BSG Beschluss v. - B 9 SB 70/11 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Auslegung rechtlicher und tatsächlicher Behauptung als Erledigungserklärung - Schwerbehindertenrecht - Zurückverweisung

Gesetze: § 101 Abs 2 SGG, § 102 Abs 1 S 1 SGG, § 102 Abs 1 S 2 SGG, § 133 BGB, § 157 BGB, § 69 Abs 1 S 1 SGB 9, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Instanzenzug: Az: S 29 SB 682 /06 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 16 SB 112 /10 Urteil

Gründe

1I. Der 1932 geborene Kläger wendet sich gegen die bisherige Feststellung seiner Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht für die Zeit ab dem (Bescheide vom , , und Widerspruchsbescheid vom sowie Änderungsbescheid vom ). Daneben begehrt der Kläger auch höhere Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Hierzu hat er am beim Sozialgericht München (SG) Klage erhoben (Az: S 29 V 29/05).

3Durch Urteil vom hat das LSG festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Diese Entscheidung hat es damit begründet, dass der vorliegende Rechtsstreit durch die vom Kläger am auch gegenüber dem Senat abgegebene Erledigungserklärung im Berufungsschriftsatz vom und im Widerspruchsschreiben vom , welches der Kläger dem Senat mit Fax vom zugeleitet habe, in vollem Umfange erledigt sei. Die Erklärung des Klägers, dass er zu keinem Zeitpunkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt habe, erledige den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 101 Abs 2, § 102 S 2 SGG). Diese Erledigungserklärung binde das Gericht und die Beteiligten als Prozesshandlung, auch wenn der Rechtsstreit materiell-rechtlich nicht erledigt sei.

4Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt die Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs nach § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG in Form des Erlasses einer Überraschungsentscheidung, weil das LSG trotz seiner Antragstellung in der mündlichen Verhandlung seine Erklärung im Schriftsatz vom sowie im Schreiben vom - entgegen dem von ihm wirklich Gewollten - als Erledigung des Rechtsstreits durch Klagerücknahme gewertet und keine Sachentscheidung getroffen habe.

5II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig, weil ihrer Begründung sinngemäß die Verfahrensrüge entnommen werden kann (vgl § 160 Abs 2 Nr 3, § 160a Abs 2 S 3 SGG), das LSG habe zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden. Diesbezüglich hat der Kläger den Verfahrensgang nachgezeichnet und geltend gemacht, dass er - entgegen der Auslegung durch das LSG - zu keinem Zeitpunkt eine Erledigungserklärung hinsichtlich seines Klageverfahrens nach dem Schwerbehindertenrecht habe abgeben wollen oder tatsächlich abgegeben habe. Tatsächlich habe er in der mündlichen Verhandlung vom die im LSG-Urteil aufgeführten Anträge gestellt, über die dieses in unzulässiger Weise nicht in Form eines Sachurteils entschieden habe. Die den behaupteten Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen sind damit hinreichend iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG bezeichnet.

6Die Beschwerde ist auch begründet, weil der behauptete Verfahrensmangel vorliegt. Das LSG hätte im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht in Form eines Prozessurteils feststellen dürfen, dass der Rechtsstreit durch Rücknahme der Klage erledigt ist. Vielmehr hätte es die betreffenden Erklärungen des Klägers entweder zu dessen Gunsten dahin auslegen müssen, dass keine Erledigung eingetreten ist. Dann hätte sich das LSG mit den vom Kläger gestellten Anträgen befassen müssen. Oder es hätte bei diesem zur Klärung des Inhalts der abgegebenen Erklärungen nachfragen müssen.

7Entgegen der Ansicht des LSG ist weder aus dem Berufungsschriftsatz vom noch aus dem am dem LSG übermittelten Schreiben des Klägers vom an den Beklagten eindeutig zu entnehmen, dass der Kläger seine am beim SG erhobene Klage zum Schwerbehindertenrecht zurückgenommen und damit diesen Rechtsstreit in der Hauptsache als erledigt angesehen hat. Mit seinem Verständnis der vom Kläger abgegebenen Erklärungen verletzt das LSG den in § 133 BGB enthaltenen Rechtsgedanken, wonach bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ist. Dies betrifft insbesondere auch Prozesshandlungen wie die Rücknahme eines Rechtsmittels (vgl -; BSGE 21, 13, 14 = SozR 5 zu § 156 SGG; BSGE 75, 92, 95 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN; - RdNr 21).

8Allerdings darf das Revisionsgericht bei materiell-rechtlichen Erklärungen nicht in die auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung des Tatsachengerichts eingreifen, sondern hat lediglich die Rechtsanwendung zu überprüfen, also festzustellen, ob die Tatsacheninstanz die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) beachtet und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN). Hingegen hat das Revisionsgericht bei Prozesserklärungen - wie der Rücknahme eines Rechtsmittels - die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, hat also "das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln" (vgl -; BSGE 21, 13, 14 = SozR 5 zu § 156 SGG; - aaO). Dementsprechend ist der Senat nicht gehindert, die hier streitigen Erklärungen des Klägers selbst auszulegen.

9Die vom LSG herangezogenen Schriftsätze des nicht rechtskundig vertretenen Klägers vom und bedürfen schon deshalb der Auslegung, weil sie keine konkrete Klagerücknahmeerklärung enthalten, sondern lediglich die Mitteilung, dass zu keinem Zeitpunkt ein Klageverfahren nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt worden sei. Dem Wortlaut nach handelt es sich nicht um prozessuale Willenserklärungen, sondern um die Behauptung von tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die zudem im Widerspruch zu den wirklichen Gegebenheiten und anderen Äußerungen des Klägers steht. Denn entgegen seiner Erklärung im Schreiben vom hat der Kläger im Schwerbehindertenverfahren am beim SG Klage erhoben und dann in seinem Berufungsschriftsatz vom (Seite 5) ua Anträge auf Feststellung seiner Behinderung nach § 69 Abs 1 bis 5 SGB IX angekündigt sowie sich gegen die von dem Beklagten erlassenen Bescheide zum Schwerbehindertenrecht gewandt. Ferner hat der Kläger ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom zum Sach- und Streitverhältnis verhandelt und die angekündigten Anträge gestellt.

10Unter diesen Umständen durfte das LSG nicht ohne Weiteres von einer wirksamen Erklärung des Klägers zur Erledigung der Hauptsache ausgehen. Es hätte vielmehr nahe gelegen, die fraglichen Äußerungen des Klägers als irrtümlich abgegeben und damit als unbeachtlich anzusehen. Zumindest hätte das LSG die bestehenden Widersprüche in den Angaben des Klägers zum Anlass nehmen müssen, den Kläger nach dem von ihm wirklich Gewollten zu fragen und eine eindeutige Erklärung zu Protokoll zu nehmen (vgl § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 SGG).

11Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der ihm durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

12Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2012:251012BB9SB7011B0

Fundstelle(n):
ZAAAH-24263