BAG Urteil v. - 4 AZR 587/17

Auslegung einer Tarifregelung - persönlicher Geltungsbereich - Stufenzuordnung nach dem VergRTV

Gesetze: § 1 TVG

Instanzenzug: Az: 11 Ca 321/16 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen Az: 6 Sa 104/17 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die zutreffende Stufenzuordnung des Klägers und daraus resultierende Entgeltdifferenzansprüche.

2Der Kläger, Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di, war ab dem beim T H e.V. und ab 1992 beim T S e.V. beschäftigt. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts waren beide Arbeitgeber Mitglied der Tarifgemeinschaft Technischer Überwachungsvereine e.V. (TGTÜV). Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging im Wege eines Teilbetriebsübergangs zum auf die T N GmbH, die erst im Jahr 2012 der TGTÜV beitrat, über. Anschließend war er seit dem bei der Beklagten beschäftigt. Diese ist Mitglied der TGTÜV. Der zugrunde liegende Arbeitsvertrag vom lautet auszugsweise wie folgt:

3Der zwischen der TGTÜV und ver.di geschlossene Vergütungsrahmentarifvertrag vom (VergRTV) idF des Tarifvertrags über die Wiederinkraftsetzung des VergRTV vom enthält ua. folgende Regelungen:

4Das Arbeitsverhältnis des Klägers endete altersbedingt mit Ablauf des Monats November 2015. Er war für alle Arbeitgeber als Maschinenbautechniker im Bereich Umweltschutz und Energietechnik jeweils mit vergleichbaren Tätigkeiten tätig.

5Der Kläger begehrt die Zahlung von Entgeltdifferenzen zwischen der geleisteten Vergütung nach Tätigkeitsgruppe E Stufe 2 VergRTV und einer solchen nach deren Stufe 3 für den Zeitraum vom bis zum . Er habe bei einem anderen Mitglied der Tarifgemeinschaft mehr als 17 Jahre eine vergleichbare Tätigkeit ausgeübt. Deshalb stehe ihm gemäß § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV die Stufe 3 der Tätigkeitsgruppe E VergRTV zu.

6Der Kläger hat zuletzt beantragt,

7Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV sei - anders als Satz 1 der Bestimmung - nur für Mitarbeiter anwendbar, die ab dem eingestellt würden. Darüber hinaus liege eine anrechenbare Vorbeschäftigungszeit nur dann vor, wenn diese unmittelbar vor der Einstellung bei einem Mitglied der Tarifgemeinschaft erbracht worden wäre. Das sei bei dem Kläger aufgrund der Tätigkeit bei der damals nicht tarifgebundenen T N GmbH nicht der Fall. Dieses Verständnis werde durch eine Tarifauskunft der TGTÜV bestätigt.

8Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer durch das Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

Gründe

9Die zulässige Revision ist unbegründet. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage zu Recht stattgegeben.

10I. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist allerdings wegen eines von Amts wegen zu beachtenden Verstoßes gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO rechtsfehlerhaft. Es hat der Klage auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit der tarifvertraglichen Vorschriften aufgrund arbeitsvertraglicher Inbezugnahme stattgegeben, obwohl der Kläger seinen Anspruch in den Tatsacheninstanzen lediglich auf die beiderseitige Tarifgebundenheit gestützt hat. Damit hat das Landesarbeitsgericht über einen Streitgegenstand entschieden, der nicht zur Entscheidung gestellt war (vgl.  - Rn. 74, BAGE 158, 54; - 4 AZR 457/09 - Rn. 15). Das Urteil ist daher - ohne dass es eines förmlichen Entscheidungsausspruchs bedurfte - zu berichtigen, um eine sonst eintretende Rechtskraft auszuschließen (vgl.  - Rn. 23, BAGE 151, 235).

11II. Die Klage ist begründet. Für die Vergütung des Klägers war in der Zeit vom bis zum Tätigkeitsgruppe E Stufe 3 VergRTV zugrunde zu legen. Ihm steht daher ein Anspruch auf Zahlung weiterer Vergütung in zwischen den Parteien unstreitiger Höhe von 3.790,83 Euro brutto nebst Zinsen gegen die Beklagte zu.

121. Der VergRTV fand kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Der Kläger unterfällt dem persönlichen Geltungsbereich des § 1 Nr. 3 VergRTV. Sein Arbeitsverhältnis hat nach dem begonnen.

