Nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung
Leitsatz
1. Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab (wie 4 B 215.95 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 131).
2. Wollte der Plangeber die Planbetroffenen mit den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden, sind diese Festsetzungen nachbarschützend. Dies gilt auch, wenn der Plangeber die nachbarschützende Wirkung im Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte.
Gesetze: § 31 Abs 2 BauGB, Art 14 GG
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: OVG 10 B 10.15 Urteilvorgehend Az: 13 K 306.12 Urteil
Tatbestand
1Der Kläger wendet sich gegen in Aussicht gestellte Befreiungen in einem der Beigeladenen erteilten Bauvorbescheid.
2Der Kläger, ein Segelverein, ist Eigentümer eines Grundstücks in Berlin, das, direkt am Großen Wannsee gelegen, mit einem Vereinshaus sowie Wassersportanlagen bebaut ist und für Vereinszwecke genutzt wird. Die Beigeladene ist Eigentümerin eines unmittelbar benachbarten Ufergrundstücks. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des übergeleiteten Bebauungsplans X-4 aus dem Jahr 1959, geändert durch den Textbebauungsplan X-A aus dem Jahr 1971. Sie sind Teil eines Gebiets, den der Bebauungsplan als Sonderzweckfläche für den Wassersport ausweist. In den Planergänzungsbestimmungen ist für diese Sonderzweckfläche u.a. als Maß der baulichen Nutzung eine größte Baumasse von 1,0 cbm umbauten Raumes je qm Baugrundstück, offene Bauweise und als zulässige Geschosszahl zwei Vollgeschosse festgesetzt.
3Die Beigeladene beabsichtigt, nach (mittlerweile erfolgtem) Abriss der Bestandsbebauung auf ihrem Grundstück ein Wohnhaus mit Gewerbeanteil und Tiefgarage zu errichten. Das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf des Beklagten erteilte ihr dafür einen Bauvorbescheid und kündigte darin die Zustimmung zu Befreiungen nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB für diverse Abweichungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans an.
4Der Kläger hat nach erfolglosem Widerspruch Klage gegen den Vorbescheid erhoben, soweit darin Befreiungen für die Überschreitung der zulässigen Zahl der Vollgeschosse von zwei auf sechs und der zulässigen Baumassenzahl von 1,0 auf 4,30 in Aussicht gestellt worden sind. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beigeladenen zurückgewiesen (NVwZ-RR 2018, 598).
5Mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beigeladene die Abweisung der Klage. Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil.
Gründe
6Die Revision der Beigeladenen ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht entschieden, dass der Vorbescheid hinsichtlich der in Aussicht gestellten Befreiungen von der im Bebauungsplan X-4 festgesetzten zulässigen Baumassenzahl und der zulässigen Zahl der Vollgeschosse nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben ist, weil er insoweit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Klägers durch die Geltendmachung des Aufhebungsanspruchs hat es im Einklang mit Bundesrecht verneint.
71. Der Bauvorbescheid ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig. Die vom Beklagten in Aussicht gestellten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans X-4 zur Zahl der Vollgeschosse und zur Baumassenzahl sind von § 31 Abs. 2 BauGB nicht gedeckt, weil die Abweichungen die Grundzüge der Planung berühren.
8Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, einer der in Nr. 1 bis 3 genannten Tatbestände erfüllt ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Grundzüge der Planung ergeben sich aus der den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrunde liegenden und in ihnen zum Ausdruck kommenden planerischen Konzeption. Ob sie berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto näher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist ( 4 C 10.19 - BVerwGE 138, 166 Rn. 37). Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben ( 4 B 5.99 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39 S. 2).
