Erörterung einer überlangen Verfahrensdauer in Urteilsgründen notwendig
Gesetze: § 243 Abs 3 S 1 StPO, § 267 Abs 3 S 1 StPO, Art 6 Abs 1 MRK
Instanzenzug: LG Essen Az: 27 KLs 27/17
Gründe
1Das Landgericht hatte die Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (K. C. ) bzw. gefährlicher Körperverletzung (Ka. C. ) zu Freiheitsstrafen verurteilt. Mit Beschluss vom (4 StR 35/17) hob der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen auf. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten K. C. wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie den Angeklagten Ka. C. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ferner hat es Kompensationsentscheidungen getroffen.
2Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg und führen zur Aufhebung der Strafaussprüche. Im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
31. Die formgerecht ausgeführte Verfahrensrüge einer Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO hat keinen Erfolg. Insoweit bemerkt der Senat:
4a) Gemäß § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der Anklagesatz durch den Staatsanwalt zu verlesen. Die Verlesung des Anklagesatzes ist wesentliches Verfahrenserfordernis und elementarer Teil der Hauptverhandlung, deren Unterlassung im Allgemeinen schon deshalb die Revision begründet (vgl. , NJW 2006, 3582, 3586). Darüber hinaus dient die Verlesung dem Zweck, den Angeklagten, die ehrenamtlichen Richter und die Öffentlichkeit über die Einzelheiten des Tatvorwurfs zu unterrichten (vgl. , juris Rn. 4). Dem Angeklagten soll durch die Verlesung der Anklage der Tatvorwurf in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht aktuell vor Augen geführt werden, damit klar wird, wogegen er sich verteidigen kann (vgl. LR-StPO/Becker, 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Auf die Verlesung kann nicht verzichtet werden; sie hat grundsätzlich vor Eintritt in die Beweisaufnahme zu erfolgen (LR-StPO/Becker, aaO).
5Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für eine Hauptverhandlung nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht (vgl. LR-StPO/Becker, aaO, § 243 Rn. 51). Einschränkungen können sich in dieser besonderen prozessualen Konstellation gegebenenfalls infolge eingetretener Teilrechtskraft oder aufgrund sonstiger Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO ergeben (vgl. aaO). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des Anklagesatzes das in Teilrechtskraft erwachsene Urteil sowie die Revisionsentscheidung zu verlesen.
6b) Gemessen hieran entsprach die vom Vorsitzenden gewählte Vorgehensweise, im Rahmen des Berichts über den bisherigen Verfahrensgang zunächst die Feststellungen aus dem im ersten Rechtsgang ergangenen Urteil vom sowie die Revisionsentscheidung des Senats und erst hieran anschließend – anstelle des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft – den Anklagesatz zu verlesen, angesichts der gewählten Reihenfolge sowie des Umstands, dass nicht der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, sondern der Vorsitzende den Anklagesatz verlesen hat, nicht den gesetzlichen Vorgaben.
7Der Senat vermag jedoch auszuschließen, dass das angegriffene Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Die gewählte Verfahrensweise beeinträchtigte die der Verlesung des Anklagesatzes zugedachte Funktion, die Angeklagten vor Eintritt in die Beweisaufnahme in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht vollständig über den Tatvorwurf zu informieren, um ihnen eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen, nicht. Auch die Schöffen und die Öffentlichkeit wurden ausreichend über den Gegenstand des Verfahrens informiert.
8Soweit die Revisionen darauf hinweisen, dass ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler nicht auszuschließen sei, weil die Schöffen durch die Verlesung des aufgehobenen Urteils und die hierin liegende Vermittlung von Aktenkenntnis zum Nachteil der Angeklagten beeinflusst worden sein könnten, wäre dies keine Folge eines Verfahrensverstoßes gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dass der Vorsitzende (auch) das im ersten Rechtsgang ergangene Urteil sowie die darauf bezogene Entscheidung des Senats verlesen hat, begegnet unabhängig davon für sich genommen auch keinen rechtlichen Bedenken (vgl. , GA 1976, 368).
92. Hingegen halten die Strafaussprüche rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Strafzumessungserwägungen sind lückenhaft.
10Das Landgericht hat nicht erkennbar bedacht, dass zwischen den verfahrensgegenständlichen Taten und dem Urteil ein langer zeitlicher Abstand von rund fünf Jahren liegt. Ein erheblicher zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil ist neben dem strafmildernd wirkenden Gesichtspunkt überdurchschnittlich langer Verfahrensdauer und dem rechtsfehlerfrei festgestellten Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 MRK ein bestimmender Strafmilderungsgrund (vgl. , NStZ 1999, 181, 182) und gemäß § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in den Urteilsgründen zu erörtern (vgl. , juris Rn. 49; Beschlüsse vom – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7; vom – 3 StR 157/08, juris Rn. 7).
11Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass sich der aufgezeigte Rechtsfehler auf die Höhe der Einzelstrafen und die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe ausgewirkt hat. Da es sich um einen reinen Wertungsfehler handelt, können die Feststellungen bestehen bleiben (vgl. KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., § 353 Rn. 23). Ergänzende Feststellungen sind möglich, sofern sie den bislang getroffenen Feststellungen nicht widersprechen.
12Die Kompensationsentscheidung bleibt von der Aufhebung unberührt. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird erforderlichenfalls zu prüfen haben, ob die Kompensation zu erhöhen ist.
133. Der Senat hat das Verfahren gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts Dortmund verwiesen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:061218B4STR424.18.0
Fundstelle(n):
WAAAH-07883