BVerwG Beschluss v. - 3 B 24/18

Verwirkung im öffentlichen Recht

Leitsatz

Entsteht ein Anspruch auf Kostenerstattung erst mit prüfbarer Rechnungslegung, kann der Gläubiger das Recht, von dem Schuldner Erstattung der Kosten zu verlangen, bereits vor Rechnungslegung verwirkt haben.

Gesetze: § 242 BGB, § 13 Abs 1 EBKrG, Art 19 Abs 4 S 1 GG

Instanzenzug: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Az: 8 B 17.1999 Urteilvorgehend Az: M 24 K 14.5682 Urteil

Gründe

11. Der Rechtsstreit betrifft Zahlungsansprüche aus einer eisenbahnrechtlichen Kreuzungsvereinbarung.

2Zur Finanzierung des Neubaus einer Eisenbahnüberführung sowie einer sie erschließenden Ortsstraße schlossen die Klägerin - als Baulastträgerin des Schienenwegs -, die Beklagte - als Baulastträgerin der Ortsstraße - und die ... AG - als Betreiberin des Bahnhofs - eine Kreuzungsvereinbarung. Hieraus nahm die Klägerin die Beklagte mit Schlussrechnung vom mit einer Forderung in Höhe von 701 223,94 € in Anspruch, die die Beklagte im September beglich. Durch bestandskräftigen Bescheid vom setzte die zuständige Stelle daraufhin die zuwendungsfähigen Kosten für das Vorhaben der Beklagten abschließend fest.

3Mit Schreiben vom teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass die kreuzungsbedingten Leistungen der ... AG versehentlich nicht in die Schlussrechnung einbezogen worden seien und kündigte eine Nachforderung in Höhe von 736 000 € an. Mit Schlussrechnung vom forderte sie die Klägerin zur Nachzahlung von 550 858,38 € auf. Die Beklagte trat dieser Forderung insbesondere mit der Begründung entgegen, durch die verspätete Geltendmachung seien ihr Fördermittel in Höhe von fast 340 676 € entgangen.

4Das Berufungsgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 210 182,63 € verurteilt, die Klage im Übrigen - und damit hinsichtlich der entgangenen Zuwendungen in Höhe von 340 675,75 € - aber abgewiesen. Zwar sei die Forderung der Klägerin nicht verjährt, weil ihr Kostenerstattungsanspruch erst mit prüfbarer Rechnungslegung durch Nachreichung der Kopien der Bauverträge im erstinstanzlichen Verfahren am entstanden und nach Ablauf einer dreimonatigen Prüfungs- und Bereitstellungsfrist fällig geworden sei. In Höhe des benannten Teilbetrags sei die Durchsetzung des Zahlungsanspruchs aber verwirkt. Die Beklagte habe infolge der Schlussrechnung vom darauf vertrauen dürfen, dass weitere Kostenansprüche durch die Klägerin nicht mehr geltend gemacht würden. Dies gelte insbesondere deshalb, weil der Klägerin bekannt gewesen sei, dass die Beklagte noch im Jahr 2011 den Verwendungsnachweis in ihrem Zuwendungsverfahren erbringen musste. Auf eine abschließende Regelung habe die Beklagte auch tatsächlich vertraut, weil sie das Vorhaben auf der Grundlage der Schlussrechnung haushaltsrechtlich abgewickelt und den entsprechenden Zuwendungsbescheid nicht angegriffen habe.

5Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bleibt ohne Erfolg. Sie hat weder eine Divergenz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung noch eine grundsätzliche Bedeutung aufgezeigt.

62. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.

7a) Eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO setzt voraus, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das Bundesverwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Zwischen den Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes bestehen. Die Behauptung einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge dagegen nicht. Das Revisionszulassungsrecht kennt - anders als die Vorschriften zur Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) - den Zulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel nicht ( 2 B 107.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 20 Rn. 3 m.w.N.).