9Das Oberverwaltungsgericht hat sich an der Senatsrechtsprechung orientiert. Es hat unter Bezugnahme auf die Planbegründung dem Bebauungsplan X-4 das zentrale Anliegen des Plangebers entnommen, durch Festsetzungen zum Nutzungsmaß, insbesondere die Beschränkung der Zahl der Vollgeschosse, aber auch die Baumassenzahl für die in der Sondergebietsfläche für den Wassersport liegenden Grundstücke, das Landschaftsbild an dieser herausragenden Stelle zu schützen und den Gebietscharakter zu erhalten, wobei es um die Stärkung von Grünflächen und die Begrenzung der Bebauung unabhängig von der Art der baulichen Nutzung oder ihrem ästhetischen Erscheinungsbild gegangen sei. Das Konzept eines "grünen Uferbereichs" sei im Wesentlichen verwirklicht worden und habe auch heute noch Bestand. Von der Wasserseite betrachtet vermittle der Uferbereich am Großen Wannsee den Eindruck einer grünen, naturbetonten Landschaft, in der die Bebauung merklich zurücktrete und die einzelnen Gebäude, sofern sie nicht weitgehend durch Bäume verdeckt würden, unter der Baumgrenze blieben. Der Blick werde durch die Wasserfläche des Großen Wannsee und - jedenfalls im Sommer - die an den Steganlagen liegenden Boote sowie dem Wassersport zuzurechnenden Anlagen dominiert, wobei die Ufergrundstücke des Plangebiets Teil dieses einheitlich wirkenden Landschaftsbildes seien. Das beabsichtigte Vorhaben, das auf einen von der Beigeladenen ausgelobten Architektenwettbewerb zurückgehe, halte sich nicht in dem vom Plangeber gesetzten Rahmen, sondern berühre die Grundzüge der Planung. Die Auswahlkommission attestiere dem einstimmig favorisierten Vorhaben einen morphologischen Bruch mit der Umgebung, bescheinige dem Solitär jedoch die Eignung, der Umgebung eine neue Ordnung zu geben und sie so zu erden. Diese Bewertung mache deutlich, dass dem Vorhaben als städtebauliche Dominante eine Schlüsselfunktion für eine neue städtebauliche Ordnung zukommen solle. Auf der Grundlage dieser tatrichterlichen Feststellungen lässt sich die Folgerung des Oberverwaltungsgerichts, dass die in Aussicht gestellten Befreiungen Grundzüge der Planung berührten, rechtlich nicht beanstanden.
10Die Beigeladene bestreitet, dass dem Bebauungsplan X-4 das vom Oberverwaltungsgericht ermittelte Planungskonzept zugrunde liege. Weil zum Zeitpunkt der Planaufstellung zwischen Berlin-Blockade und Mauerbau niemand mehr mit einem Neubau von Villen am Wannsee gerechnet habe, sei es kein zentrales Anliegen des Plangebers gewesen, den Wohnungsbau mit Maßbegrenzungen zu belegen. Dem Plangeber sei es allein darum gegangen, die aus Wellblech bestehenden Bootslagerhallen einer Begrenzung des Maßes der baulichen Nutzung zu unterwerfen und sie durch den zum Ufer hin vorgelagerten Grünstreifen zu kaschieren. Ob die Kritik der Beigeladenen an der Beschreibung des Planungskonzepts berechtigt ist, muss der Senat nicht entscheiden; denn er ist an die vorinstanzliche Auslegung des Bebauungsplans nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO gebunden (vgl. 4 B 5.99 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39 S. 3).
112. Die in Aussicht gestellten rechtswidrigen Befreiungen verletzen den Kläger auch in seinen Rechten als Grundstücksnachbar.
12Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass gegen eine fehlerhafte Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben ist, dass also bei nachbarschützenden Festsetzungen jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung einer Baugenehmigung oder eines Bauvorbescheids führen muss, während eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung einen Abwehranspruch des Nachbarn nur auslöst, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf seine nachbarlichen Interessen genommen hat. Das steht mit der Rechtsprechung des Senats ( 4 B 64.98 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 153 S. 70 f.) im Einklang.
