Versuchter Totschlag: Anforderungen an einen bedingten Tötungsvorsatz
Gesetze: § 22 StGB, § 23 StGB, § 212 StGB
Instanzenzug: LG Gießen Az: 401 Js 26926/15 - 5 Ks
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Beleidigung sowie wegen versuchter Nötigung, Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung und Sachbeschädigung sowie Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung unter Einbeziehung weiterer Strafen aus einer anderen Entscheidung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zum Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
21. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte am im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit einer anderen Person auf den Zeugen P. getroffen und war ihm mit seinem Motorroller gefolgt, hatte ihn beleidigt und bedroht, bevor er vor dem Hof des Zeugen stürzte. Anschließend drohte er erneut an, ihn „abzustechen“, und floh schließlich ohne seinen Roller, dessen Schlüssel P. abgezogen hatte (Fall II. 2 der Urteilsgründe). Kurze Zeit später kehrte der Angeklagte zurück, wiederholte seine Drohung und kündigte dem Zeugen an, ihn „abzustechen“, wenn er die Polizei rufe. Mit vorgehaltenen Besenstielen gelang es dem Zeugen P. und dem hinzugeeilten Nachbarn B. , den mit einem Messer Stichbewegungen in Richtung des P. ausführenden Angeklagten auf Distanz zu halten. Schließlich kam der dem Angeklagten körperlich überlegene Zeuge O. hinzu, schlug ihm das Messer aus der Hand und nahm ihn mit (Fall II. 3 der Urteilsgründe).
3Aufgrund der Alkoholisierung, seines akuten Schlafmangels und noch immer aufgebracht und wütend auf den Zeugen P. entschloss sich der Angeklagte nun, diesen zu töten. Er bewaffnete sich mit einer Grabgabel mit vier vorne spitz zulaufenden Zinken aus Metall mit einer Länge von 26 cm, wobei der Stiel der Gabel etwa 20 cm oberhalb der Zinken abgebrochen war. Damit machte er sich auf den Weg zum Hof des Zeugen P. , der von einem Nachbarn vor dem Erscheinen des Angeklagten telefonisch gewarnt worden war. P. seinerseits bewaffnete sich zu seiner Verteidigung mit einer Schaufel, der Zeuge B. hielt noch immer den Besenstiel in seiner Hand. Als der Angeklagte die beiden wieder erreicht hatte, stürzte er auf den Zeugen P. zu und führte mit der Grabgabel Stichbewegungen in Richtung des Zeugen aus. Als der Angeklagte noch etwa fünf Meter entfernt war, warnte ihn P. , er werde mit der Schaufel zuschlagen, falls er sich weiter nähere. Der Angeklagte ließ sich davon nicht abhalten, näherte sich bis auf eineinhalb Meter und stach mit der Grabgabel, die er mit beiden Händen vor sich hielt, gezielt in Richtung des Oberkörpers des Zeugen wuchtig zu. Obwohl dieser vor dem Stich des Angeklagten zurückwich, gelangten die Spitzen bis auf eine Entfernung von 50 Zentimeter an seinen Bauch heran. Dabei erkannte der Angeklagte, dass er P. am Oberkörper treffen und ihm dadurch im Bereich lebenswichtiger Organe Verletzungen zufügen würde. Dennoch stach er immer wieder in dessen Richtung, wobei er erneut drohte, ihn abzustechen. Nunmehr schlug P. mit der Schaufel nach dem Angeklagten und traf ihn am Arm. Die Grabgabel fiel zu Boden, der Angeklagte hob sie wieder auf und ging erneut auf den Zeugen P. los. Diesem gelang es jedoch zusammen mit dem Zeugen B. , den Angeklagten weiter auf Distanz zu halten. Schließlich kam erneut O. hinzu, dem es mit erheblichem Kraftaufwand gelang, den Angeklagten von dem Zeugen P. wegzuziehen. Beide verließen sodann den Ort des Geschehens (Fall II. 4 der Urteilsgründe).
42. Die Schwurgerichtskammer ist davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte durch das Zustechen in Richtung des Oberkörpers des Zeugen P. wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht hat. Der Angeklagte habe unmittelbar zur Tat angesetzt und auch den Entschluss gefasst, diesen zu töten. Er habe gewusst, dass er mit einem Stich in Richtung des Oberkörpers lebenswichtige Organe treffen und verletzen könne. Aufgrund des dynamischen Geschehens und des Umstandes, dass er den Zeugen mit vier Spitzen gleich an vier Stellen des Körpers treffen würde, habe er auch nicht darauf vertraut, dass er beim Zustechen lebenswichtige Organe verfehlen würde. Zudem habe er seiner Absicht, den Zeugen zu töten, dadurch Ausdruck verliehen, dass er mehrfach lautstark ankündigte, P. zu töten. Schließlich habe sich der Angeklagte dem Zeugen so weit genähert, dass er ihn ohne dessen Zurückweichen getroffen hätte.
II.
