BFH Beschluss v. - III B 32/17

Verzicht auf mündliche Verhandlung; Bedingungsfeindlichkeit von Prozesshandlungen

Leitsatz

NV: Ein Verzicht auf mündliche Verhandlung, der für den Fall erklärt wird, dass sich die Beteiligten außergerichtlich nicht auf bestimmte Punkte einigen können, ist unwirksam.

Gesetze: FGO § 119 Nr. 3, Nr. 4; FGO § 90 Abs. 1, Abs. 2;

Instanzenzug:

Tatbestand

I.

1 Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war Gesellschafter einer in der Rechtsform einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GbR) betriebenen Rechtsanwaltskanzlei. Die Beigeladene war die weitere Gesellschafterin dieser GbR.

2 Mit Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung von Grundlagen für die Einkommensbesteuerung des Streitjahres 1998 wurden Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von ... DM erklärt, die je zur Hälfte auf beide Gesellschafter entfielen. Für den Kläger wurde ein Verlust in Höhe von ... DM erklärt, da dieser zusätzlich Verbindlichkeiten in Höhe von ... DM übernommen habe.

3 Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) stellte mit Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Grundlagen für die Einkommensbesteuerung 1998 vom Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von ... DM fest. Aufgrund des dagegen eingelegten Einspruchs setzte das FA die festgestellten Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit Einspruchsentscheidung vom auf ... DM herab.

4 Mit der Klage verfolgte der Kläger sein Begehren, die Einkünfte aus selbständiger Arbeit wie erklärt festzustellen, weiter.

5 Mit Beschluss vom wurde der Rechtsstreit gemäß §§ 5 Abs. 3 Satz 1, 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit Beschluss vom erfolgte die Beiladung der weiteren Gesellschafterin der GbR. Durch Schreiben vom erteilte der Einzelrichter einen rechtlichen Hinweis und forderte den Kläger zu weiteren Darlegungen und Nachweisen im Hinblick auf die von ihm übernommenen Schulden der GbR auf. In einer am in Anwesenheit aller Beteiligten durchgeführten mündlichen Verhandlung wurde die Sach- und Rechtslage erörtert. Abschließend kamen die Beteiligten überein, dass dem Kläger bis Ende Juli 2012 Gelegenheit gegeben werden solle, sich mit dem FA über die Zahlungsmodalitäten zu einigen. Ferner erklärten sich die Beteiligten übereinstimmend damit einverstanden, dass das Verfahren solange ruhen solle und das Gericht „im Falle, dass keine Einigung zwischen den Beteiligten zustande kommen sollte“ eine Entscheidung ohne erneute mündliche Verhandlung treffen soll. Die Sache wurde sodann vertagt. Im Beschluss vom ordnete der Einzelrichter unter Bezugnahme auf das Sitzungsprotokoll das Ruhen des Verfahrens an.

6 Mit Schreiben vom teilte der Kläger dem Fi-nanzgericht (FG) mit, dass das FA seinen Vergleichsvorschlag nicht angenommen habe, er deshalb nun die im Zusammenhang mit der Annahme einer Betriebsaufgabe erforderlichen weiteren Unterlagen beibringen wolle und hierfür um eine Fristgewährung gebeten werde. Mit Schreiben vom erteilte der Einzelrichter einen rechtlichen Hinweis, wonach im Streitfall weder der Ansatz eines Veräußerungsgewinns noch eines Aufgabeverlustes in Betracht käme. Durch Beschluss vom nahm der Einzelrichter das Verfahren wieder auf. Mit Schreiben vom verwies der Einzelrichter auf eine weitere für den Streitfall möglicherweise interessante FG-Entscheidung und teilte mit, dass er in absehbarer Zeit ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden werde, wie laut Sitzungsprotokoll vom vereinbart. Mit Schriftsätzen vom und vom machte der Kläger weitere Rechtsausführungen, beantragte zum Nachweis der Zuordnung der Darlehensverbindlichkeiten zur GbR seine Vernehmung als Beteiligter und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Auch seitens der Beigeladenen und des FA erfolgten weitere Stellungnahmen.

7 Am führte der Einzelrichter einen weiteren Termin zur mündlichen Verhandlung durch, in dem die Sach- und Rechtslage erörtert wurde. Nachdem die Verhandlung zunächst um 10:52 Uhr geschlossen wurde, eröffnete der Einzelrichter sie um 11:01 Uhr wieder und verwies darauf, dass aus Sicht des Gerichts noch erkennbare Uneinigkeit zwischen den Beteiligten darüber bestehe, was mit einem Teil des Inventars passiert sei, das im Rahmen der Einnahmenüberschussrechnung als Betriebseinnahme erfasst worden sei. Der Kläger erklärte daraufhin, dass er den Sachverhalt insoweit weiter aufklären wolle und um Unterbrechung bzw. Vertagung der Sache bitte, um weiter vortragen zu können. Die mündliche Verhandlung wurde daraufhin geschlossen und nach erneutem Aufruf der Sache in Abwesenheit der Beteiligten eine Vertagung der Sache verkündet. Daraufhin gaben alle Beteiligten weitere Stellungnahmen ab.

8 Mit Urteil vom wies der Einzelrichter die Klage „mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung“ als unbegründet ab.

9 Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

Gründe

II.

10 Die Beschwerde, mit der der Kläger einen Vertretungsmangel (§ 119 Nr. 4 FGO) und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des GrundgesetzesGG—, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) rügt, ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO.

11 1. Die vom Kläger ordnungsgemäß (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) geltend gemachten Verfahrensmängel liegen vor. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) und stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 und Nr. 4 FGO dar. Das FG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil insbesondere der Kläger nicht wirksam sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt hat (§ 90 Abs. 2 FGO).

