Persönliche Kindergeldanspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten; im Wesentlichen inhaltsgleich mit
Leitsatz
1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
2. Für den Bezug von Familienleistungen nach ausländischem (hier: polnischem) Recht geltende Einkommensgrenzen sind auf den Kindergeldanspruch nicht anwendbar.
Gesetze: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 64 Abs. 2 Satz 1, EGV 883/2004 Art. 67 Satz 1, EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 Satz 2
Instanzenzug: ,
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist polnische Staatsangehörige, die in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und als Gewerbetreibende selbständig ist. Sie ist Mutter des 1992 geborenen Sohnes P, der bis 2012 in Polen im Haushalt des von der Klägerin geschiedenen Kindsvaters lebte und dort eine Schule besuchte. Der Kindsvater ist polnischer Staatsangehöriger. Er arbeitet in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Polnische Familienleistungen bezog er nicht.
2 Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte einen Antrag der Klägerin auf Kindergeld für P ab Oktober 2010 ab, da der Kindsvater vorrangig kindergeldberechtigt sei. Den dagegen eingelegten Einspruch wies sie im Oktober 2011 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 795 abgedruckten Urteil statt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
3 Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski C-378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom C-378/14 (EU:C:2015, 720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst —DStRE— 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
4 Die Familienkasse beantragt,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
5 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
6 Wenn unterstellt werde, dass der Kindsvater in Deutschland lebe, müsse auch die Anwendbarkeit der polnischen Einkommensgrenzen für die Gewährung von Familienleistungen unterstellt werden. Danach scheide ein Anspruch des Kindsvaters aus.
Gründe
7 II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.
8 1. Die Familienkasse X der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit Z (Familienkasse) eingetreten (s. dazu Senatsurteil vom V R 25/12, BFH/NV 2014, 322, Rz 11 f.).
9 2. Die Klägerin ist zwar kindergeldberechtigt, weil sie in Deutschland lebt und Mutter eines Sohnes ist, der seinen Wohnsitz in Polen hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG) und für den ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da er eine Schule besuchte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).
10 Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Kindsvater vorrangig anspruchsberechtigt.
11 a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
12 b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) —wie hier die Klägerin nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004— Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten —insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt— unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501).
13 Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
14 c) So verhält es sich im Streitfall: P lebt im Haushalt des ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsvaters, so dass die Klägerin gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Die Einkommensgrenzen nach polnischem Recht sind für den Kindergeldanspruch des Kindsvaters ohne Bedeutung. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 ist im Streitfall über den Kindergeldanspruch zu entscheiden, als würden alle Beteiligten unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen. Die Einkommensgrenzen nach polnischem Recht finden danach keine Anwendung.
15 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2016:U.230816.VR11.13.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2017 S. 35 Nr. 1
AAAAF-86858