Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - Beurteilung von Leistungseinschränkungen ausschließlich durch das Gericht
Gesetze: § 43 SGB 6, § 62 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: SG Frankfurt (Oder) Az: S 1 R 485/16 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 2 R 625/18 Urteil
Gründe
1I. Zwischen den Beteiligten ist noch die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung umstritten. Aufgrund eines von der Beklagten im Berufungsverfahren erlassenen Bescheids vom erhält der Kläger seit dem eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI. Im vorangegangenen sozialgerichtlichen Verfahren hatte das SG ein neurologisch-psychiatrisches, ein orthopädisch-unfallchirurgisches sowie ein berufskundliches Gutachten eingeholt. Der berufskundliche Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass der Kläger ua aufgrund seiner funktionellen Einäugigkeit, die das unfallfreie Arbeiten mit Werkzeugen erheblich erschweren könne, nicht das erforderliche Nahsehvermögen für die Tätigkeit als Kleinteilemonteur (Gerätezusammensetzer) aufweise und auch sonstige berufliche Tätigkeiten, insbesondere die eines Pförtners, für ihn nicht mehr in Betracht kämen. Das SG hat daraufhin die Beklagte ab dem zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer verpflichtet (Urteil vom ). Hingegen hat das LSG ohne weitere Sachaufklärung und ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom einen solchen Anspruch des Klägers verneint, das Urteil des SG insoweit geändert und die Klage abgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er beruft sich auf Verfahrensfehler und eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
2II. Die Beschwerde des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 160a Abs 5 SGG).
3Der Kläger hat den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Der Verfahrensmangel liegt auch vor. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, indem es sich bei seiner Entscheidung maßgeblich auf medizinische Fachliteratur gestützt hat, ohne sie den Beteiligten vorher zur Kenntnis zu geben.
4Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet, dass die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit haben, zu den für die Entscheidung maßgeblichen Rechtsauffassungen, Tatsachen und Beweisergebnissen Stellung zu nehmen (vgl - juris RdNr 7). Hatte ein Beteiligter hierzu keine Gelegenheit, so sind § 128 Abs 2 SGG und gleichzeitig auch der in Art 103 Abs 1 GG garantierte und in § 62 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Wenn das Gericht eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigt, muss für die Beteiligten die Grundlage dieser Sachkunde erkennbar sein (vgl 5b RJ 86/81 - SozR 1500 § 62 Nr 11 S 11 = juris RdNr 10; - juris RdNr 8).
5Der Kläger hat hier in der erforderlichen Form gerügt, dass das LSG die in seiner Entscheidung maßgeblich in Bezug genommene sozialmedizinische Literatur ihm nicht zur Kenntnis gegeben habe. Zwar besteht keine generelle Verpflichtung des Gerichts, von ihm verwendete und allgemein zugängliche medizinische Literatur den Beteiligten vorab zur Kenntnis zu geben. Hier besteht aber die Besonderheit, dass das LSG sich für die Beurteilung der Auswirkungen der Einäugigkeit auf die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers ausschließlich auf ein Werk zur "Begutachtung in der Augenheilkunde" bezogen hat, aus dem es wörtlich zitiert. Aus den dortigen Ausführungen schließt das LSG - ohne dass insofern eine den Kläger betreffende gutachtliche Äußerung eines medizinischen Sachverständigen vorgelegen hat (anders, wenn das Gericht etwa ergänzend zu den Aussagen eines Sachverständigen auf Literatur Bezug nimmt: vgl - juris RdNr 6) -, dass dessen funktionelle Einäugigkeit keine schwere spezifische Leistungsbehinderung darstelle. Damit hat das LSG die Leistungseinschränkung des Klägers auf augenärztlichem Fachgebiet letztlich selbst sozialmedizinisch beurteilt. Das ist nicht von vornherein ausgeschlossen, obwohl dem Richter in aller Regel die eigene Sachkunde für die Beurteilung rein medizinischer Fragen fehlen wird ( - SozR Nr 33 zu § 103 SGG = juris RdNr 16). Stützt sich das Gericht bei seiner Beurteilung aber ausschließlich auf eigene medizinische Sachkunde, muss für die Beteiligten die Grundlage hierfür ersichtlich sein. Das Gericht muss in einem solchen Fall gegenüber den Beteiligten darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und worauf sie sich bezieht, damit die Beteiligten hierzu Stellung nehmen und ihre Prozessführung entsprechend einrichten können (vgl - juris RdNr 19 ff; s auch 5b RJ 48/82 - SozR 2200 § 1246 Nr 98 S 302 = juris RdNr 11 <zu allgemeinkundigen Tatsachen>; - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19 = juris RdNr 24 <zu berufskundlichen Tatsachen>; - BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 32 <zu historischen Tatsachen>). Hiergegen hat das LSG verstoßen.
6Die vom LSG angeführten medizinischen Erkenntnisse sind auch keine allgemeinkundigen Tatsachen, auf die ein Gericht seine Entscheidung stützen kann, ohne auf deren Verwertung vorher ausdrücklich hinweisen zu müssen, wenn diese allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen sie wissen, dass sie für die Entscheidung erheblich sein können (vgl - SozR 1500 § 128 Nr 15 S 10 f = juris RdNr 8 ff mwN; - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 20 = juris RdNr 26; - juris RdNr 22).
7Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen, wie der Kläger nachvollziehbar dargelegt hat. Es besteht die Möglichkeit, dass das LSG ohne die Gehörsverletzung zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Kläger mit einem aufgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs unterbliebenen und nunmehr angekündigten Beweisantrag zur Einholung eines augenärztlichen Gutachtens das Gericht zu weiteren Ermittlungen hätte veranlassen können. Diese könnten dazu führen, dass die funktionelle Einäugigkeit beim Kläger eine schwere spezifische Leistungsbehinderung darstellt oder im Zusammenwirken mit den weiteren Einschränkungen zu einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen führt und deshalb eine geeignete Verweisungstätigkeit konkret benannt werden muss (vgl zuletzt - SozR 4-2600 § 43 Nr 22 RdNr 40, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Dem steht nicht entgegen, dass das LSG in der angefochtenen Entscheidung bereits die Tätigkeit eines Versandfertigmachers als für den Kläger noch möglich erachtet hat. Es hat sich dabei ausschließlich auf die Angaben des orthopädischen Sachverständigen gestützt, der insoweit die Auswirkungen der Einäugigkeit des Klägers nicht in seine Beurteilung einbezogen hat (vgl Gutachten vom S 37 unter 2.3). Für die Benennung einer geeigneten Verweisungstätigkeit ist es aber erforderlich, das konkret festgestellte körperliche, geistige und kognitive Leistungsvermögen mit dem beruflichen Anforderungsprofil einer Tätigkeit zu vergleichen ( - aaO). Damit kann eine möglicherweise veränderte Einschätzung des Restleistungsvermögens aufgrund eines augenärztlichen Gutachtens auch zur Folge haben, dass die bisher genannte Tätigkeit eines Versandfertigmachers nicht mehr als eine für den Kläger "geeignete Verweisungstätigkeit" anzusehen ist.
8Da die Sache schon allein aus diesem Grund zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 160a Abs 5 SGG), kann dahinstehen, ob auch die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensmängel vorliegen oder ob eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache anzunehmen ist (vgl - juris RdNr 15).
9Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:170620BB5R120B0
Fundstelle(n):
DAAAH-54220