BVerfG Urteil v. - 2 BvR 2026/17

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) durch Übergehen von wesentlichem Tatsachenvortrag einer Prozesspartei (hier: zur Lage anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien) - Gegenstandswertfestsetzung

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 58 AufenthG 2004, § 60 AufenthG 2004, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG

Instanzenzug: VG Gießen Az: 2 L 6036/17.GI.A Beschlussvorgehend VG Gießen Az: 2 L 4325/17.GI.A Beschlussvorgehend Az: 2 BvR 2026/17 Einstweilige Anordnung

Gründe

I.

1Der am geborene Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste am aus Syrien aus und gelangte zunächst nach Bulgarien. Dort wurde er am als Flüchtling anerkannt. Anschließend reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am einen Asylantrag stellte.

2Mit Bescheid vom lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag des Beschwerdeführers als unzulässig ab und drohte ihm die Abschiebung nach Bulgarien an. Zur Begründung führte es an, dass dem Beschwerdeführer bereits in Bulgarien internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage des Beschwerdeführers wies das Verwaltungsgericht Gießen mit Urteil vom ab. Die Lebensumstände für anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien seien nicht unzumutbar.

3Am stellte der Beschwerdeführer beim Bundesamt einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Diesen lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen und drohte dem Beschwerdeführer erneut die Abschiebung nach Bulgarien an. Es lägen keine geänderte Sach- oder Rechtslage und keine Abschiebungsverbote vor. Dem Beschwerdeführer drohten in Bulgarien weder Folter noch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK.

4Am erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid Klage beim Verwaltungsgericht Gießen und beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung. Das Bundesamt habe seinen Asylantrag zu Unrecht als Folgeantrag behandelt. Ein Bescheid vom sei ihm zu keinem Zeitpunkt zugestellt worden. Den Bescheid vom habe ihm das Bundesamt erst am zugestellt. Hierbei habe es rechtswidrig unterlassen, dem Beschwerdeführer eine Kopie der Akte zu übersenden. Zur Begründung seiner Klage und seines Eilantrags nahm der Beschwerdeführer Bezug auf das in Auszügen zitierte Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom - 3 A 1322/16.A -.

5Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag des Beschwerdeführers mit Beschluss vom ab. Zur Begründung nahm es Bezug auf den angefochtenen Bescheid vom . Soweit der Beschwerdeführer davon ausgehe, dass er keinen Erstbescheid erhalten habe, handele es sich um eine Fehlinformation. Der Beschwerdeführer habe gegen den Erstbescheid vom , vertreten durch einen anderen Bevollmächtigten, Klage erhoben, die mit rechtskräftigem Urteil vom abgewiesen worden sei.

6Hiergegen erhob der Beschwerdeführer unter dem Anhörungsrüge. Er wies erneut auf die entgegen § 36 Abs. 2 Satz 1 AsylG unterlassene Übersendung einer Kopie des Verwaltungsvorgangs des Bundesamts hin. Daher sei es dem Beschwerdeführer nicht möglich gewesen, seinen Eilantrag innerhalb der Wochenfrist umfassend zu begründen. Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht seinen Antrag dennoch abgelehnt habe, verstoße gegen sein Recht auf rechtliches Gehör. Außerdem habe das Verwaltungsgericht seinen Vortrag zu Abschiebungshindernissen hinsichtlich Bulgariens nicht gewürdigt und ihm insoweit kein rechtliches Gehör gewährt.

7Mit Beschluss vom , zugestellt am , wies das Verwaltungsgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück. Der Umstand, dass das Bundesamt keine Kopie der Verfahrensakte mit dem Bescheid übersendet habe, führe nicht zu einer Gehörsverletzung durch das Verwaltungsgericht. § 36 Abs. 2 Satz 1 AsylG verpflichte allein das Bundesamt. Auch die bislang auf den Akteneinsichtsantrag nicht durchgeführte Übersendung der Gerichtsakte durch das Verwaltungsgericht stelle keinen Gehörsverstoß dar, denn aus dem streitgegenständlichen Bescheid vom habe sich ergeben, dass es sich um einen Folgeantrag gehandelt habe. Zudem sei dem Beschwerdeführer der Verlauf des vorangegangenen Gerichtsverfahrens bekannt gewesen, weshalb es einer Aktenübersendung insoweit nicht mehr bedurft habe. Der neue Bevollmächtigte müsse sich das Wissen des Beschwerdeführers zurechnen lassen.

II.

