Gefährdung des Straßenverkehrs: Voraussetzung der kritischen Verkehrssituation und eines "Beinahe-Unfalls"; Urteilsfeststellungen zur konkreten Gefährdung eines Sache von bedeutendem Wert
Gesetze: § 315c Abs 1 StGB, § 267 StPO
Instanzenzug: Az: 510 KLs 18/16
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten O. wegen Beihilfe zum versuchten Raub, Beihilfe zum Diebstahl und Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf von zwei Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Seine hiergegen gerichtete Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Gefährdung des Straßenverkehrs im Fall II. 3 der Urteilsgründe hat keinen Bestand.
3a) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen fuhr der Angeklagte am mit einem Pkw Audi A 3 ohne Abblendlicht und „mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ auf der A. straße in B. . Dabei missachtete er eine Rechts-vor-Links-Regelung und nahm dem Polizeibeamten D. , der mit seinem Dienstfahrzeug die R. straße befuhr, die Vorfahrt. Polizeiobermeister D. erkannte das Fahrzeug des Angeklagten „in letzter Sekunde“ und leitete eine Gefahrenbremsung ein. Anschließend nahm er die Verfolgung des Angeklagten auf. Als der Angeklagte das ihm folgende Polizeifahrzeug bemerkte, vermutete er, dass ein zuvor von seinen Mitfahrern verübter Diebstahl, dessen Beute sich noch im Fahrzeug befand, entdeckt worden sei und befürchtete seine Festnahme. Um dieser zu entgehen, entschloss er sich zu einer „riskanten Fahrweise“, indem er mit ca. 80 km/h und weiterhin ohne Licht die A. straße befuhr. Dabei nutzte er die gesamte Breite der Straße einschließlich der Gegenfahrbahn. Polizeiobermeister D. folgte dem Angeklagten, wobei er ihn mit eingeschalteter „Licht- und Zeichenanlage“ zum Anhalten aufforderte. Im weiteren Verlauf der Fahrt überholte der Angeklagte in der Or. straße mehrere Fahrzeuge auf dem Gegenfahrstreifen und scherte kurz vor diesen wieder ein. Die entgegenkommenden Fahrzeuge „mussten dadurch stark abbremsen, um einen Aufprall zu vermeiden“. In einem Kreisverkehr verlor er für einen kurzen Moment die Kontrolle über sein Fahrzeug, das „ausbrach“. Als Polizeiobermeister D. den Pkw des Angeklagten links überholen wollte, drängte der Angeklagte das Polizeifahrzeug „durch eine Lenkbewegung nach links ab“, sodass Polizeiobermeister D. eine Kollision mit dem Fahrzeug des Angeklagten oder am Fahrbahnrand geparkten Fahrzeugen nur durch ein starkes Abbremsen verhindern konnte. Schließlich konnte das Fahrzeug des Angeklagten gestoppt werden.
4Das Landgericht ist ohne Darstellung der Subsumtion davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte aufgrund des geschilderten Sachverhalts wegen „Gefährdung des Straßenverkehrs“ strafbar gemacht habe. Im Rahmen der Strafzumessung wird § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB in den Begehungsformen der Buchstaben a, b und d angeführt.
5b) Die Urteilsgründe tragen die Annahme einer Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht, weil sich aus ihnen nicht ergeben, dass es infolge eines dieser Vorschrift unterfallenden Verkehrsverstoßes zu einer konkreten Gefährdung eines der bezeichneten Rechtsgüter gekommen ist.
6aa) § 315c Abs. 1 StGB setzt voraus, dass eine der dort genannten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus im Hinblick auf einen bestimmten Vorgang in eine kritische Verkehrssituation geführt hat, in der die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist ein „Beinahe-Unfall“, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (vgl. , NZV 2012, 249; Urteil vom - 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131, 3132; Ernemann in: SSW-StGB, 3. Aufl., § 315c Rn. 22 mwN).
7bb) Ein diesen Vorgaben entsprechender Verkehrsvorgang wird durch die Feststellungen nicht belegt.
8Hinsichtlich der ersten, für eine Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB in Betracht kommenden Verkehrssituation (Missachtung der Vorfahrt des Polizeibeamten D. , Gefahrenbremsung zur Kollisionsvermeidung) verhält sich das Urteil weder zu der von dem Polizeifahrzeug gefahrenen Geschwindigkeit noch zu der Intensität der „Gefahrenbremsung“ (vgl. , NStZ-RR 2013, 320, 321; Beschluss vom - 4 StR 617/07, NStZ-RR 2008, 289). Soweit davon die Rede ist, dass der Angeklagte „mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ gefahren sei, handelt es sich um eine Wertung, für die sich in den Urteilsgründen keine Tatsachengrundlage findet. Um eine konkrete Gefährdung einer fremden Sache von bedeutendem Wert bejahen zu können, hätte es zudem bestimmter Angaben zum Wert des gefährdeten Polizeifahrzeugs und zur Höhe des drohenden Schadens (berechnet anhand der am Marktwert zu messenden Wertminderung) bedurft (vgl. , NStZ 2011, 215, 216; Beschluss vom - 4 StR 617/07, NStZ-RR 2008, 289).
9Gleiches gilt, soweit Überholvorgänge geschildert werden, bei denen entgegenkommende Fahrzeuge „stark abbremsen“ mussten, „um einen Aufprall zu vermeiden“. Zwar mag dies dafür sprechen, dass der Angeklagte im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB, § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO falsch überholt hat. Ob in dieser Situation der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung nur noch vom Zufall abhing, kann der Senat aber nicht beurteilen. Einzelheiten zur Art der konkreten Begegnung der Fahrzeuge sind nicht festgestellt.
10Auch hinsichtlich des Abdrängens des überholenden Polizeifahrzeugs (§ 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB) fehlt es an einer Darlegung der konkreten Umstände. Dass Polizeiobermeister D. eine Kollision mit dem Fahrzeug des Angeklagten oder am Fahrbahnrand geparkten Fahrzeugen nur durch ein starkes Abbremsen verhindern konnte, vermag einen „Beinahe-Unfall“ nicht ausreichend zu belegen.
11In welcher Verkehrssituation das Landgericht § 315c Abs. 1 Nr. 2d StGB verwirklicht gesehen hat, bleibt gänzlich unklar.
122. Die Aufhebung der Verurteilung im Fall II. 3 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe und der an diese Verurteilung anknüpfenden Maßregel gemäß §§ 69, 69a StGB nach sich. Im Übrigen weist das Urteil keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:270417B4STR61.17.0
Fundstelle(n):
XAAAG-87559