Sozialgerichtliches Verfahren - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - eigene Sachkunde - Hinweispflicht des Gerichts - Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren - geäußerte Rechtsauffassung des Gerichts - abweichende Beurteilung - widersprüchliches Verhalten - andere Einschätzung der Sach- und Rechtslage
Gesetze: § 62 SGG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 S 1 MRK
Instanzenzug: SG Magdeburg Az: S 8 U 89/05vorgehend Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Az: L 6 U 46/07 Urteil
Gründe
1I. Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom als Arbeitsunfall hat.
2Die 1982 geborene Klägerin war als Altenpflegerin beschäftigt. Am knickte sie mit dem linken Kniegelenk weg und verlor das Gleichgewicht, als eine Patientin, die sie zum Bett begleitete und festhielt, wegrutschte und die Klägerin mitriss. Der am selben Tag aufgesuchte Durchgangsarzt Dr. S. hielt als Diagnose eine rezidivierende habituelle Patellaluxation (wiederkehrende anlagebedingte Kniescheibenverrenkung) links fest. Ein echtes Unfallereignis habe nicht vorgelegen. Bereits vor zehn Jahren sei es links zu einer Patellaluxation gekommen. Die Beklagte ließ sodann ein Gutachten von Dr. P. erstellen, der in seinem Gutachten vom zu dem Ergebnis kam, eine traumatische Verursachung liege nicht vor. Die Kniescheibenverrenkung müsse als habituell angesehen werden.
3Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom abgewiesen.
4Das LSG hat ein Gutachten des Facharztes Dr. S. eingeholt, der in seinem Gutachten vom zu dem Ergebnis kam, bei der Klägerin habe eine Disposition zur Kniescheibenverrenkung vorgelegen, der überragende Bedeutung für die am erfolgte Verrenkung zukomme. Der Berichterstatter am LSG hat dieses Gutachten den Beteiligten am mit dem Hinweis übersandt: "Nach den Darlegungen des Sachverständigen dürfte das Begehren der Klägerin keine Aussicht auf Erfolg (mehr) versprechen".
5Das LSG hat sodann, ohne dass weitere richterliche Hinweise gegeben wurden, nach mündlicher Verhandlung vom den Gerichtsbescheid und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall vom ein Arbeitsunfall ist.
6II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Es ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen.
7Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua dann begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) sowie seines in Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (vgl Art 20 Abs 3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründeten Anspruchs auf ein faires Verfahren ergangen ist.
8Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl hierzu zuletzt Urteil des Senats vom - B 2 U 5/10 R - Juris RdNr 24 ff; - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Wenn ein Gericht - wie hier - eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Das Gericht muss darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung hierauf einrichten können (zur Gehörsverletzung bei Unterlassung dieses Hinweises: - Juris RdNr 20 f mit weiteren Hinweisen).
9Das LSG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es nicht den eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten von Dr. P. und Dr. S. gefolgt ist, sondern seine Beurteilung allein auf eine von ihm selbst unter Auswertung der unfallmedizinischen Literatur entwickelte Beurteilung, also auf eigene Sachkunde gestützt hat. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten nicht auf das Bestehen dieser eigenen medizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, was diese beinhaltet. Damit liegt der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler vor. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil - wie die Beklagte auch noch hinreichend vorgetragen hat - nicht auszuschließen ist, dass das LSG auf die von ihr dann vorgebrachten Einwendungen zu einer anderen Entscheidung bzw weiteren Beweiserhebung hätte kommen müssen.
10Im Übrigen ist hier zu berücksichtigen, dass auch der umfassende Anspruch der Beklagten auf ein faires Verfahren verletzt ist (vgl hierzu insbesondere Beschluss des Senats vom - B 2 U 281/08 B - UV-Recht Aktuell 2009, 709). Zwar ergibt sich weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf eine Rechtsauffassung (vgl insbesondere BVerfGE 66, 116, 147; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- und Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung dieser Frage seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen und eine Überraschungsentscheidung darstellen würde (vgl hierzu aaO). So liegen die Verhältnisse auch hier. Der Berichterstatter am LSG hat durch seinen Hinweis im Zusammenhang mit der Übersendung des Gutachtens des Dr. S. am die Rechtsauffassung vertreten, dass das Begehren der Klägerin keine Aussicht auf Erfolg versprechen dürfte. Insofern wäre der Senat am LSG gehalten gewesen, die Beteiligten vorher darauf hinzuweisen, wenn er - auch unter Berücksichtigung dieses übersandten Gutachtens - zwischenzeitlich zu einer anderen Einschätzung der Sach- und Rechtslage gelangt.
11Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:150911BB2U15711B0
Fundstelle(n):
RAAAH-26107