Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Behandlung von kurzfristigen Anträgen auf Terminsverlegung
Gesetze: § 62 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 202 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: SG Frankfurt Az: S 31 R 93/10 Gerichtsbescheidvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 2 R 511/11 Urteil
Gründe
1I. Der Kläger wendet sich in der Sache dagegen, dass die Beklagte rückständige Beitragsforderungen gegen seine Altersrente aufrechnet.
2Der im Jahre 1938 geborene Kläger (GdB von 90, Merkzeichen G, B; Bescheid des Versorgungsamtes vom ) ist als Rechtsanwalt tätig. Die Beklagte errechnete rückständige Pflichtbeiträge aufgrund versicherter selbständiger Tätigkeit des Klägers (iHv 48 677,60 €), mit denen sie ab November 2009 gegen seine laufende Altersrente mit einem Betrag iHv 800 € monatlich aufrechnete (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Das SG Frankfurt am Main hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom abgewiesen. Das Hessische LSG hat auf die mündliche Verhandlung vom die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid zurückgewiesen.
3Der Kläger ist mit Schreiben der Berichterstatterin des vom Termin zur mündlichen Verhandlung am benachrichtigt worden. Mit Schriftsatz vom hat er Akteneinsicht in seinen Kanzleiräumen beantragt mit der Begründung, dass sein Gesundheitszustand, insbesondere seine Sehbehinderung, die ihm zuvor eingeräumte Einsichtnahme auf der Geschäftsstelle ausschließe. Mit Schreiben vom , das vorab per Telefax am beim LSG eingegangen ist, hat der Kläger beantragt, den Termin aufzuheben. Er hat darauf hingewiesen, dass seine am durchgeführte Augenoperation nicht den erhofften Erfolg gehabt habe. Beim Lesen und Erfassen von Texten sei er auf den Einsatz einer Lupe angewiesen. Seine "nochmals anwaltlich versicherte Sehbehinderung" lasse derzeit keine Terminswahrnehmung zu, auch mangels ausreichender Vorbereitungszeit. Mit Schreiben der Berichterstatterin vom wurde der Kläger gebeten, glaubhaft zu machen (§ 227 Abs 2 ZPO), dass er seit der Terminsmitteilung gesundheitlich gehindert sei, den Termin ausreichend vorzubereiten. In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Berichterstatterin mit zwei ehrenamtlichen Richtern vom ist festgehalten, dass der Kläger trotz ordnungsgemäßer Terminsmitteilung nicht erschienen sei. Zudem ist dort vermerkt, dass die Sitzung am um 11.40 Uhr begann und um 11.50 Uhr endete. Der Kläger hat mit Schreiben vom , das am selben Tag um 11.04 Uhr per Telefax beim LSG eingegangen ist, eine ärztliche Bescheinigung vom eingereicht, wonach er vom bis einschließlich nicht arbeitsfähig sei. Mit Schreiben vom hat die Berichterstatterin dem Kläger mitgeteilt, dass sein Schreiben vom die zuständige Serviceeinheit an diesem Tag erst um 13.00 Uhr erreicht habe.
4Mit der gegen das seine Berufung zurückweisende eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), ua die Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG). Das LSG habe seinen Verlegungsantrag zu Unrecht abgelehnt. Das LSG habe den Rechtsstreit entschieden, ohne ihn anzuhören.
5II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
6Der Kläger hat den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) gerügt.
7Der Verfahrensmangel liegt auch vor. Denn das LSG hat mit der Entscheidung über die Berufung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt.
8Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5 mwN). Ferner ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 S 1 SGG), der Beteiligte bzw sein Prozessbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33; - Juris RdNr 16).
9Grundsätzlich stellt zwar allein der Umstand, dass ein Beteiligter außer Stande ist, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen, und dies vorher mitteilt, noch keinen zwingenden Grund für eine Terminsverlegung dar (vgl Senatsbeschluss vom - B 13 RJ 55/02 B - Juris RdNr 9; - Juris RdNr 11). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Gericht auf die Möglichkeit hingewiesen hat, dass bei Fernbleiben eines Beteiligten nach Lage der Akten entschieden werden kann (vgl dazu § 110 Abs 1 S 2 SGG).
10Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann - und ggf muss - jedoch gemäß § 202 SGG iVm dem entsprechend anwendbaren § 227 Abs 1 S 1 ZPO bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden, auch wenn - wie vorliegend - das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden ist (vgl Senatsbeschlüsse vom - B 13 RJ 199/05 B; vom - B 13 R 277/08 B - Juris RdNr 15 mwN). Ein iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter Verlegungsantrag mit einem hinreichend substantiiert geltend und ggf glaubhaft gemachten Terminsverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; - Juris RdNr 11). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsverlegung hat dabei der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (vgl hierzu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 58).
11Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist unabhängig von einem Verschulden des Gerichts (BVerfGE 62, 347, 352), insbesondere auch davon, wen innerhalb des Gerichts ggf ein Verschulden trifft (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59 f; - NJW 1986, 1125; - Juris RdNr 20). Vielmehr ist das Gericht insgesamt dafür verantwortlich, dass dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59 f; BSG SozR 1500 § 62 Nr 17 S 17 mwN). Im Übrigen gilt, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren verbietet, dass ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableitet (vgl BVerfGE 60, 1, 6 f; 69, 381, 386; 75, 183, 190; - NZS 2011, 133; Senatsbeschluss vom - B 13 R 165/12 B - Juris RdNr 15). Wenn daher ein Terminsverlegungsantrag unberücksichtigt bleibt, der erst am Tage der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingeht und dem Richter bis zur Urteilsverkündung nicht mehr vorgelegt wird, ist das rechtliche Gehör verletzt (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nr 17 S 17; vgl auch BSG SozR Nr 16 zu § 62 SGG zu einem am Tag vor der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangenen, aber unberücksichtigt gebliebenen Verlegungsantrag).
12Der Kläger hat seinen mit Schriftsatz vom gestellten Antrag auf Terminsaufhebung mit dem Hinweis auf seine Augenerkrankung begründet, die eine Terminswahrnehmung nicht zulasse. Seine seit bestehende Arbeitsunfähigkeit hat er durch ärztliches Attest belegt. Obwohl das Attest noch vor der mündlichen Verhandlung beim Gericht eingegangen ist, hat es das LSG bei seiner Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht berücksichtigt. Im Ergebnis unerheblich ist, dass das Attest erst ca eine halbe Stunde vor Sitzungsbeginn beim LSG eingegangen ist (Eingang des Faxes um 11.04 Uhr; Terminierung 11.15 Uhr, tatsächlicher Sitzungsbeginn 11.40 Uhr) und die zuständige Serviceeinheit erst nach Sitzungsende um 13.00 Uhr erreicht hat.
13Das rechtliche Gehör des Klägers wäre nur dann nicht verletzt, wenn das Attest des Klägers so kurzfristig beim LSG eingegangen wäre, dass es nach den Umständen des Einzelfalls ausgeschlossen gewesen wäre, dass es die zuständige Richterin noch erreicht hätte (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59). Eine solche Situation lag hier nicht vor. Der Kläger hat auf die Dringlichkeit in seinem Schreiben vom deutlich hingewiesen, indem er es mit dem Zusatz "Eilt! Sofort vorlegen! Termin: Heute!" versehen hatte. Die verbleibende Zeit von ca 30 Minuten bis zum Sitzungsbeginn war nicht unangemessen zu kurz, weil diese Zeitspanne innerhalb der ortsüblichen Geschäftszeiten eines Gerichts lag (hier vor 12.00 Uhr), in der die Posteingangsstelle des Gerichts regelmäßig besetzt ist. Im Übrigen wäre es ausreichend gewesen, wenn das Telefax des Klägers die zuständige Richterin bis zur Urteilsverkündung erreicht hätte.
14Da die Richterin den Kläger am Vortag der mündlichen Verhandlung selbst zur Vorlage eines Nachweises seiner Verhinderung aufgefordert hatte, hätte nahegelegen, die Posteingangsstelle zu bitten, evtl eingehende Post sofort vorzulegen oder jedenfalls unmittelbar vor Sitzungsbeginn nachzufragen, ob ein Schreiben des Klägers eingegangen ist. Denn üblicherweise sind der Posteingangsstelle die am selben Tag stattfindenden Sitzungen bekannt und dazugehörige Posteingänge werden entsprechend sorgfältig behandelt. Die Ungewissheit, aus welchem Grund das Attest des Klägers den Senat nicht rechtzeitig vor der Urteilsverkündung erreicht hat, kann aber aus den dargelegten Gründen nicht zu Lasten des Klägers gehen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bei sofortiger Weiterleitung des Schriftverkehrs das Attest den Senat noch rechtzeitig erreicht hätte. Hindernisse in der Gerichtsorganisation, die einer sofortigen Weitergabe des Faxes entgegengestanden hätten, sind nicht ersichtlich.
15Die unterbliebene Verlegung oder Vertagung des Termins stellt sich als Verstoß gegen die Verpflichtung zur Gewährung des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren dar (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) und ist damit ein wesentlicher Verfahrensmangel. Die angefochtene Entscheidung kann darauf auch beruhen. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die darauf ergangene Entscheidung beeinflusst hat; einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es nicht ( - Juris RdNr 13; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62; Senatsbeschluss vom - B 13 R 277/08 B - Juris RdNr 18).
16Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
17Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:241013BB13R23013B0
Fundstelle(n):
ZAAAH-26823