BGH Beschluss v. - StB 1/19

Untersuchungshaft: Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen; Besonderheiten auf Grund lang zurückliegender Taten, stets erfüllter Haftverschonungsauflagen sowie erheblicher Beeinträchtigung des Freizügigkeitsrechts des Beschuldigten auf Grund Trennung von der im Ausland lebenden Familie

Gesetze: Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 112 StPO, § 116 Abs 1 Nr 1 StPO, § 116 Abs 1 Nr 2 StPO, § 120 Abs 1 Alt 1 StPO, § 120 Abs 1 Alt 2 StPO

Gründe

I.

1Der Beschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls vom am am Flughafen London Heathrow festgenommen und am an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Er befand sich bis zum in Untersuchungshaft; an diesem Tag wurde der Haftbefehl mit Beschluss vom selben Tage gegen Auflagen (u.a. Wohnsitznahme in München, wöchentlich 3-malige Meldung, Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000 €, Hinterlegung des Reisepasses) außer Vollzug gesetzt. Mit Beschluss vom wurde die Meldeauflage dahin geändert, dass sich der Beschuldigte nur noch einmal in der Woche bei der Polizei melden müsse.

2Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich im Tatzeitraum durch seine Tätigkeit als Verantwortlicher für das Gebiet M.    an der Organisation "Liberation Tigers of Tamil Eelam" (im Folgenden: LTTE) und damit an einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach den §§ 129a, 129b StGB als Mitglied beteiligt.

3Nachdem auch bis zum keine Anklage gegen den Beschuldigten erhoben worden war, beantragte sein Verteidiger die Aufhebung des Haftbefehls. Diesen Antrag wies die Ermittlungsrichterin des zurück; dagegen richtet sich die Beschwerde des Beschuldigten vom .

II.

4Die Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen für den Fortbestand des Haftbefehls sind nicht mehr gegeben, weil dieser unverhältnismäßig geworden ist. Im Einzelnen:

51. Gegen den Beschuldigten besteht zwar aus den in dem Haftbefehl niedergelegten Gründen weiterhin der dringende Tatverdacht, er habe sich im Tatzeitraum vom bis zum als Gebietsverantwortlicher für die LTTE betätigt und insbesondere Spenden der in seinem Gebiet ansässigen Tamilen in Höhe von insgesamt knapp 40.000 € eingesammelt und an die in Deutschland eingerichtete Unterorganisation der LTTE, das "Tamil Coordination Committee" (im Folgenden: TCC) in O.       weitergeleitet. Die Spendensammlungen hat der Beschuldigte durch Verteidigererklärung vom auch ausdrücklich eingeräumt.

6Bei dieser Tat handelt es sich um ein Verbrechen nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Sätze 1 und 2 StGB. Selbst wenn die Würdigung der Tathandlungen ergäbe, dass dem Beschuldigten lediglich eine Unterstützung der LTTE zur Last gelegt werden könnte, würde die Tat grundsätzlich schwer wiegen.

72. Es kann offen bleiben, ob der Haftgrund der Fluchtgefahr oder derjenige der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) noch besteht, weil die Aufrechterhaltung des Haftbefehls jedenfalls wegen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen unverhältnismäßig geworden ist.

8Die in Haftsachen zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben, die dazu dienen, das Spannungsverhältnis zwischen den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen und dem Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - aufzulösen, gelten nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl, sondern sind auch - wie vorliegend - für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl von Bedeutung (, NJW 2006, 668, 669; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 116 Rn. 1 mwN). Dieser ist aufzuheben, wenn seine Aufrechterhaltung trotz Aussetzung des Vollzugs unverhältnismäßig ist, weil auch die Haftverschonungsauflagen erhebliche Grundrechtseingriffe beinhalten können. In diesem Zusammenhang ist auch das Beschleunigungsprinzip bedeutsam, dessen Verletzung durch eine vermeidbare Verfahrensverzögerung der Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht zur Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zwingt, weil eine Abwägung aller bedeutsamen Gesichtspunkte erforderlich ist. Die Aufhebung des Haftbefehls kann aber erforderlich sein, wenn eine Reduzierung der Haftverschonungsauflagen nicht ausreicht, weil selbst deren Fortdauer wegen der damit immer noch verbundenen erheblichen Einschränkungen der Freizügigkeit nach einer Gesamtabwägung nicht mehr hinnehmbar wäre. So verhält es sich hier:

