BFH Urteil v. - XI R 18/13

Zurückverweisung nach § 127 FGO, wenn während des Revisionsverfahrens mehrere Änderungsbescheide vor und nach einer Insolvenzeröffnung ergehen

Leitsatz

Ist während der Revisionsverfahrens über das Vermögen der Revisionsklägerin (einer GmbH) das Insolvenzverfahren eröffnet worden, sind während des Revisionsverfahrens zum Teil vor und zum Teil nach Insolvenzeröffnung mehrere Änderungsbescheide ergangen, hat der Insolvenzverwalter die Aufnahme des Revisionsverfahrens erklärt und ist es aufgrund des Vortrags der Beteiligten sowie der Vorgänge nach Insolvenzeröffnung nicht auszuschließen, dass sich im Streitfall tatsächliche Fragen stellen, die bisher nicht geklärt sind, ist die Sache an das Finanzgericht zurückzuverweisen.

Gesetze: FGO § 127, FGO § 155, ZPO § 240, InsO § 54, UStG § 3 Abs. 8

Instanzenzug: ,

Tatbestand

1 I. Die X-GmbH (GmbH) vertrieb im Streitjahr (2009) u.a. Waren über Telefon, Internet und Printmedien. Dabei bediente sich die GmbH für die Versendung ihrer Waren an Endverbraucher in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) eines in der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Schweiz) ansässigen externen Dienstleistungsunternehmens, der Firma Y.

2 Die Waren der GmbH wurden in das Logistikzentrum der Y in der Schweiz verbracht, logistisch erfasst und gelagert. Nach Eingang einer Bestellung aus Deutschland wurde die Ware konfektioniert, d.h. insbesondere verpackt, mit Adressaufklebern versehen und zum Verteilerzentrum der V in A, Deutschland, oder der Firma F in B, Deutschland, verbracht. Von dort wurde die Ware an die Kunden in Deutschland (weiter) versendet.

3 Dazu war im Vertrag zwischen der GmbH und der Y vereinbart, dass die für das Ausland aus der Schweiz abgehenden Sendungen durch die Y zur Ausfuhr aus der Schweiz angemeldet werden.

4 Gegenüber den Kunden verwendete die GmbH Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB), in denen (unabhängig vom Bestellweg) folgende vorformulierte Klausel enthalten war:


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"Wir können in Ihrem Namen alle für die Einfuhr aus der Schweiz nötigen Erklärungen abgeben. Für alle eventuellen Zölle und Steuern kommt die GmbH für Sie auf. Dieser Service ist gratis."

5 Aufgrund dieser Klausel wurden Waren mit einem Warenwert von bis zu 22 € im Sammelanmeldeverfahren aufgrund von Anträgen auf „Freischreibung“ (Steuerbefreiung) von Sendungen im Namen der Endkunden beim Zollamt Z (Zollamt) zur Einfuhr nach Deutschland zollamtlich abgefertigt. Dabei wurden die einzelnen Leistungsempfänger in einer separaten Liste mit Namen, Adresse, Ware und Warenwert jeweils dokumentiert.

6 Bei Lieferungen mit einem Warenwert von über 22 € erfolgte die Zollabfertigung hingegen zwar gleichfalls im Wege einer Sammelzollanmeldung, aber im Namen und für Rechnung der GmbH.

7 Die GmbH sah die Lieferungen an Endkunden bis zu einem Warenwert von 22 € als nicht im Inland steuerbar an. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) unterwarf dagegen nach Durchführung einer Außenprüfung im Änderungsbescheid über die Umsatzsteuer-Vorauszahlung für den Monat Mai 2009 vom diese Lieferungen der deutschen Umsatzsteuer, weil gemäß § 3 Abs. 8 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) der Ort der Lieferung im Inland gelegen habe; es habe keine wirksame Bevollmächtigung der GmbH zur Abgabe von Zollanmeldungen durch die Kunden vorgelegen. Der Einspruch der GmbH blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom ).

8 Im Laufe des Klageverfahrens erließ das FA unter dem den Umsatzsteuer-Jahresbescheid für das Streitjahr; es wich dabei aufgrund der Feststellungen der Außenprüfung von der Umsatzsteuererklärung der GmbH vom hinsichtlich der Umsätze der Monate Januar bis Mai 2009 ab.

