensfehler begangen hat. Mit der Verkehrung seiner Rüge nach § 295 Abs. 1 ZPO in ihr Gegenteil im Berufungsurteil musste der Kläger nicht rechnen.

21Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung des Verwaltungsgerichts ist der Zeuge O. ebenso wie der Zeuge S. vom Verwaltungsgericht auf "sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO hingewiesen" worden. Demgegenüber ist die Zeugin L. vom Verwaltungsgericht auf ein "mögliches Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO hingewiesen" worden. Auch der Verwaltungsgerichtshof sieht diese Vorgehensweise des Verwaltungsgerichts als fehlerhaft an. Denn tatsächlich kommt insoweit allein die Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts nach § 19 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO BW i.V.m. § 55 StPO in Betracht.

22Der Bevollmächtigte des Klägers hat die Rüge nach § 295 Abs. 1 ZPO der unzutreffenden Annahme eines Zeugnisverweigerungsrechts nach § 384 ZPO durch das Verwaltungsgericht auch rechtzeitig erhoben. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Prozessbevollmächtigte, wie von ihm auch in der Beschwerdebegründung geltend gemacht, bereits im Verlauf der Vernehmung der drei genannten Zeugen die Annahme des Verwaltungsgerichts beanstandet hat, den Zeugen stehe ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 ZPO - wenn auch nur "möglicherweise" - zu. Denn auch die in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vermerkte Rüge (S. 34) im Hinblick auf die Belehrung des Zeugen S., der von dem ihm zugebilligten "Zeugnisverweigerungsrecht" ausweislich der Niederschrift über die erstinstanzliche Verhandlung auch Gebrauch gemacht hat, ist rechtzeitig.

23Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss ein Verfahrensmangel gemäß § 173 Satz 1 VwGO und § 295 Abs. 1 ZPO spätestens in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt werden, wobei hierunter auch der Teil der mündlichen Verhandlung zu verstehen ist, der sich unmittelbar an den Verfahrensabschnitt anschließt, in dem der Verfahrensrechtsverstoß geschehen sein soll ( 9 C 45.97 - BVerwGE 107, 128 <132>; Beschlüsse vom - 9 B 343.99 - juris Rn. 4, vom - 1 B 95.02 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 67 S. 28 und vom - 4 B 54.12 - juris Rn. 4). Nach diesen Grundsätzen ist die Rüge fristgerecht. Denn die Rüge ist bereits vor dem Schluss der Beweisaufnahme - und damit in dem Verfahrensabschnitt erhoben worden, in dem das Verwaltungsgericht den Verfahrensverstoß begangen hat.

24Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auf dem Verfahrensmangel beruht. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht einen anderen Sachverhalt festgestellt und das Dienstvergehen des Klägers anders geahndet hätte, wenn es erkannt hätte, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Verfahrensverstoß des Verwaltungsgerichts durch die Zubilligung eines Zeugnisverweigerungsrechts nach § 384 ZPO an den Zeugen S. in der erstinstanzlichen Verhandlung nach Maßgabe des § 295 Abs. 1 ZPO wirksam - und auch rechtzeitig - gerügt hat. Dann hätte sich das Berufungsgericht nicht auf die Aussagen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vernommenen Zeugen stützen können, sondern hätte selbst eine Beweisaufnahme unter zutreffender Belehrung der Zeugen durchführen müssen.

25Nach den gesetzlichen Vorgaben ist es auch ausgeschlossen, dem Unterschied zwischen Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrecht der Sache nach keine Bedeutung beizumessen. Zwar wird in der Beschwerdebegründung hinsichtlich der Reichweite der Rechte eines Zeugen nach § 384 ZPO einerseits und § 19 AGVwGO BW i.V.m. § 55 StPO anderseits ein unzutreffender Eindruck erweckt. Denn auch § 384 ZPO räumt einem Zeugen - anders als § 383 ZPO oder auch § 52 StPO - grundsätzlich kein umfassendes Recht zur Aussageverweigerung ein. Vielmehr gestattet § 384 Nr. 2 ZPO dem Zeugen lediglich, solche Fragen nicht zu beantworten, die ihn in die im Gesetz beschriebene Konfliktlage bringen können. Auch § 55 StPO gibt dem Zeugen grundsätzlich kein Recht zur umfassenden Aussageverweigerung, sondern berechtigt nur dann zur vollständigen Verweigerung des Zeugnisses, wenn das konkrete Beweisthema ausschließlich solche Fragen betrifft, zu denen dem Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zusteht ( - BGHSt 10, 104 <105> und vom - 2 StR 563/84 - NStZ 1986, 181). Allerdings unterliegt das Recht zur Zeugnisverweigerung aus sachlichen Gründen nach § 384 Nr. 2 ZPO anderen Voraussetzungen als das Recht zur Auskunftsverweigerung nach § 55 StPO. Das Recht nach § 55 Abs. 1 StPO, über das der Zeuge zu belehren ist, setzt voraus, dass es um eine Frage geht, deren Beantwortung dem Zeugen selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 StPO genannten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Demgegenüber bezieht sich das nicht nach § 385 Abs. 1 ZPO eingeschränkte Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 Nr. 2 ZPO, über das der Zeuge nicht belehrt werden muss, auf Fragen, deren Beantwortung dem Zeugen oder einem seiner im § 383 Nr. 1 bis 3 ZPO bezeichneten Angehörigen zur Unehre gereichen oder die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Dementsprechend müssen im konkreten Einzelfall vom Gericht bei der Vernehmung eines Zeugen, dem das Recht aus § 384 Nr. 2 ZPO oder das Recht aus § 55 Abs. 1 StPO zusteht, in Bezug auf einzelne Fragen unterschiedliche Tatbestandsmerkmale geprüft werden. Dass der Zeuge S. bei einzelnen Fragen von dem ihm eingeräumten "Zeugnisverweigerungsrecht" Gebrauch gemacht hat, ergibt sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2019:180719B2B7.19.0

Fundstelle(n):
HAAAH-57791