9Die dem Beschuldigten gemäß § 116 StPO erteilten Anweisungen, insbesondere die Wohnsitz- und Meldeauflage, führen seit mehr als einem Jahr und zwei Monaten - in diesem Zeitraum ist der Beschuldigte allen ihm erteilten Auflagen nachgekommen - zu einer nicht unerheblichen Einschränkung seiner Freizügigkeit, insbesondere lebt er von seiner Familie, die sich in London niedergelassen hat, getrennt.

10Die Straftaten des Beschuldigten liegen - wie oben ausgeführt - lange zurück; seine Rolle in der Vereinigung war nach dem vorläufigen Ermittlungsergebnis nicht besonders hervorgehoben und von der LTTE, die mittlerweile jedenfalls in Sri Lanka nach ihrer Zerschlagung im Jahr 2009 nicht mehr aktiv ist, geht aktuell keine terroristische Gefahr aus. Aus diesen Gründen kommt dem Strafverfolgungsinteresse eine den Bestand des Haftbefehls rechtfertigende Bedeutung jedenfalls unter Berücksichtigung des Verfahrensgangs nicht mehr zu. Dieser ist davon geprägt, dass die verfahrensgegenständlichen Zahlungen bereits bei Abgabe des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt im September 2014 weitgehend ermittelt waren. Nach Übernahme des Verfahrens durch die Generalstaatsanwaltschaft München wurde das Verfahren in Bezug auf den Beschuldigten bis zum - soweit ersichtlich - nicht gefördert. Nachdem am der Haftbefehl gegen den Beschuldigten ergangen war, wurde er Ende Oktober 2017 in Auslieferungshaft genommen und am an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert, am Folgetag wurde ihm der Haftbefehl eröffnet, der mit Beschluss vom außer Vollzug gesetzt wurde. Mit Schreiben vom kündigte die Generalstaatsanwaltschaft München gegenüber dem Pflichtverteidiger des Beschuldigten an, dass die Ermittlungen vor dem Abschluss stehen würden und gab Gelegenheit zur Abgabe einer Einlassung oder einer Stellungnahme. Der Pflichtverteidiger gab für den Beschuldigten nach Fristverlängerung am eine Erklärung ab. Mit Verfügung vom erteilte die Generalstaatsanwaltschaft München dem Bayerischen Landeskriminalamt den Auftrag, Nachermittlungen durchzuführen, insbesondere zur Rolle des Beschuldigten als Gebietsverantwortlicher. Diesen Auftrag wiederholte der zuständige Oberstaatsanwalt im Wesentlichen durch Verfügung vom , nachdem am gleichen Tag eine dienstliche Besprechung mit dem zuständigen Ermittlungsbeamten beim Landeskriminalamt stattgefunden hatte. Ermittlungsergebnisse sind hingegen weder vor dem noch in den sieben Monaten seitdem zur Akte gelangt. Somit bestehen keine Anhaltspunkte, dass mit einem zeitnahen Abschluss des Ermittlungsverfahrens bzw. mit einer zeitnahen Anklageerhebung zu rechnen ist.

11Nach alledem sind auch die den Beschuldigten wesentlich in seiner Freizügigkeit beeinträchtigenden Maßnahmen, insbesondere die Wohnsitznahmeverpflichtung in München, die sein Zusammenleben mit seiner Familie in London verhindert, nicht mehr verhältnismäßig; der Haftbefehl war deshalb insgesamt aufzuheben.

Schäfer                      Gericke                       Hoch

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2019:070219BSTB1.19.0

Fundstelle(n):
MAAAH-23868