BSG Beschluss v. - B 2 U 181/16 B

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler: Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht gem § 103 SGG - Ablehnung eines Beweisantrags mit "hinreichender" Begründung - objektive Sicht - weiterer Aufklärungsbedarf - Einholung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zur haftungsausfüllenden Kausalität)

Gesetze: § 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 2 Halbs 2 SGG

Instanzenzug: SG Osnabrück Az: S 17 U 219/10vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 14 U 249/14 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache (noch) darüber, ob die dissoziative Bewegungsstörung der Finger D2 - D4 der linken Hand und die mittelgradige depressive Episode des Klägers Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom sind, deswegen Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit über den hinaus besteht und die Beklagte ihm über den hinaus Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH gewähren muss.

2Am Unfalltag geriet der Kläger mit der linken Hand in eine Sägevorrichtung und zog sich dabei eine lange Schnittwunde mit Strecksehnendurchtrennung D2 - D4 zu (Primärschaden). Im Verwaltungsverfahren zog die Beklagte ua ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. V. vom bei, wonach das verbliebene Streckdefizit der Finger II bis IV auf einer dissoziativen Bewegungsstörung beruhe. Diese müsse als allenfalls indirekte Unfallfolge iS einer Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens eingestuft werden. Ein direkter ursächlicher Zusammenhang werde schwerlich nachzuweisen sein. Eine eindeutig unfallbedingte MdE auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet liege nicht vor. Die Beklagte gewährte dem Kläger ab dem (angenommener Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit) bis zum Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH und verneinte einen Anspruch auf Rente für die anschließende Zeit. Als Unfallfolgen erkannte sie an: "Nach Rissverletzung der linken Hand operativ versorgter Strecksehnendurchtrennung D2 - D4 auf Handrückenhöhe und knöcherner Beteiligung: Einschränkung der Beweglichkeit des 3. und 4. Fingers, Muskelminderung des Armes, Herabsetzung der groben Kraft der Hand, Narbenbildung im Bereich des Handrückens, Minderbeschwielung der Hohlhand, Kalksalzminderung der Hand, subjektive Beschwerden". Als Unfallfolgen lehnte sie ab: "Dissoziative Störung, depressive Verstimmungen" (Bescheid über Rente für zurückliegende Zeit vom und Widerspruchsbescheid vom ).

3Das SG hat von Amts wegen ua ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. Sp. aus W. vom nebst ergänzenden Stellungnahmen vom und eingeholt. Der Sachverständige hat eine dissoziative Bewegungsstörung sowie eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert und ausgeführt, der Unfall sei für diese Gesundheitsstörungen zumindest als wesentliche Teilursache anzusehen; die MdE betrage seit dem bis auf Weiteres 30 vH. Hierzu hat die Beklagte beratungsärztliche Stellungnahmen des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Psych. Dr. F. vom und vorgelegt, wonach der Unfall nicht geeignet gewesen sei, eine psychotraumatologische Störung hervorzurufen und deshalb lediglich als Gelegenheitsursache zu werten sei. Das SG hat sich den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen und der Klage im Wesentlichen stattgegeben (Urteil vom ).

4Nachdem die Beklagte im Berufungsverfahren eine "beratungsärztliche nervenärztliche Stellungnahme" des Arztes für Neurologie und Nervenheilkunde Prof. Dr. T., Direktor der Neurologischen Universitätsklinik der BG-Kliniken B. in B., vom vorgelegt hatte, hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom ): "Letztlich" sei "das Gutachten von Dr. Sp. im Ergebnis insgesamt nicht überzeugend" und "nach Auffassung des Senats nicht geeignet, … eine wesentliche Mitursächlichkeit des Unfallereignisses" für "die festgestellten Gesundheitsstörungen 'dissoziative Bewegungsstörungen D2 bis D4 links' sowie 'mittelgradige depressive Episode' einschließlich der zugrunde liegenden Symptomatik" … "zu begründen". Hingegen sei "unter Berücksichtigung des gesamten Sach- und Erkenntnisstandes nach wie vor schlüssig das Ergebnis des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten Dr. V., wonach sich gemäß den Maßstäben der gesetzlichen Unfallversicherung ein hinreichender ursächlicher Zusammenhang zwischen den psychoreaktiven Gesundheitsstörungen und dem Unfallereignis hier gerade nicht mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen" lasse. Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Antrag, "ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten zu der Frage einzuholen, ob der Arbeitsunfall … vom die wesentliche Ursache für das bei ihm jetzt vorliegende psychische Krankheitsbild" sei, habe der Senat nicht nachkommen müssen. Denn der medizinische Sachverhalt sei hinreichend geklärt und für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs kein neues Gutachten erforderlich. Die Schlüssigkeit der Argumentation des Sachverständigen Dr. Sp. habe der Senat auch unter Zuhilfenahme der beratungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. F. und des Prof. Dr. T. sowie unter Auswertung des vorprozessual eingeholten Gutachtens des Dr. V. überprüfen können.

5Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im rügt der Kläger ua die Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG).

6II. Die zulässige Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG ist begründet. Die formgerecht (§ 103 iVm § 160 Abs 2 Nr 2 Halbs 2 SGG) gerügte Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht liegt vor.

