BGH Urteil v. - 2 StR 88/16

Nachträgliche Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in einem Altfall: Anzuwendende Vorschrift bei vor Inkrafttreten der Neuregelung begangenen Anlasstaten; Rechtscharakter der Frist für die Anordnung

Gesetze: § 66a Abs 2 StGB vom , § 66a StGB vom , Art 316e Abs 2 S 2 StGBEG, § 275a StPO

Instanzenzug: Az: 1 Ws 483/15 Vorlagebeschlussvorgehend LG Gera Az: 2 AR 20/15

Gründe

1Das Landgericht Gera - 2. Strafkammer - hatte mit Urteil vom den Verurteilten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und sich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten.

2Mit "Beschluss" vom hat die nämliche Strafkammer des Landgerichts ohne mündliche Hauptverhandlung entschieden, dass die durch das vorbezeichnete Urteil vorbehaltene Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet wird. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass gemäß § 66a Abs. 2 StGB in der ab geltenden Fassung (eingeführt durch Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom , BGBl. I S. 3344) über die Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor einer möglichen Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zu entscheiden sei. Diese Frist sei hier verstrichen, da der Verurteilte die verhängte Freiheitsstrafe schon zum zu zwei Dritteln verbüßt habe.

3Gegen diese am zugestellte Entscheidung hat die Staatsanwaltschaft am "sofortige Beschwerde" eingelegt. Mit einem am beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz hat sie ihr Rechtsmittel begründet und ausgeführt, dass über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auch in Altfällen gemäß § 66a Abs. 3 StGB in der ab geltenden Fassung (eingeführt durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom , BGBl. I S. 2300) bis zur vollständigen Vollstreckung der Strafe entschieden werden könne. Der Gesetzgeber habe mit der Neuregelung des § 66a StGB erkennen lassen, dass er die Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. nicht als Ausschlussfrist habe verstanden wissen wollen. Im Übrigen könne unter den in Art. 316f Abs. 2 EGStGB genannten Voraussetzungen die Sicherungsverwahrung "auch über den Ablauf der sechsmonatigen Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. angeordnet werden".

4Das Thüringer Oberlandesgericht hat die Sache mit Beschluss vom zur Entscheidung über das als Revision zu behandelnde Rechtsmittel an den Bundesgerichtshof abgegeben. Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

5Das Rechtsmittel ist statthaft und zulässig.

61. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist das Rechtsmittel der Revision statthaft.

7Zwar hat das Gericht seine Entscheidung als "Beschluss" bezeichnet. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde nach §§ 304 ff. StPO das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur aufgrund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (vgl. Senat, Urteil vom – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 186; Beschluss vom – 2 StR 524/09, BGHSt 55, 62, 63 f.; , NStZ 2011, 693 f. mwN).

8Nach § 275a Abs. 2 und 3 StPO ist über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt aufgrund einer Hauptverhandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung ergeht bei Anordnung wie auch bei Absehen von der Anordnung gleichermaßen durch Urteil (§ 275a Abs. 2 i.V.m. § 260 Abs. 1 StPO). Ein schriftliches Verfahren ist dagegen nicht vorgesehen. Die Entscheidung stellt daher auch dann ein Urteil dar, wenn sie die Bezeichnung "Beschluss" trägt und ohne Verhandlung und Verkündung erlassen wurde (Senat, Urteil vom - 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180 ff; , NStZ 2011, 693 f.; KK-StPO/Greger 7. Aufl. § 275a Rn. 19).

9Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel irrtümlich als "sofortige Beschwerde" bezeichnet hat, ist nach § 300 StPO ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (Senat, Urteil vom – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 300 Rn. 2).

102. Das als Revision zu behandelnde Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist fristgerecht erhoben und begründet worden. Die Ausführungen lassen den Willen der Beschwerdeführerin hinreichend erkennen, die angefochtene Entscheidung wegen eines sachlich-rechtlichen Fehlers zur Nachprüfung zu stellen.

II.

11Die Revision ist unbegründet. Die Überprüfung der Entscheidung auf die Sachrüge zeigt keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.

121. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die materiellen Voraussetzungen einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auf der Grundlage der Feststellungen nicht vorliegen, weil die Ausschlussfrist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. verstrichen ist.

13Nach Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB in der ab geltenden Fassung ist § 66a StGB in der ab geltenden Fassung nur anzuwenden, wenn die Tat oder mindestens eine der Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung angeordnet werden soll, nach dem begangen worden ist. In allen anderen Fällen ist nach Art. 316e Abs. 2 Satz 2 EGStGB das bisherige Recht anzuwenden. Auf den vorliegenden Fall findet daher § 66a StGB in der ab bis geltenden Fassung Anwendung, weil die Anlasstaten in der Zeit von April bis Juni 2003 begangen worden sind.