13Das Oberverwaltungsgericht hat die Festsetzungen zur Vollgeschoss- und Baumassenzahl im Bebauungsplan X-4 als nachbarschützend angesehen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats ( 4 B 52.95 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 128) hat es den Nachbarschutz nicht dem Bundesrecht entnommen. Auch ist es - anders als das Verwaltungsgericht - nicht der Ansicht des Klägers gefolgt, dass hier "Quantität in Qualität" umschlage (vgl. 4 C 3.94 - NVwZ 1995, 899) und daher der Sache nach die Art der baulichen Nutzung betroffen sei, deren Festsetzung grundsätzlich kraft Bundesrechts nachbarschützende Funktion hat ( 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <155>). Den nachbarschützenden Charakter der Maßfestsetzungen hat es unmittelbar aus dem Bebauungsplan X-4 abgeleitet.
14Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt nach der vom Oberverwaltungsgericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Senats ( 4 B 215.95 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 131 S. 12) vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab. Nach den für den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen der Vorinstanz haben Fragen des nachbarschützenden Charakters bauplanerischer Festsetzungen bei der Aufstellung und Inkraftsetzung des Bebauungsplans X-4 im Bewusstsein des Plangebers allerdings keine Rolle gespielt, weil der Gedanke des Nachbarschutzes im öffentlichen Baurecht erst ab 1960 entwickelt worden sei. Das Oberverwaltungsgericht sieht darin keinen Grund für die Versagung von Drittschutz: Auf die konkreten subjektiven Vorstellungen des Planungsträgers könne es allein nicht ankommen, weil dieser trotz seines weiten planerischen Spielraums nicht völlig frei sei, sondern die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 14 GG zu beachten habe. Daher seien der Bebauungsplan und der darin inhaltlich zum Ausdruck gebrachte Planungswille unabhängig von den konkreten Vorstellungen des historischen Plangebers auf der Grundlage des heutigen Verständnisses von den Aufgaben der Bauleitplanung und dem System des baurechtlichen Nachbarschutzes unter Berücksichtigung von Art. 14 GG auszulegen. Maßfestsetzungen kämen deshalb drittschützende Wirkung zu, wenn sie nach dem Planungskonzept Bestandteil eines wechselseitigen nachbarlichen Austauschverhältnisses seien.
15Der Senat folgt dem Oberverwaltungsgericht darin, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dann drittschützende Wirkung entfalten können, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein und so auch hier an einen nachbarlichen Drittschutz noch nicht gedacht hat. Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen ist ( 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <375>). Dieser Gedanke prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung ( a.a.O. S. 374 und vom - 4 C 23.98 - Buchholz 406.12 § 9 BauNVO Nr. 7 S. 3 f.), sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen (vgl. 4 B 52.95 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 128 S. 10). Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümern zu. Daraus folgt unmittelbar, dass der einzelne Eigentümer die Maßfestsetzungen aus einer eigenen Rechtsposition heraus auch klageweise verteidigen kann (vgl. 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <376>).
16Der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen. Es entspricht allgemeiner Rechtsüberzeugung, dass das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, dass es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz ist das Ergebnis einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, welche hierbei von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht ( 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <376>). Das Oberverwaltungsgericht durfte daher auf den Beschluss des Senats vom - 4 B 215.95 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 131 S. 12) Bezug nehmen, in dem der Senat spätestens anerkannt hat, dass die Gemeinde als Planungsträger befugt ist, Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung mit nachbarschützender Wirkung auszustatten. Das planerische Konzept lässt der Drittschutz unberührt. Er führt also nicht dazu, dass dem Konzept nachträglich ein Inhalt beigemessen wird, der mit dem Willen des Plangebers nicht mehr übereinstimmt. Er erlaubt nur, dass ein Nachbar Verstöße gegen dieses Konzept, wie es in den Maßfestsetzungen zum Ausdruck gekommen ist, geltend machen darf.