7Dem zu Protokoll erklärten und damit bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag des Klägers ist das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Dabei ist unerheblich, ob das LSG die Ablehnung des Beweisantrags hinreichend begründet hat, sondern es kommt allein darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit - SozR 1500 § 160 Nr 5; vgl zuletzt zB BSG Beschlüsse vom - B 9 SB 47/10 B - Juris RdNr 4 und vom - B 13 R 290/11 B - Juris RdNr 12). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen ( - Juris RdNr 8), insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt (wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist), wenn diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BSG Beschlüsse vom - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10; vom - B 5a/5 R 406/06 B - Juris RdNr 8; vom - B 13 R 511/09 B - Juris RdNr 14; vom - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 4; vom - B 9 VG 18/10 B - Juris RdNr 9 und vom - B 13 R 325/13 B - Juris RdNr 13).

8Ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung hätte sich das LSG aus objektiver Sicht gedrängt fühlen müssen, ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten zur haftungsausfüllenden Kausalität zwischen Primär- und psychischen Sekundärschäden einzuholen. Das Berufungsgericht hat der philosophisch-naturwissenschaftlichen Kausalität von Primär- und Sekundärschäden für die Feststellung von Unfallfolgen, ihrer Behandlungsbedürftigkeit und Entschädigung prozessentscheidende Bedeutung beigemessen, das nervenärztliche Sachverständigengutachten des Dr. Sp."unter Zuhilfenahme der beratungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. F. und des Prof. Dr. T." als Entscheidungsgrundlage verworfen und den Beweisantrag abgelehnt, weil das Fehlen des Ursachenzusammenhangs aufgrund des Verwaltungsgutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. V. vom bereits erwiesen sei. Dies genügte nicht, um die fehlende Zuziehung eines weiteren Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet zu rechtfertigen.

9Zwar können Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO) und auch alleinige Entscheidungsgrundlage sein (Senatsurteil vom - 2/9b RU 66/87 - Juris RdNr 17 sowie Senatsbeschlüsse vom - 2 RU 231/62 - SozR Nr 66 zu § 128 SGG und vom - B 2 U 108/07 B - RdNr 6; V C 45.63 - BVerwGE 18, 216 = Buchholz 310 § 188 Nr 1). Dies setzt allerdings voraus, dass das Verwaltungsgutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht (vgl dazu exemplarisch - BVerfGK 5, 40 - Juris RdNr 16; - BGHSt 45, 164, 178 ff), die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind ( 9a RV 45/82 - Juris RdNr 12), was das Tatsachengericht bei der Angabe der Gründe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 128 Abs 1 S 2 SGG), zu erörtern und festzustellen hat. Ferner muss das LSG im Rahmen von § 128 Abs 1 S 2 SGG erkennen lassen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten verwertet hat und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 415 ZPO) bewusst gewesen sind, zu denen beispielsweise die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 404a, 407a ZPO), die fehlende Strafandrohung der §§ 153 ff StGB und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht (§§ 116 S 2, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO; § 62 SGG) zählen. Das LSG geht jedoch weder auf die Frage ein, ob das Verwaltungsgutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. V. den förmlichen und inhaltlichen Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Sachverständigengutachten entspricht noch lässt es erkennen, dass es sich bei dessen Verwertung über die Unterschiede zwischen Sachverständigen- und Urkundenbeweis im Klaren gewesen ist. Ungeachtet dessen wird das LSG zu erwägen haben, ob ihm das Verwaltungsgutachten die erforderliche Überzeugung vom Vorliegen bzw Nichtvorliegen der haftungsausfüllenden Kausalität vermitteln kann. Auch wenn nach Ansicht des Verwaltungsgutachters ein "direkter ursächlicher Zusammenhang … schwerlich nachzuweisen" ist, so bezeichnet er doch die psychischen Erkrankungen immerhin "als allenfalls indirekte Unfallfolgen", zu denen aber gerade die hier in Rede stehenden Sekundärschäden zählen.

10Schließlich schied auch das Gerichtsgutachten des Sachverständigen Dr. Sp. als Entscheidungsgrundlage aus, weil es aus der maßgeblichen Sicht des LSG "im Ergebnis insgesamt nicht überzeugend" sei und damit iS von § 118 Abs 1 S 1 iVm § 412 Abs 1 ZPO "für ungenügend erachtet" wurde. Fehlte damit aber überhaupt eine verwertbare sachverständige Aussage über das Vorliegen bzw Nichtvorliegen des Ursachenzusammenhangs zwischen Primär- und Sekundärschäden, wandelte sich das dem Tatsachengericht in § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO grundsätzlich eingeräumte Ermessen ausnahmsweise in die Rechtspflicht, eine neue Begutachtung anzuordnen.

11Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen des Klägers auch nicht auszuschließen, dass die beantragte Zuziehung eines weiteren medizinischen Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet überzeugende Gesichtspunkte für die hinreichende Wahrscheinlichkeit des geltend gemachten Ursachenzusammenhangs erbracht hätten, die zu einer Feststellung der dissoziativen Bewegungsstörung der Finger D2 - D4 links und der mittelgradigen depressiven Episode als Unfallfolgen, zur Anerkennung von Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit über den hinaus und zur Gewährung von Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH über den hinaus geführt hätten.

12Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.

13Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:300317BB2U18116B0

Fundstelle(n):
ZAAAG-45310