Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Entscheidung über den Antrag vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist
Leitsatz
Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darf das Gericht nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Eine vorzeitige Entscheidung kann den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzen und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen (im Anschluss an , NJW 2011, 1363).
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 234 Abs 1 ZPO, § 236 Abs 2 ZPO, § 574 Abs 2 Nr 2 ZPO
Instanzenzug: Az: 5 U 38/15 Beschlussvorgehend LG Aachen Az: 11 O 399/12
Gründe
I.
1Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Einstandspflicht wegen angeblicher Behandlungsfehler gerichtete Klage mit Urteil vom weit überwiegend abgewiesen. Das Urteil ist der erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugestellt worden. Am hat der nunmehr mandatierte Prozessbevollmächtigte des Klägers Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom , dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugegangen, hat das Berufungsgericht auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Am hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers einen Antrag auf Wiedereinsetzung übersandt und die Berufung begründet. Er hat vorgetragen, vom 22. bis urlaubsbedingt abwesend gewesen zu sein. Die Fristversäumung beruhe auf dem Versehen seiner zuverlässigen und ansonsten beanstandungsfrei arbeitenden Rechtsanwaltsfachangestellten Frau W., die die Berufungsbegründungsfrist nicht in den Fristenkalender eingetragen habe. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Frau W. beigefügt gewesen.
2Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unbegründet sei. Der Kläger habe bereits nicht schlüssig dargelegt, dass er ohne ihm zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten.
3Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Rechtsbeschwerde.
II.
4Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Indem das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen hat, hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
51. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (BVerfGE 53, 219, 222; vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl., Vor § 128 Rn. 6 jeweils mwN). Danach darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden; dabei ist unerheblich, ob es die Sache für entscheidungsreif hält, weil der Antragssteller innerhalb der Frist zu den Wiedereinsetzungsgründen ergänzend vortragen kann und darf (vgl. , NJW 2011, 1363 Rn. 4).
62. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Berufungsgericht hat sich in zivilprozessual unzulässiger Weise der Möglichkeit begeben, Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, da es vor Fristablauf einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beschieden hat. Die Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Sie beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ist die Verfügung des Berufungsgerichts am zugestellt worden. Selbst wenn man für dessen Kenntnis von der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als Zeitpunkt der Behebung des Hindernisses auf dieses Datum abstellt, war am die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO noch nicht abgelaufen. Die Bescheidung des Wiedereinsetzungsantrags war mithin verfrüht. Dabei kann dahinstehen, ob - wie von der Beschwerde vorgetragen - eine gerichtliche Hinweispflicht bestand, den Kläger auf seinen für unzureichend erachteten Vortrag hinzuweisen (vgl. zur Reichweite der Hinweispflichten bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa Senatsbeschluss vom - VI ZB 19/16, VersR 2016, 1463 Rn. 7 ff.; BGH, Beschlüsse vom - I ZB 73/07, GRUR 2008, 837; und vom - VII ZB 28/10, NJW-RR 2011, 790).
7Der Verstoß war entscheidungserheblich, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger seinen Vortrag zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags bis zum Fristablauf hinreichend ergänzt hätte.
83. Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die Sache ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des Klägers im Rechtsbeschwerdeverfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:291116BVIZB27.15.0
Fundstelle(n):
NJW 2017 S. 1111 Nr. 15
NJW 2017 S. 9 Nr. 8
HAAAG-35353