5Die Revision des Angeklagten hat Erfolg, soweit er im Fall II. 4 der Urteilsgründe unter anderem wegen versuchten Totschlags verurteilt worden ist. Das Landgericht hat die Annahme des Tötungsvorsatzes nicht tragfähig begründet.
61. Es ist den Urteilsgründen schon nicht eindeutig zu entnehmen, von welcher Vorsatzform das Landgericht ausgegangen ist. Soweit davon die Rede ist, der Angeklagte habe den Entschluss gefasst, den Zeugen P. zu töten, zudem habe er die Absicht, ihn zu töten, mehrfach lautstark angekündigt, deutet dies darauf hin, dass die Schwurgerichtskammer Absicht als Vorsatzform angenommen hat. Soweit sie sich damit auseinander setzt, der Angeklagte habe nicht darauf vertraut, dass er beim Zustechen in Richtung des Oberkörpers lebenswichtige Organe verfehlen würde, könnte diese im Zusammenhang mit dem voluntativen Vorsatzelement beim bedingten Vorsatz anzustellende Erwägung dafür sprechen, das Landgericht sei von lediglich bedingtem Tötungsvorsatz ausgegangen.
7Es kann dahinstehen, ob diese Unklarheit schon für sich genommen einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler darstellt. Denn jedenfalls fehlt es der landgerichtlichen Entscheidung für jede der beiden möglichen Vorsatzalternativen an hinreichend tragfähigen Erwägungen.
8a) Soweit das Landgericht bei nicht zu beanstandender Annahme des Wissenselements des Vorsatzes die Tötungsabsicht auf die mehrfachen Ausrufe des Angeklagten, er wolle ihn abstechen, und auf die ausgeführten Stichbewegungen stützt, greift diese Würdigung zu kurz. Zwar erlauben die von dem Angeklagten bei der eigentlichen Tatbegehung gemachten Äußerungen durchaus einen Rückschluss auf die mit seiner Tat verfolgten Ziele. Allerdings hätte das Landgericht insoweit in den Blick nehmen müssen, dass der Angeklagte während des gesamten Geschehens und kurz zuvor auch noch gegenüber einer anderen Person nahezu stereotyp angedroht hatte, den jeweils Betroffenen umzubringen bzw. abzustechen. Vor allem auch mit Blick auf den Zustand des Angeklagten, der alkoholisiert war, unter Drogeneinfluss stand und an erheblichem Schlafmangel litt, hätte es näherer Erörterung bedurft, ob die ausgestoßenen Bedrohungen insgesamt ernsthafter Natur waren und damit indiziell das Vorliegen von Tötungsabsicht stützen konnten oder eher auf den durch die Umstände bedingten enthemmten Zustand des Angeklagten zurückzuführen waren.
9b) Im Hinblick auf die mögliche Annahme lediglich bedingten Tötungsvorsatzes fehlt es hinsichtlich des voluntativen Vorsatzelements an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände. Die Annahme oder Ablehnung bedingten Tötungsvorsatzes können nur im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen (, NStZ 2012, 443, 444). Dabei ist die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator (vgl. , NJW 1999, 2533, 2534). Bei der Würdigung des Willenselements ist neben der konkreten Angriffsweise jedoch regelmäßig auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation mit in die erforderliche Gesamtbetrachtung einzubeziehen (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 133/07, NStZ-RR 2007, 267, 268; Beschluss vom - 2 StR 504/14, StV 2015, 695).
10Daran gemessen hätte sich das Landgericht mit einigen nach Sachlage in Betracht kommenden Umständen auseinander setzen müssen, die den Vorsatz insoweit in Frage zu stellen geeignet wären (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 204; NStZ-RR 2005, 304). Zum einen wären die Alkoholisierung des Angeklagten, sein Schlafmangel und seine Wut zu berücksichtigen gewesen. Zum anderen hätte die Schwurgerichtskammer die besondere Kampfsituation in den Blick nehmen müssen, die davon geprägt war, dass dem Angeklagten zwei bewaffnete Kontrahenten gegenüber standen. Mit Blick auf die Vorgeschichte und das Rahmengeschehen, das sich eigendynamisch, aber ohne wirkliches Motiv zur Tat hin entwickelt hat, hätte sich eine Auseinandersetzung mit der Frage aufgedrängt, ob der Angeklagte den Todeserfolg tatsächlich billigend in Kauf genommen hat.
11Dieser Darlegungsmangel führt zur Aufhebung der Verurteilung wegen versuchten Totschlags. Sie erfasst ohne Weiteres auch die tateinheitlich angenommene Beleidigung, die sich im Übrigen den Feststellungen für die Tat II. 4 der Urteilsgründe nicht entnehmen lässt.
122. Der Wegfall des Schuldspruchs im Fall II. 4 der Urteilsgründe entzieht dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Alsfeld vom gesamtstrafenfähig und damit bei der Bildung einer neuen Gesamtstrafe einzustellen ist.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:180517B2STR83.17.0
Fundstelle(n):
RAAAG-56103