81. Der Beschwerdeführer hat am Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG und aus Art. 103 Abs. 1 GG.

9Er habe unter Verweis auf das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom - 3 A 1322/16.A - dargelegt, dass hinsichtlich Bulgariens Abschiebungsverbote vorlägen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung von Abschiebungsverboten sei derjenige der letzten mündlichen Verhandlung. Das Verwaltungsgericht habe diesen Vortrag ignoriert und den Beschwerdeführer dadurch in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Mit der Ablehnung seines Eilantrags habe er nach Bulgarien abgeschoben werden können, sodass sein Hauptsacheverfahren ins Leere liefe. Diesbezüglich verweist der Beschwerdeführer ohne nähere Ausführungen auf die Beschlüsse des - und vom - 2 BvR 157/17 -. Zudem sei der Beschwerdeführer durch die Ablehnung seines Eilantrags der Verletzung seiner Rechte auf Achtung der Menschenwürde und auf körperliche Unversehrtheit schutzlos ausgeliefert. Außerdem habe das Verwaltungsgericht das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot verletzt. Der Einzelrichter, der den Beschluss vom erlassen habe, habe in einem anderen Verfahren eines in Bulgarien anerkannten Asylbewerbers in einem Beschluss vom die Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs berücksichtigt und dem dortigen Eilantrag stattgegeben. Es sei willkürlich, wenn der Einzelrichter in dem einen Fall Abschiebungsverbote hinsichtlich Bulgariens annehme und diese in einem anderen, vergleichbaren Verfahren verneine. Der Umstand, dass das fachgerichtliche Verfahren des Beschwerdeführers die Ablehnung eines Asylfolgeantrags zum Gegenstand gehabt habe, könne eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle nicht rechtfertigen. Es sei ausschließlich auf die Frage abzustellen, ob Abschiebungsverbote zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorlägen. Daraus resultiere auch eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG.

102. Mit Schriftsatz vom hat der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, weil seine Abschiebung unmittelbar bevorstehe. Mit Beschluss vom selben Tag hat das Bundesverfassungsgericht im Wege einer einstweiligen Anordnung untersagt, den Beschwerdeführer bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde abzuschieben. Die Dauer der einstweiligen Anordnung hat das Bundesverfassungsgericht auf zwei Monate begrenzt.

113. Die Akten der Ausgangsverfahren haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Die Bundesregierung, das Hessische Ministerium der Justiz und das Bundesamt haben von ihrem Recht zur Äußerung keinen Gebrauch gemacht.

III.

12Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt.

131. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.

14a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, namentlich nicht bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen. Deshalb müssen, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>). Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. auch BVerfGE 47, 182 <189>; 86, 133 <146>).

15b) Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Beschlüsse das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG. Er hat sowohl mit seinem Eilantrag als auch mit seiner Anhörungsrüge auf die Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hingewiesen, nach der das Asylsystem Bulgariens insbesondere hinsichtlich anerkannter Flüchtlinge an systemischen Mängeln leide. Da der Beschwerdeführer in Bulgarien als Flüchtling anerkannt worden ist, zählt dieser Hinweis auf die Würdigung der Lage anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien zum wesentlichen Kern seines Vorbringens. Die Frage, ob hinsichtlich Bulgariens angesichts der Situation anerkannt Schutzberechtigter ein Abschiebungsverbot besteht, war für das Verfahren des Beschwerdeführers auch von zentraler Bedeutung. Das Bundesamt hatte in dem angefochtenen Bescheid vom im Asylfolgeverfahren eine erneute Abschiebungsandrohung erlassen, der eine erneute Prüfung von Abschiebungsverboten vorausgegangen ist. Diese neue Abschiebungsandrohung hatte das Verwaltungsgericht zum Gegenstand seiner Prüfung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu machen. Insoweit ist der Prüfungsmaßstab nicht aufgrund der verfahrensrechtlichen Konstellation des Asylfolgeantrags verändert. Im Rahmen der Interessenabwägung hatte das Verwaltungsgericht insbesondere unter Heranziehung aktueller Erkenntnisse zu berücksichtigen, ob - wie von dem Beschwerdeführer geltend gemacht - ein Abschiebungsverbot vorliegt, weil dem Beschwerdeführer als anerkanntem Flüchtling in Bulgarien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohe. Dies hat das Verwaltungsgericht unterlassen. Insbesondere hat sich der Einzelrichter - anders als in einem Beschluss vom in einem Verfahren eines in Bulgarien anerkannten Asylbewerbers - nicht mit dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom im Hinblick auf systemische Mängel des bulgarischen Asylsystems befasst, auf das der Beschwerdeführer hingewiesen hat. In dem angegriffenen Beschluss vom nimmt das Verwaltungsgericht lediglich auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug, der die Lage anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien nicht in die Prüfung eines Abschiebungsverbots einbezieht. Auch in dem Beschluss vom , in dem das Verwaltungsgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat, fehlt eine Würdigung des Vortrags des Beschwerdeführers zu der Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, nach der das Asylsystem Bulgariens insbesondere hinsichtlich bereits anerkannter Flüchtlinge unter systemischen Mängeln leidet.

162. Angesichts des vorliegenden Gehörsverstoßes bedürfen die weiter erhobenen Grundrechtsrügen keiner Entscheidung. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass das Verwaltungsgericht bei einer Berücksichtigung des Vortrags des Beschwerdeführers zu einem anderen Ergebnis kommt.

IV.

17Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zu erstatten. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20180124.2bvr202617

Fundstelle(n):
WAAAG-71565