8b) Den mit der Beschwerde benannten Rechtssatz:

"Das Zeitmoment der Verwirkung eines Anspruchs kann erfüllt sein, bevor der Anspruch entstanden ist, bevor er fällig geworden ist und bevor der Lauf der Verjährung des Anspruchs auch nur begonnen hat",

enthält das Berufungsurteil nicht ausdrücklich (vgl. zu diesem Erfordernis 9 B 36.07 - Buchholz 316 § 62 VwVfG Nr. 17 Rn. 6).

9Die Entscheidung beruht indes auf der Annahme, dass die für eine Verwirkung vorausgesetzte verspätete Geltendmachung eines Rechts auch dann vorliegen kann, wenn der Anspruch noch nicht entstanden ist. Das Berufungsurteil enthält zwar auch hierzu keine abstrakte Aussage, sodass Zweifel bestehen könnten, ob das Berufungsgericht einen entsprechenden Rechtssatz überhaupt gebildet oder die Frage übersehen hat (vgl. hierzu Pietzner/Buchheister, in: Schoch/Schneider/Bier <Hrsg.>, VwGO, Stand: Juni 2017, § 132 Rn. 72). Da die Entscheidung aber eine Verjährung der Forderung mit der Begründung verneint, der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin sei erst mit prüfbarer Rechnungslegung am entstanden (vgl. zum abweichenden Zeitpunkt der Forderungsentstehung im Fall des gesetzlichen Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs. 1 des Eisenbahnkreuzungsgesetzes 9 C 6.01 - BVerwGE 116, 312 <316>), ist der benannte Rechtssatz zwingender Bestandteil der die Entscheidung tragenden allgemeinen Prämissen. Dies genügt für die Annahme einer Abweichung, weil nur so der Zielstellung des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO Rechnung getragen werden kann, einheitliche Rechtsgrundsätze in der Verwaltungsrechtsprechung zu gewährleisten (vgl. zur Möglichkeit der konkludenten Aufstellung eines Rechtssatzes 9 B 18.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 264 S. 14).

10Der dem Berufungsurteil zugrunde liegende Rechtssatz steht aber nicht in Widerspruch zu der von der Beschwerde zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach die Verwirkung als Hauptanwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens bedeutet, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (vgl. etwa 3 C 115.71 - BVerwGE 44, 339 <343>). Dieser Rechtssatz enthält keine Aussage zu der Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ein Recht bereits vor seiner Entstehung geltend gemacht werden kann.

113. Die Beschwerde hat auch keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf aufgezeigt.

12a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine - mit der Beschwerde darzulegende (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) - Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregelungen auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens eindeutig beantwortet werden kann (stRspr, vgl. etwa 2 B 107.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 20 Rn. 9 m.w.N.).

13b) Die mit der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnete Frage:

"Ist die Verwirkung eines Anspruchs vor seiner Entstehung und vor dem Beginn des Laufes der dafür geltenden Verjährungsfrist möglich?",

bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie kann, soweit sie einer generellen Klärung zugänglich ist, anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung beantwortet werden.

14Der Einwand der Verwirkung ist in der Rechtsprechung seit langem als Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung für den Fall der verspäteten Geltendmachung eines Anspruchs anerkannt. Für die Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) reicht der bloße Zeitablauf indes nicht aus; hinzukommen muss vielmehr, dass der Schuldner dem Verhalten des Gläubigers, das zur verspäteten Geltendmachung des Anspruchs geführt hat, entnehmen musste, dass dieser den Anspruch nicht mehr geltend machen wollte, wenn sich also der Schuldner darauf einrichten durfte, dass er mit diesem Anspruch nicht mehr zu rechnen brauche, und sich darauf auch eingerichtet hat (RG, Urteil vom - III 3/37 - RGZ 158, 100 <107 f.>).

15Das Bundesverfassungsgericht hat die Verwirkung auch unter Geltung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebilligt. Gegen Treu und Glauben verstößt die verspätete Geltendmachung eines Rechts danach, wenn der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt ( - BVerfGE 32, 305 <308 f.>).