132. Der Geltungsbereich des § 3 Nr. 4 VergRTV ist nicht auf Arbeitsverhältnisse beschränkt, die nach dem begonnen haben. Durch den Zusatz „(ab :)“ haben die Tarifvertragsparteien ausschließlich das (spätere) Inkrafttreten der Regelung festgelegt. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrags (zu den Maßstäben etwa  - Rn. 19).

14a) Entgegen der Auffassung der Beklagten bezieht sich der der Nr. 4 des § 3 VergRTV vorangestellte Zusatz „(ab :)“ schon nach dem Wortlaut weder auf den Beginn eines Arbeitsverhältnisses noch in anderer Weise auf den an anderer Stelle festgelegten persönlichen Geltungsbereich des VergRTV (§ 1 Nr. 3 VergRTV). Die Tarifregelung ist - anders als die Revision es meint - auch nicht zukunftsbezogen formuliert. Der Halbsatz „ebenso wird die Stufe 3 für den Mitarbeiter zugrunde gelegt“ in Satz 2 ist kein Ausdruck des Futur, sondern des Passiv. Diese Formulierung wird in § 3 Nr. 4 Satz 1 VergRTV gleichlautend verwendet. Das spricht weiterhin gegen die von der Beklagten vertretene Auffassung, lediglich für Satz 2 erfolge durch den vorangestellten Zusatz - der zudem der gesamten Nr. 4 und damit beiden Fallgestaltungen vorangestellt ist - eine Geltungsbereichsbestimmung.

15b) Dieses Ergebnis wird durch die Tarifsystematik bestätigt. Ein gleichlautender Zusatz - „(ab :)“ - wird an mehreren Stellen des VergRTV verwendet, um - abweichend vom Inkrafttreten des Tarifvertrags über die Wiederinkraftsetzung des VergRTV zum (§ 7 Abs. 1 VergRTV) - erst ab dem geltende Änderungen kenntlich zu machen. Es fehlt an Anhaltspunkten, dass die Tarifvertragsparteien dem in verschiedenen Bestimmungen des Tarifvertrags aufgenommenen Zusatz eine unterschiedliche Bedeutung zumessen wollten.

16c) Allein die Anwendung von § 3 Nr. 4 Satz 1 und Satz 2 VergRTV ab dem auf alle Arbeitnehmer, die von § 1 Nr. 3 VergRTV erfasst werden, führt zu vernünftigen und praktisch brauchbaren Ergebnissen. Anderenfalls könnte ein Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Arbeitgebers im Dezember 2012 die Stufe 3 erst im Jahr 2024 erreichen, während bei einem Wechsel im Januar 2013 diese sofort zugrunde gelegt werden müsste. Arbeitnehmer, die vor dem Beginn des Jahres 2012 ihr Arbeitsverhältnis bei der Beklagten begonnen hätten, würden unabhängig von der Beschäftigungsdauer gänzlich von dem weiteren Stufenaufstieg ausgeschlossen.

173. Der Kläger erfüllt auch die weiteren Voraussetzungen nach § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV.

18a) Er hat vor dem Beginn seiner Beschäftigung bei der Beklagten eine vergleichbare Berufspraxis von mindestens 17 Jahren erworben. Ihm waren nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts während der Beschäftigungszeit bei zwei anderen Mitgliedern der TGTÜV von 1975 bis 2001 vergleichbare Tätigkeiten übertragen.

19b) Diese Berufspraxis hat er „bei einem anderen Mitglied der Tarifgemeinschaft“ iSd. § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV erworben. Deren Berücksichtigung steht nicht entgegen, dass der Kläger in dieser Zeit nicht lediglich bei einem, sondern bei zwei Arbeitgebern tätig war.

20aa) Der Wortlaut des § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV „bei einem anderen Mitglied“ könnte zwar auch dahin verstanden werden, das die Beschäftigung „ausschließlich bei einem“ Mitglied erfolgt sein muss. Dem Wort „einem“, als Dativ von „ein“, kann aber neben einem rein numerischen Verständnis auch nach dem Gesamtzusammenhang die Bedeutung eines unbestimmten Zahlworts zukommen.

21bb) Aus der Systematik der Vorschrift ergibt sich, dass die Berufspraxis auch bei mehreren Arbeitgebern erworben werden kann. Die Beschränkung „bei einem anderen Mitglied der Tarifgemeinschaft“ soll ausschließen, dass erworbene Berufserfahrung aus Arbeitsverhältnissen zu Arbeitgebern, die nicht Mitglied der TGTÜV sind, berücksichtigt wird. Die Formulierung dient der Abgrenzung zu der Formulierung „beim Mitglied“ in § 3 Nr. 4 Satz 1 VergRTV.