17Mindestens missverständlich ist dagegen die vom Oberverwaltungsgericht vorgenommene Verknüpfung des Nachbarschutzes mit Art. 14 GG. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verkannt, dass Art. 14 GG weder den Gesetz- noch den Plangeber dazu verpflichtet, Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung drittschützenden Charakter beizulegen. Es könnte aber zum Ausdruck gebracht haben, dass Art. 14 GG dazu nötigt, Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung drittschutzfreundlich auszulegen. In diesem Fall wäre ihm zu widersprechen. Ob der Plangeber eine Maßfestsetzung auch zum Schutze des Nachbarn trifft oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet, darf er regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden ( 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <155>). Dagegen dürfte nicht zu beanstanden sein, wenn das Oberverwaltungsgericht dem Eigentumsrecht des Bauwilligen das Verbot entnehmen wollte, auch solchen Festsetzungen Drittschutz beizulegen, an deren Einhaltung Dritte kein berechtigtes Interesse haben können (vgl. 4 B 137.91 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 104 S. 80).
18Sollte das Oberverwaltungsgericht von einem unzutreffenden Verständnis dessen ausgegangen sein, was aus Art. 14 GG zugunsten des Drittschutzes folgt, würde das Urteil darauf nicht im Sinne des § 137 Abs. 1 VwGO beruhen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Plankonzeption dargestellt, die nach seinem Verständnis dem Bebauungsplan X-4 zugrunde liegt, und daraus auf ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis geschlossen, das auch die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung umfasst. Dass die Herleitung eines solchen Verhältnisses von einem fehlerhaften Verständnis des Art. 14 GG beeinflusst worden sein könnte, ist nicht ersichtlich.
19An die Auslegung des Bebauungsplans ist der Senat nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO gebunden. Die Bindung entfiele nur, wenn der Befund des Oberverwaltungsgerichts, den entscheidungserheblichen Maßfestsetzungen komme als Teil des nachbarlichen Austauschverhältnisses nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gekommenen Planungskonzept nachbarschützende Wirkung zu, gegen Bundesrecht, insbesondere gegen das Grundgesetz verstieße (vgl. 4 C 3.08 - BVerwGE 133, 347 Rn. 7 m.w.N.). Das ist nicht der Fall.
20Das Oberverwaltungsgericht hat das nachbarliche Austauschverhältnis freilich nicht auf ein Synallagma ("do ut des") beschränkt; denn es hat nicht festgestellt, dass die hier in Rede stehenden Maßfestsetzungen auch dazu dienen sollen, einer gegenseitigen Verschattung der Grundstücke im Plangebiet vorzubeugen oder jedem Grundstück eine möglichst ungestörte Sicht auf die Umgebung zu erhalten. Es benutzt den Begriff des nachbarlichen Austauschverhältnisses vielmehr als Schlagwort für eine Beziehung zwischen den Planbetroffenen, die auf Gegenseitigkeit angelegt ist und diese zur Bewahrung des Gebietscharakters verpflichtet, aber auch berechtigt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Der Begriff des nachbarlichen Austauschverhältnisses ist nicht bundesrechtlich determiniert.
21Die Bewahrung des Gebietscharakters ist typisches Ziel einer Nachbarklage gegen ein Bauvorhaben, das gegen eine Festsetzung über die Art der baulichen Nutzung verstößt. In diesem Zusammenhang hat die Rechtsprechung den Begriff des wechselseitigen nachbarlichen Austauschverhältnisses geprägt, auf dem der Nachbarschutz beruht. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht in Abrede gestellt, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung den Gebietscharakter im Allgemeinen nicht berühren und deshalb nicht nachbarschützend sind. Nach seinen Feststellungen gilt dies hier jedoch nicht, weil die Maßfestsetzungen von wesentlicher Bedeutung für den vom Plangeber konzipierten Charakter der Sondergebietsfläche für den Wassersport seien. Maßgebliche Zielsetzungen seien die Stärkung des Grünflächenanteils, die Gestaltung eines von Bebauung frei gehaltenen Uferbereichs und die Beschränkung der baulichen Ausnutzung der Grundstücke insgesamt, wobei diese Planungsziele durch eine Kombination der einzelnen Festsetzungen erreicht werden sollten. Auch die Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und der Baumassenzahl sollten zu der spezifischen Qualität des Sondergebiets beitragen und nach dem erklärten Willen des Plangebers der Bewahrung dieses Gebietscharakters dienen. Der Ausgangspunkt des Oberverwaltungsgerichts, dass die Maßfestsetzungen auch den Gebietscharakter beeinflussen können, ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, dass die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann ( 4 C 3.94 - Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 24 S. 5), nicht zu beanstanden. Die Würdigung, dass ein solcher Fall hier gegeben sei, mag zweifelhaft sein, bundesrechtswidrig ist sie nicht.
