Strafaussetzung zur Bewährung: Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe als besondere Umstände; Einbeziehung einer langen Verfahrensdauer in die erforderliche Gesamtwürdigung
Gesetze: § 56 Abs 2 S 1 StGB
Instanzenzug: LG Essen Az: 35 KLs 302 Js 266/12 - 15/13
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe hat es nicht zur Bewährung ausgesetzt. Im Übrigen hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. Daneben hat es als Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zwei Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe für vollstreckt erklärt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat Erfolg, soweit das Landgericht die Aussetzung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung versagt hat (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
21. Die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung hat - entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts - keinen Bestand, weil das Landgericht bei der Anwendung von § 56 Abs. 2 Satz 1 StGB von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen und zudem die von ihm vorgenommene Gesamtwürdigung lückenhaft ist.
3a) Besteht - wie hier - beim Angeklagten eine günstige Sozialprognose im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB, kann das Tatgericht unter den Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 StGB auch die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen. Erforderlich ist, dass nach einer Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen.
4b) Besondere Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 Satz 1 StGB sind Milderungsgründe von besonderem Gewicht, die eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts, der sich in der Strafhöhe widerspiegelt, als nicht unangebracht und als den allgemeinen vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen (vgl. , BGHSt 29, 370; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 56 Rn. 20 mwN). Aus der Anforderung, dass Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB besondere sein müssen, ergibt sich, dass einzelne durchschnittliche Gründe eine Aussetzung nicht rechtfertigten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt es, dass Umstände, die bei ihrer Einzelbewertung nur durchschnittliche oder einfache Milderungsgründe wären, durch ihr Zusammentreffen das Gewicht besonderer Umstände erlangen (vgl. , BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 2; , BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 7; , BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 9).
5Das Landgericht hat hier zwar berücksichtigt, dass die gegen den nicht vorbestraften Angeklagten verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten der Schwelle von einem Jahr (§ 56 Abs. 1 StGB) angenähert ist. Es konnte allerdings keine besonderen Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB erkennen. Hierbei hat das Landgericht die Anforderungen für eine Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 2 StGB zu hoch angesetzt. Das Landgericht hält es für erforderlich, dass Milderungsgründe von besonderem Gewicht vorliegen, wobei es nicht erforderlich sei, dass diese Milderungsgründe der Tat Ausnahmecharakter verliehen. Ob Milderungsgründe gegeben sind, die durch ihr Zusammentreffen das Gewicht besonderer Umstände erlangen, hat das Landgericht jedoch nicht erörtert. Es hat zwar das „Zusammenspiel“ der Milderungsgründe in den Blick genommen, dabei aber weiterhin auf das Gewicht der einzelnen Umstände und nicht auf das Gesamtgewicht aller Milderungsgründe abgestellt. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
6c) Auch die bei der Prüfung, ob besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, vorzunehmende Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten ist hier lückenhaft.
7Zwar hat das Landgericht berücksichtigt, dass der Angeklagte „seit der Begehung der Taten, die bereits einige Jahre zurückliegen, nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten“ ist (UA S. 17). Den hier ebenfalls erörterungsbedürftigen Umstand der den Angeklagten belastenden (UA S. 19) langen Verfahrensdauer hat das Landgericht hingegen rechtsfehlerhaft nicht in seine Gesamtwürdigung einbezogen. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Berücksichtigung dieses Umstands eine Strafaussetzung zur Bewährung vorgenommen hätte.
82. Die Frage, ob die gegen den Angeklagten verhängte Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, bedarf daher neuer tatrichterlicher Prüfung.
Raum Jäger Cirener
Mosbacher Bär
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BFH/NV 2016 S. 527 Nr. 3
wistra 2016 S. 108 Nr. 3
NAAAF-09058