22c) Die Berufspraxis kann auch dann Berücksichtigung finden, wenn der Arbeitnehmer - wie vorliegend der Kläger - unmittelbar vor seiner Einstellung bei der Beklagten nicht bei einem Mitglied der Tarifgemeinschaft beschäftigt war und die erforderliche Berufspraxis bereits früher erworben worden ist. Es ist nicht erforderlich, dass er unmittelbar zuvor bei einem oder mehreren Mitgliedern der Tarifgemeinschaft beschäftigt war.

23aa) Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich bereits nicht entnehmen, dass eine Unterbrechung der Beschäftigung für die Anrechnung der Beschäftigungszeit schädlich wäre. § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV trifft über Unterbrechungen von Vorbeschäftigungszeiten bei Mitgliedern der Tarifgemeinschaft keine Aussage.

24bb) Aus der Systematik des § 3 Nr. 4 VergRTV ergibt sich, dass vorangegangene Unterbrechungen der Beschäftigungen bei einem anderen Mitglied der Tarifgemeinschaft für die Berücksichtigung der erworbenen Berufspraxis unschädlich sind. Während für ein Erreichen der Stufe 3 nach § 3 Nr. 4 Satz 1 VergRTV eine „ununterbrochene“ Beschäftigung Voraussetzung ist, findet sich diese Formulierung in dem unmittelbar darauffolgenden Satz 2 gerade nicht wieder. Indem die Tarifvertragsparteien für die Regelung eines ähnlichen Sachverhalts eine differenzierte Terminologie verwenden, ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass sie unterschiedliche Sachverhaltsgestaltungen erfassen wollen (allg.  - Rn. 21 mwN).

25cc) Sinn und Zweck der Vorschrift gebieten kein anderes Auslegungsergebnis. Der Einwand der Beklagten, bei einer Unterbrechung wäre aus der erworbenen Berufspraxis für das Arbeitsverhältnis bei dem neuen Arbeitgeber ein „völlig unterschiedlicher verwertbarer Produktivitätsanteil abzuleiten“, mag in einzelnen Fallgestaltungen zutreffen. Allein deshalb führt das gewonnene Auslegungsergebnis aber nicht zu einer gleichheits- und sachwidrigen Differenzierung (zu den Beurteilungsmaßstäben  - Rn. 29 ff., BAGE 151, 235). Die Tarifvertragsparteien des VergRTV haben für die Einstufung auf eine erworbene Berufserfahrung durch eine vorangegangene vergleichbare Tätigkeit abgestellt. Sie konnten in Anwendung des ihnen zustehenden Gestaltungsspielraums davon ausgehen, dass eine über den langen Zeitraum von 17 Jahren gewonnene Berufspraxis in einer vergleichbaren Tätigkeit auch dann, wenn Unterbrechungen vorgelegen haben sollten, typischerweise ab Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses bei einem anderen Mitglied der Tarifgemeinschaft verwertbar sind (vgl.  - Rn. 35, BAGE 144, 263). Soweit sich die Beklagte für ihre andere Auffassung auf eine tarifpolitische Zielsetzung stützt, Arbeitnehmer möglichst zur ununterbrochenen Fortsetzung eines Beschäftigungsverhältnisses innerhalb der der Tarifgemeinschaft anzuhalten, hat dies im Wortlaut keinen Niederschlag gefunden (oben II 3 c aa).

26dd) Für die Einstufung nach § 3 Nr. 4 Satz 2 VergRTV kommt es lediglich auf eine „Berufspraxis“ aufgrund vergleichbarer Tätigkeit an. Nicht erforderlich ist, dass diese in einem Arbeitsverhältnis im Geltungsbereich des VergRTV erworben wurde (vgl.  - Rn. 29; - 4 AZR 1005/06 - Rn. 42 ff., BAGE 124, 240).

27d) Aus der von der Beklagten vorgelegten „Tarifauskunft“ der TGTÜV vom ergibt sich nichts anderes. Sie ist auf die Beantwortung der prozessentscheidenden Rechtsfrage - Auslegung des Tarifwortlauts „vor der Einstellung“ - und daher auf eine unzulässige Fragestellung gerichtet. Die Auslegung von Tarifverträgen und tariflichen Begriffen ist Sache der Gerichte für Arbeitssachen ( - Rn. 44; - 4 AZR 41/14 - Rn. 37).

284. Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 288 Abs. 1, § 291 BGB.

29III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:100419.U.4AZR587.17.0

Fundstelle(n):
IAAAH-23382