12 a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein Verfahrensmangel i.S. der vorgenannten Vorschriften u.a. dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine Entscheidung des FG ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 2 FGO nicht gegeben sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom VI B 115/15, BFH/NV 2016, 1482, und vom X B 167/13, BFH/NV 2014, 1566, jeweils m.w.N.).

13 b) Im Streitfall fehlt es bereits an einer wirksamen Verzichtserklärung des Klägers.

14 aa) Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung ist eine Prozesshandlung; bei ihrer Auslegung und Beurteilung ist der Senat nicht an die Feststellungen des FG gebunden (vgl. , BFHE 142, 32, BStBl II 1985, 5). Als Prozesshandlung muss der Verzicht klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschluss vom XI B 176/04, BFH/NV 2006, 1105, m.w.N.). In Zweifelsfällen ist die Verzichtserklärung wegen der damit verbundenen weitreichenden Folgen für die Beteiligten eher restriktiv auszulegen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1105).

15 bb) Vorliegend fehlt es an einer klaren, eindeutigen und insbesondere vorbehaltlosen Verzichtserklärung. Der Kläger hat seinen Verzicht nur für den Fall erklärt, dass keine Einigung zwischen den Beteiligten zustande kommt. Zum einen lässt diese Erklärung schon nicht hinreichend klar und eindeutig erkennen, welche Beteiligten (der Kläger und/oder die Beigeladene mit dem FA oder der Kläger mit der Beigeladenen) sich einigen sollen. Ferner wird nicht klar, worüber sich die Beteiligten einigen sollen. Auch ist der Begriff Zahlungsmodalitäten völlig unbestimmt und kann sich etwa sowohl auf eine für den Feststellungsbescheid relevante Sachverhalts- und/oder Rechtsfrage (z.B. Zahlungsvorgänge bei der Auseinandersetzung der Gesellschafter) als auch auf mit einem Folgebescheid zusammenhängende Erhebungsfragen (Stundung der sich bei Anerkennung des Feststellungsbescheids ergebenden Einkommensteuerschuld) beziehen. Zum anderen ist die Verzichtserklärung nicht vorbehaltlos erfolgt, sondern wurde erkennbar an eine außergerichtlich zwischen einzelnen oder allen Beteiligten zu erzielende Einigung geknüpft. Insoweit handelt es sich um eine unzulässige echte und nicht nur um eine ausnahmsweise zulässige innerprozessuale Bedingung (zur Abgrenzung s. etwa BFH-Beschlüsse vom IX B 163/01, BFH/NV 2002, 1330; in BFH/NV 2006, 1105, und , BFH/NV 1998, 183, m.w.N.).

16 c) Selbst wenn man aber —wie das FG— von einer ursprünglich wirksamen Verzichtserklärung ausginge, wäre diese spätestens aufgrund der am durchgeführten und mit einem Vertagungsbeschluss beendeten mündlichen Verhandlung wirkungslos geworden.

17 aa) Insoweit ist zum einen zu berücksichtigen, dass der Kläger jedenfalls mit seinem im Schreiben vom gestellten Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung seine Verzichtserklärung widerrufen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die für die Wirksamkeit einer solchen Widerrufserklärung geforderte wesentliche Änderung der Prozesslage (z.B. , BFH/NV 2010, 2076) im Streitfall tatsächlich vorlag, auch wenn dafür einiges spricht, da das FG nach der Verzichtserklärung weitere rechtliche Hinweise erteilt und auch selbst weiteren Aufklärungsbedarf gesehen hat. Denn für den Kläger wurde jedenfalls nicht erkennbar, ob das FG dessen Widerruf als wirksam erachtete oder nur von seinem Ermessen Gebrauch machte, eine mündliche Verhandlung trotz vorliegender Verzichtserklärungen durchzuführen. Der Kläger durfte daher davon ausgehen, dass seine Verzichtserklärung keine weitere Wirkung mehr entfaltete.

18 bb) Zum anderen hat das FG durch seinen Vertagungsbeschluss selbst zum Ausdruck gebracht, dass es eine weitere mündliche Verhandlung für erforderlich hält. Eine Vertagung beinhaltet die Bestimmung eines neuen Termins nach Beginn eines Termins (, BFH/NV 2005, 1068). Selbst wenn das FG den Begriff der Vertagung nicht in diesem Sinne verstanden haben sollte, hätte es berücksichtigen müssen, dass es bei der Auslegung auf die Sicht der Beteiligten ankommt und diese die Bestimmung eines neuen Termins erwarten konnten. Um hier Klarheit zu schaffen, hätte das Gericht von sich aus eine erneute mündliche Verhandlung durchführen oder einen (erneuten) Verzicht nach § 90 Abs. 2 FGO herbeiführen müssen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 1068).

19 d) Ist eine Verzichtserklärung nach den vorstehenden Maßstäben wirkungslos (geworden), ist eine gleichwohl ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung zugleich wegen eines Mangels der Vertretung verfahrensfehlerhaft i.S. des § 119 Nr. 4 FGO (, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, m.w.N.; , BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556).

20 2. Aufgrund der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des gleichzeitig vorliegenden Mangels der Vertretung ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Der Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 3, Nr. 4 FGO davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Eine Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat verwehrt (BFH-Beschluss in BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556, m.w.N.).

21 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

22 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2017:B.121017.IIIB32.17.0

Fundstelle(n):
AO-StB 2018 S. 87 Nr. 3
BFH/NV 2018 S. 211 Nr. 2
ZAAAG-64222