Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter des im Juli 1976 geborenen D. D ist aufgrund eines 1984 erlittenen Verkehrsunfalls schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 v.H.; der Schwerbehindertenausweis weist die Merkzeichen B, G und H aus.
In der Zeit vom bis Ende Februar 1997 war D nichtselbständig bei der Firma E beschäftigt; ab war er arbeitslos gemeldet. In der Zeit von April 1997 bis April 1998 nahm D an einem Förderungslehrgang der Arbeitsverwaltung teil und erhielt für die Zeit vom bis zum eine Ausbildungsbeihilfe in Höhe von 257 DM monatlich, für die Folgezeit bis zum eine Zahlung von 597 DM und für die Zeit vom bis monatliche Zahlungen von 439 DM. Ab August 1998 absolvierte D bei der Firma F in G eine Ausbildung zum Fachwerker im Gartenbau und erhielt für diese Tätigkeit 1998 monatlich 660 DM Ausbildungsvergütung und 280,80 DM Weihnachtsgeld.
Im Rahmen der Überprüfung der Kindergeldberechtigung für D ermittelte der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) auch Kapitaleinkünfte für D. Diese beruhten auf Erträgen aus Investmentfonds, festverzinslichen Wertpapieren und Aktien. Der Wert der Investmentfonds betrug zum ca. 51 000 DM, das Wertpapierdepot belief sich zum auf ca. 153 000 DM.
Der Beklagte gelangte daher zum Ergebnis, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge des D für den Zeitraum März bis Dezember 1997 den anteiligen Jahresgrenzbetrag 1997 von 10 000 DM überschreiten und auch die Einkünfte und Bezüge 1998 oberhalb des Jahresgrenzbetrages von 12 360 DM für 1998 liegen. Mit Bescheid vom Dezember 1998 hob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für D für die Zeit von März 1997 bis April 1998 daher auf, forderte den gezahlten Betrag in Höhe von insgesamt 3 080 DM zurück und lehnte die weitere Zahlung von Kindergeld für die Zeit ab Mai 1998 ab.
Den Einspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück.
Der dagegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 982 veröffentlichten Urteil statt. Das FG begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, im Streitjahr 1997 sei bereits der Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Sätze 2 und 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) von 10 000 DM nicht erreicht und im Jahr 1998 sei Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu bewilligen. Das Vermögen des Kindes sei im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht zu berücksichtigen.
Mit der Revision rügt der Beklagte eine fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.
Er beantragt,
die Vorentscheidung des aufzuheben, soweit der Beklagte ver-
pflichtet werde, der Klägerin Kindergeld für D für das Jahr 1998 zu gewähren, und die Klage insoweit abzu-
weisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom rechtswidrig war. Zu Unrecht hat der Beklagte das Vermögen des behinderten Sohnes der Klägerin bei der Kindergeldfestsetzung berücksichtigt.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1997 (i.d.F. der Bekanntmachung vom , BGBl I 1997, 821, BStBl I 1997, 415) besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
a) Das Tatbestandsmerkmal ”außerstande sein, sich selbst zu unterhalten” ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt seit der Systemumstellung zum auch im Kindergeldrecht anzuwenden und somit eine einheitliche steuerrechtliche Auslegung geboten ist. Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz in der bis zum geltenden Fassung (BKGG a.F.), das für das Kindergeld und für den Kinderfreibetrag eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt hat (vgl. , Sozialrecht 3. Folge —SozR 3— 5870 § 11a BKGG Nr. 10), kann daher nicht zurückgegriffen werden. Denn das Kindergeld dient seit dem —ebenso wie der Kinderfreibetrag— in erster Linie der steuerrechtlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern.
b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (, BFH/NV 1997, 343, und vom III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist folglich das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Denn nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72).
c) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist daher anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen ( in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72; VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000 75; VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79). Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern oder anderen gegenüber dem behinderten Kind Unterhaltsverpflichteten kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. , 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.
Wie der BFH in den Grundsatzurteilen vom in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 und in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 dargelegt hat, setzt sich der gesamte existenzielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für das Streitjahr 1998 ist der Grundbedarf mit 12 360 DM zu bemessen (vgl. , BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; zur allgemeinen Bemessung dieses am Existenzminimum orientierten Betrages nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf vgl. , 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C. II.).
Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zu diesem gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen (vgl. Schmidt/ Glanegger, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl., 2002, § 33b Rz. 5). Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen.
2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall bestehen keine Zweifel, dass D nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existenziellen Lebensbedarf zu decken. Bei einem Grundbedarf von 12 360 DM und dem zusätzlich erforderlichen behinderungsbedingten Mehrbedarf, den das FG gemäß der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72) zutreffend mit dem Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 und 3 Satz 3 EStG in Höhe von 7 200 DM bemessen hat, da D zu 100 v.H. behindert ist und der Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen ”H” trägt, ist erkennbar, dass die D zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel bei weitem nicht ausreichen, den Gesamtbedarf von insgesamt 19 560 DM zu decken. Denn die Einkünfte und Bezüge betragen nach den Feststellungen des FG, an die der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist, unstreitig nur 15 857 DM (nach Abzug des Sparerfreibetrages gemäß § 20 Abs. 4 EStG von 6 000 DM p.a., vgl. dazu , BFHE 192, 485, BStBl II 2000, 684).
Dabei kann der Senat offen lassen, ob er der vom VI. Senat des BFH in seinen Urteilen in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 und in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 angewandten Berechnungsmethode in allen Einzelheiten folgen könnte.
Denn das gleiche Ergebnis ergibt sich, wenn man —wie die Verwaltung— in Anlehnung an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG darauf abstellt, ob das behinderte Kind über eigene Einkünfte oder zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmte oder geeignete Bezüge von mehr als 12 360 DM verfügt (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes —DA-FamEStG— 63.3.6.3 Abs. 2, BStBl I 1998, 389, 420, bzw. die überarbeitete Fassung der DA-FamEStG 63.3.6.3.2, BStBl I 2000, 639, 669).
D war daher auch nach Auffassung der Verwaltung außerstande, sich selbst zu unterhalten.
3. Die Behinderung des D war auch ursächlich für seine Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Diese Voraussetzung für den Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist im Streitfall erfüllt, da D aufgrund des im Jahre 1984 erlittenen Verkehrsunfalls zu 100 v.H. behindert ist. Ferner sind im Schwerbehindertenausweis des D die Merkmale ”H” (hilflos) und ”G” (erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) eingetragen. Damit liegt eine i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigende, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene Behinderung vor (vgl. dazu , BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832; Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486). Darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kann bei der Frage, ob D außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht auf dessen vorhandenes Vermögen abgestellt werden. Nach den Grundsatzentscheidungen des Senats vom VIII R 51/01 und VIII R 17/02 kann das Vermögen volljähriger behinderter Kinder bei der Beurteilung der Frage, ob das behinderte Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht herangezogen werden. Auf die Begründung dieser Entscheidungen nimmt der Senat insoweit in vollem Umfang Bezug.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 308
BFH/NV 2003 S. 308 Nr. 3
CAAAA-71328