14Dies gilt nach Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB zwar nur insoweit, als in Art. 316f Abs. 2 und 3 EGStGB nichts anderes bestimmt ist. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ergibt sich aber aus Art. 316f Abs. 2 EGStGB weder eine über § 66a StGB a.F. hinaus gehende längere Anordnungsfrist noch eine Geltung des § 66a Abs.3 StGB n.F.

15Durch den in Art. 316e Abs. 2 Satz 2 EGStGB erfolgten Verweis auf Art. 316f Abs. 2 EGStGB soll lediglich sichergestellt werden, dass die bis zum geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in Fällen rückwirkender Gesetzesanwendung oder nachträglicher Sicherungsverwahrung (sog. Vertrauensschutzfälle) nur unter den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom (2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326, 404 ff.) formulierten hohen Voraussetzungen weiter anwendbar sind (vgl. BT-Drucks. 17/9874 vom , S. 30; , BGHSt 58, 292, 294 f.). Ungeachtet dessen handelt es sich vorliegend auch nicht um einen solchen von Art. 316f Abs. 2 EGStGB erfassten "Vertrauensschutzfall". Das Landgericht hat die Anordnung der Sicherungsverwahrung am Maßstab des § 66a Abs. 2 StGB in der bis geltenden Fassung geprüft. Diese Vorschrift war zum Zeitpunkt der letzten Anlasstat () bereits in Kraft; sie wurde durch das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom (BGBl. I S. 3344) mit Wirkung ab eingeführt.

16Es gilt daher § 66a Abs. 2 a.F. weiter (vgl. auch − 1 StR 246/13, NStZ 2014, 209; Ullenbruch/Morgenstern in MüKo StGB, 2. Aufl., § 66a Rn. 138). Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift. Die Einhaltung der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. stellt vielmehr eine grundsätzlich verbindliche materiell-rechtliche Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung dar ( –, BGHSt 51, 159, 160 ff.; Urteil vom – 1 StR 98/12, NStZ 2013, 100, 101; KK-StPO/Greger, 7. Aufl. § 275a Rn. 7).

17Ob eine Sicherungsverwahrung ausnahmsweise angeordnet werden kann, wenn die Frist nur wenige Tage überschritten ist (vgl. insoweit , StV 2006, 63 f.) und die Gründe dafür nicht im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, braucht hier nicht entschieden zu werden. Das Landgericht hatte zum , dem spätesten Entscheidungszeitpunkt (§ 66a Abs. 2 Satz 1, § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB), das Nachverfahren noch nicht einmal eingeleitet.

182. Die Entscheidung unterliegt nicht schon deshalb der Aufhebung, weil über die Anordnung von Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt nur aufgrund einer mündlichen Hauptverhandlung unter Beteiligung der Schöffen durch Urteil entschieden werden kann.

19Ungeachtet dessen, dass schon fraglich ist, ob die im Beschlussverfahren ergangene Entscheidung auf diesem Rechtsfehler überhaupt beruhen kann, weil die Sicherungsverwahrung schon wegen Fristversäumnis und damit aus zwingenden Rechtsgründen nicht angeordnet werden konnte (vgl. dazu , NStZ 2006, 178, 179; , NStZ 2011, 693, 694; KK-StPO/Greger, 7. Aufl., § 275a Rn. 24), fehlt es jedenfalls an einer insoweit erforderlichen Verfahrensrüge.

20Das von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel beschränkt sich auf die Rüge des sachlich-rechtlichen Mangels, § 66a Abs. 2 StGB a.F. könne vorliegend nicht als Ausschlussfrist verstanden werden. Zwar ist damit in der Regel auch die allgemeine Sachrüge erhoben, weil die Revision zumindest Einzelausführungen zu einzelnen Urteilsteilen- oder -grundlagen enthält (vgl. , BGHSt 1, 44, 46). Eine Rüge dahingehend, dass die Entscheidung vorliegend aufgrund einer Hauptverhandlung und unter Beteiligung der Schöffen hätte ergehen müssen, wurde seitens der Beschwerdeführerin aber zu keiner Zeit erhoben.

Fischer                   Appl                       Eschelbach

                 Ott                      Zeng

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:080616U2STR88.16.0

Fundstelle(n):
LAAAF-79534