22Ob der Kläger durch die Maßüberschreitungen überhaupt einen Nachteil erleidet, ist ohne Bedeutung. Nachbarschutz auf der Grundlage eines wechselseitigen Austauschverhältnisses ist nicht von einer konkreten Beeinträchtigung des Nachbarn abhängig ( 4 B 55.07 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 32 Rn. 5).
233. Die Geltendmachung des Klageanspruchs verstößt nicht gegen Treu und Glauben.
24Nach der Rechtsprechung des Senats muss eine Nachbarklage zum Schutze einer planwidrigen Nutzung erfolglos bleiben, weil rechtsmissbräuchlich handelt, wer unter Berufung auf das nachbarliche Austauschverhältnis eine eigene Nutzung schützen möchte, die ihrerseits das nachbarliche Austauschverhältnis stört ( 4 C 23.98 - Buchholz 406.12 § 9 BauNVO Nr. 7 S. 4).
25Soweit vorliegend von Belang, ist das nachbarschaftliche Austauschverhältnis insoweit berührt, als das Vorhaben des Beigeladenen mehr Vollgeschosse haben soll, als es der Bebauungsplan X-4 erlaubt. Gestört wird es durch den Kläger dadurch, dass er selbst mit seinem Vereinshaus die Zahl der zulässigen Vollgeschosse überschreitet, nicht aber durch einen vom Beigeladenen behaupteten planungsrechtlich unzulässigen Betrieb einer öffentlichen Gaststätte in dem Vereinshaus, eine mögliche Unterschreitung des seitlichen Grenzabstands durch das Vereinshaus und ein Mastenlager sowie die nur eingeschränkte Verwirklichung des im Bebauungsplan festgesetzten Grünstreifens auf dem klägerischen Grundstück. Es ist deshalb allein von Bedeutung, dass der Kläger seinerseits gegen die Maßfestsetzungen verstößt, deren Einhaltung er von der Beigeladenen verlangt.
26Ein Nachbar ist unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung nur gehindert, einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften geltend zu machen, wenn er in vergleichbarer Weise, d.h. etwa im selben Umfang, gegen diese Vorschriften verstoßen hat (OVG Lüneburg, Beschluss vom - 1 M 897/99 - BRS 62 Nr. 190; VGH Mannheim, Beschluss vom - 3 S 1752/10 - juris Rn. 5; 1 BV 08.131 - juris Rn. 37). Das ist hier nicht der Fall. Das Ausmaß, in dem das Vereinshaus mit den Festsetzungen über die zulässige Zahl der Vollgeschosse unvereinbar ist, bleibt deutlich hinter dem Ausmaß des Verstoßes des Bauvorhabens der Beigeladenen zurück. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, die den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO binden, hat das Vereinshaus des Klägers drei Vollgeschosse. Es hat damit ein Vollgeschoss mehr, als der Bebauungsplan X-4 zulässt. Das Bauvorhaben der Beigeladenen soll sechs Vollgeschosse haben. Es überschreitet damit das zulässige Maß der baulichen Nutzung im Vergleich zum Vereinshaus des Klägers um ein Mehrfaches.
27Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2018:090818U4C7.17.0
Fundstelle(n):
NJW 2018 S. 10 Nr. 45
WAAAG-97946