BSG Beschluss v. - B 14 AS 12/17 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - Anspruch auf rechtliches Gehör - Berücksichtigung eines über vier Jahre zurückliegenden Schreibens ohne Gelegenheit zur Stellungnahme - Verweigerung einer Eingliederungsvereinbarung

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 62 SGG, § 103 Abs 1 GG, § 15 SGB 2

Instanzenzug: SG Frankfurt Az: S 26 AS 1101/13 Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 7 AS 879/15 Beschluss

Gründe

1I. Die Klägerin bezieht seit April 2011 Leistungen des beklagten Jobcenters. Umstritten ist der Bescheid des Beklagten vom an die Klägerin, in dem eine Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II durch einen Verwaltungsakt ersetzt worden ist. Ihr Widerspruch wurde zurückgewiesen; ihre Klage wurde abgewiesen; ihre Berufung hat das LSG nach § 153 Abs 4 SGG durch Beschluss zurückgewiesen.

2II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 160a Abs 5 SGG). Der Beschluss des LSG beruht auf einem Verfahrensfehler nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, der von der Klägerin entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet worden ist. Zu Recht beanstandet sie, dass das LSG ihre Berufung im vereinfachten Beschlussverfahren nach § 153 Abs 4 SGG unter Verwertung ua ihres Schreibens vom April 2012 zurückgewiesen hat, ohne sie vorher zur Verwertung dieses Schreibens anzuhören.

3Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG, außer wenn das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält. Nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind die Beteiligten vorher zu hören. Dieses Anhörungserfordernis ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zugunsten der Beteiligten weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten kompensieren und der Wahrung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) dienen soll (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig ua, SGG, 12. Aufl 2017, § 153 RdNr 19).

4Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG, die bei einem Vorgehen im Beschlusswege diesen Anspruch sichern soll, liegt vor, wenn die Entscheidung auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen die Beteiligten sich nicht äußern konnten (sog Überraschungsentscheidung, - BVerfGE 84, 188, 190; ua - BVerfGE 89, 381, 392; vgl - SozR 3-1500 § 153 Nr 1; - SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 26), oder wenn das LSG seine Pflicht verletzt hat, das Vorbringen der Beteiligten in seine Erwägungen miteinzubeziehen ( - BVerfGE 96, 205, 216 f). Daraus folgt jedoch weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung oder einer sie ersetzenden Anhörung die endgültige Beweiswürdigung bereits darzulegen. Geboten ist vielmehr lediglich dann ein Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte ( - SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 26 mwN).

5Die Voraussetzungen einer solchen Überraschungsentscheidung und damit eines Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind vorliegend durch die Verwertung des Schreibens der Klägerin vom April 2012 in dem angefochtenen Beschluss erfüllt.

6In diesem Beschluss hat das LSG die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom bestätigt und zur Begründung ausgeführt, der Erlass eines eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts setze eine atypische Situation voraus, wie etwa die Weigerung der leistungsberechtigten Person eine entsprechende Vereinbarung abzuschließen. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall "eindeutig erfüllt", denn schon im Schreiben vom habe die Klägerin ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, keine neue Eingliederungsvereinbarung abschließen zu wollen, bevor nicht der Beklagte ihre verschiedenen Forderungen erfüllt habe. Nach dem Beratungsgespräch vom und dem anschließend übersandten Entwurf einer Eingliederungsvereinbarung, in dem der Beklagte nicht schematisch an den früheren Eingliederungsvereinbarungen festgehalten habe, habe die Klägerin schließlich in ihrem Schreiben vom unmissverständlich den Abschluss einer neuen Eingliederungsvereinbarung aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt.

7Wie diesem Gang der Begründung zu entnehmen ist, war das Schreiben der Klägerin vom (nicht wie das LSG anführt vom "") für die Entscheidung des LSG neben dem weiteren Schreiben vom November 2012 ein tragender Gesichtspunkt. Weder in dem Verwaltungsverfahren noch in den beiden gerichtlichen Instanzen - abgesehen von dem angefochtenen Beschluss - wurde das Schreiben der Klägerin vom April 2012 jedoch erwähnt.

8Einer Überraschungsentscheidung steht nicht entgegen, dass es sich bei dem April-Schreiben um ein eigenes Schreiben der Klägerin im Zusammenhang mit dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung mit dem Beklagten handelt, dessen Existenz und Inhalt ihr bekannt gewesen sein müssen. Denn selbst wenn das Schreiben im Sinne des LSG - kein Abschluss einer neuen Eingliederungsvereinbarung - auszulegen sein sollte, hat der Beklagte trotz dieses Schreibens gut ein halbes Jahr später im Rahmen des Beratungsgesprächs vom wieder Verhandlungen mit der Klägerin über eine solche Vereinbarung geführt, so dass er anscheinend davon ausging, das Schreiben vom April 2012 sei - aus welchen Gründen auch immer - überholt. Der ersetzende Verwaltungsakt vom erging nochmals fünf Monate später, nachdem die Klägerin ihre Position erneut im Schreiben vom dargelegt hatte. Weder in diesem Bescheid noch im weiteren Verfahren hat sich ein Beteiligter und auch nicht das SG in seinem klageabweisenden Urteil auf das Schreiben vom April 2012 bezogen, so dass es für die Klägerin überraschend war, wenn das LSG dann seine Entscheidung vom auf dieses Schreiben stützt, ohne ihr Gelegenheit zu geben, zu diesem nunmehr über vier Jahre zurückliegenden Schreiben Stellung zu nehmen. Dies folgt nicht nur aus den zeitlichen Abläufen, sondern trotz des durchgehenden Sozialrechtsverhältnisses zwischen den Beteiligten aus den konkreten Abläufen, die zu dem vorliegend umstrittenen Bescheid vom geführt haben, weil der Beklagte im Oktober 2012 ein neues Verfahren zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung mit der Klägerin begonnen hat.

9Dass die Entscheidung des LSG auf dieser Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör beruhen kann, hat die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nachvollziehbar dargelegt. Denn im Rahmen einer möglichen Stellungnahme hätte sie die näheren Umstände und Hintergründe für dieses Schreiben sowie dessen Bedeutung für das Verwaltungsverfahren und den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung im Oktober 2012 erläutern können, zumal an die Rechtmäßigkeit eines eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts erhebliche Anforderungen bestehen (vgl nur - BSGE <vorgesehen> = SozR 4-4200 § 15 Nr 6).

10Angesichts dieser Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör kann eine Entscheidung über die von ihr erhobenen weiteren Rügen und die Erörterung der Frage, ob Fehler bei der ordnungsgemäßen Durchführung der Anhörung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG als absoluter Revisionsgrund zu behandeln sind (verneinend: - SozR 4-1500 § 153 Nr 7; - juris), dahingestellt bleiben.

11Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil für eine abschließende Entscheidung in der Sache Tatsachenfeststellungen und eine Würdigung der genannten Schreiben notwendig sind.

12Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:300817BB14AS1217B0

Fundstelle(n):
CAAAG-59060