16Diese Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf das öffentliche Recht übertragen worden ( 2 C 23.95 - BVerwGE 102, 33 <36>). Verwirkt ist ein Anspruch, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die spätere Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser seinen Anspruch nach längerer Zeit nicht mehr geltend machen würde, und wenn er sich infolge seines Vertrauens so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde ( 8 C 4.11 - BVerwGE 143, 335 Rn. 86, Beschluss vom - 8 B 23.16 [ECLI:DE:BVerwG:2017:200117B8B23.16.0] - Buchholz 316 § 41 VwVfG Nr. 8 Rn. 14).

17Der Bundesgerichtshof qualifiziert die Verwirkung in seiner jüngeren Rechtsprechung als "illoyale Verspätung einer Rechtsausübung" und verlangt hierfür, dass der Berechtigte das Recht längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten auch darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde ( [ECLI:DE:BGH:2017:160317UIZR49.15.0] - juris Rn. 83 m.w.N.).

18Maßgeblich für die Annahme einer nach Treu und Glauben "verspäteten" Geltendmachung sind damit andere Gesichtspunkte als diejenigen, die für den Zeitpunkt der Entstehung, der Fälligkeit oder der Verjährung eines Anspruchs ausschlaggebend sind. Bezugspunkt der Verwirkung ist ein Verhalten des Berechtigten, das eine Vertrauensgrundlage des Verpflichteten begründet und eine spätere Geltendmachung als unzulässige Rechtsausübung erscheinen lässt. Der Berechtigte muss eine Situation geschaffen haben, auf die der Verpflichtete vertrauen und sich einstellen durfte (vgl. - BVerfGE 32, 305 <308 f.>; 2 C 23.95 - BVerwGE 102, 33 <36> und vom - 8 C 4.11 - BVerwGE 143, 335 Rn. 86). Zeitlicher Anknüpfungspunkt für die Verspätung ist damit der vom Berechtigten geschaffene Vertrauenstatbestand. Aus diesen unterschiedlichen Bezugspunkten folgt, dass es grundsätzlich denkbar ist, einen Anspruch bereits vor dem Zeitpunkt seiner formalen Entstehung zu verwirken. Dementsprechend ist etwa im Baunachbarrecht die Möglichkeit einer Verwirkung des Widerspruchsrechts gerade in den Fällen anerkannt, in denen die Rechtsbehelfsfrist für den Nachbarn mangels amtlicher Bekanntgabe der Baugenehmigung an ihn nicht in Lauf gesetzt wurde ( 4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 <298 ff.>). Eine Verwirkung vor Entstehung des Anspruchs kommt auch dann in Betracht, wenn der Anspruch - wie hier der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin - erst mit prüfbarer Rechnungslegung entsteht (vgl. VGH UA Rn. 35). In einem solchen Fall hat es allein der Gläubiger in der Hand, den Anspruch entstehen zu lassen. Legt er nicht Rechnung, kann der Anspruch praktisch nicht verjähren (vgl. Ellenberger, in: Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, § 199 Rn. 6).

19Dass eine Verwirkung von Ansprüchen, die der regelmäßigen Verjährung von drei Jahren unterliegen und im Zeitpunkt der Klageerhebung unverjährt sind, grundsätzlich nur bei Vorliegen besonderer Umstände angenommen werden kann ( - juris Rn. 83 m.w.N.), steht dem nicht entgegen. Diese Gesichtspunkte verdeutlichen lediglich, dass es bei der Annahme einer Verwirkung in besonderer Weise auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. Aus diesem Grunde führt auch die Bezugnahme der Beschwerde auf den 2 B 55.16 [ECLI:DE:BVerwG:2017:140617B2B55.16.0] -, der die Besonderheiten der Verwirkung eines beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruchs wegen verspäteter oder unterbliebener Beförderung in den Blick nimmt, nicht weiter.

20Entscheidend für die Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung ist, dass sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenseite vorrangig schutzwürdig erscheinen ( - juris Rn. 85). Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, ist der tatrichterlichen Würdigung vorbehalten und im Rahmen einer Grundsatzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu prüfen (vgl. 2 B 40.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:231215B2B40.14.0] - Buchholz 449 § 3 SG Nr. 82 Rn. 22; hierzu auch u.a. - juris Rn. 3).

214. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2018:290818B3B24.18.0

Fundstelle(n):
NJW 2018 S. 10 Nr. 47
IAAAG-95087