9 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage der GmbH, mit der sie geltend machte, der Ort der genannten Lieferungen liege in der Schweiz, weil sie, die GmbH, von den Kunden wirksam bevollmächtigt worden sei und diese bei der Zollanmeldung wirksam vertreten habe, ab (Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 970). Das FG vertrat die Auffassung, die Lieferungen der GmbH an ihre Kunden in Deutschland unterlägen der deutschen Umsatzsteuer. Es könne dahingestellt bleiben, ob bei einer Übertragung der Steuerschuldnerschaft auf die in Deutschland ansässigen Kunden der GmbH ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i.S. des § 42 der Abgabenordnung (AO) vorliege; denn mangels einer wirksamen Bevollmächtigung durch die Kunden der GmbH seien die Kunden nicht Steuerschuldner der Einfuhrumsatzsteuer geworden. Die von der GmbH bei Abschluss der Kaufverträge jeweils verwendeten AGB zur Vertretung der Kunden bei der Einfuhranmeldung seien unwirksam und damit nicht Bestandteil der jeweiligen Kaufverträge geworden. Sollte sich aus der Bevollmächtigung keinerlei finanzielle Belastung für die Kunden ergeben können, handelte die GmbH als Vertreter nicht „für Rechnung eines anderen“, so dass es an der entsprechenden Voraussetzung für die Vertretung in Art. 5 Abs. 2 der im Streitjahr geltenden Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom Nr. L 302, S. 1, —ZK—) fehlte und somit ebenfalls keine wirksame Vertretung vorliege.

10 Im Laufe des Revisionsverfahrens ist am ein Änderungsbescheid über Umsatzsteuer für das Jahr 2009 ergangen. Dabei hat das FA auch die genannten Umsätze der GmbH in den Monaten Juni bis Dezember 2009 als steuerbar und im Inland steuerpflichtig behandelt. Die Beteiligten haben mitgeteilt, dass die tatsächlichen Grundlagen des Streitstoffs nicht berührt werden. Die GmbH hat erklärt, die verwendete Klausel sei in den Monaten Juni bis Dezember 2009 unverändert geblieben und die rein zahlenmäßige Richtigkeit der Beträge werde nicht in Frage gestellt.

11 Mit ihrer Revision hat die GmbH die Verletzung von § 3 Abs. 6 und 8, § 13 Abs. 2, § 21 Abs. 2 UStG sowie Art. 201 Abs. 3 Satz 1, Art. 5 Abs. 4 ZK, § 305c des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerügt. Die verwendeten AGB seien wirksam. Hilfsweise enthalte der Auftrag des Kunden eine konkludente individuelle Vollmacht. Das Handeln „für fremde Rechnung“ sei bei direkter Stellvertretung stets erfüllt.

12 Die GmbH hat beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids für das Jahr 2009 vom die Umsatzsteuer auf . € herabzusetzen.

13 Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

14 Es verteidigt die angefochtene Vorentscheidung.

15 Durch Beschluss des Amtsgerichts . vom . ist über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet sowie der Kläger und Revisionskläger (Kläger) zum Insolvenzverwalter bestellt worden. Der Kläger hat die vom FA zur Tabelle angemeldete Forderung wegen Umsatzsteuer 2009 im Prüfungstermin bestritten und durch Schriftsatz vom erklärt, dass er das Revisionsverfahren aufnehme.

16 Mit Schreiben vom hat das FA einen Änderungsbescheid vom , mit dem zugleich der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden ist, sowie einen auf „§ 172 Abs. 1 Nr. 2 AO“ gestützten Aufhebungsbescheid vom zum Änderungsbescheid vom übersandt. Damit werde wieder der Bescheid vom Gegenstand des Revisionsverfahrens.

17 Außerdem hat das FA am die Forderungsanmeldung auf . € reduziert und am in voller Höhe zurückgenommen, im Schreiben vom aber mitgeteilt, dass die Forderung in Höhe von . € zur Tabelle nachgemeldet werde.

Gründe

18 II. Die Revision ist aus verfahrensrechtlichen Gründen begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG (§ 127 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Es ist aufgrund des Vortrags der Beteiligten sowie der Vorgänge nach Insolvenzeröffnung nicht auszuschließen, dass sich im Streitfall tatsächliche Fragen stellen, die bisher nicht geklärt sind.

19 1. Der Senat ist nicht gehindert, über die Revision zu entscheiden; die gemäß § 155 FGO i.V.m. § 240 der Zivilprozessordnung mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH eingetretene Unterbrechung des Revisionsverfahrens wurde durch die Aufnahmeerklärung des Klägers beendet. Da der Antrag des Klägers im Erfolgsfall dazu führen würde, dass Umsatzsteuer in die Masse zu gelangen hätte, liegt ein sog. insolvenzrechtlicher Aktivprozess vor (vgl. , BFH/NV 2012, 576, Rz 10; vom XI R 1/12, BFH/NV 2014, 1398, Rz 16;  (PKH), BFH/NV 2009, 1660, Rz 15). Der Kläger als Insolvenzverwalter der GmbH ist gemäß § 85 Abs. 1 der Insolvenzordnung befugt, den Rechtsstreit aufzunehmen (, BFHE 212, 11, BStBl II 2006, 573, unter II.2.; , BFH/NV 2011, 2010, Rz 2).

20 2. Das ist aus verfahrens-rechtlichen Gründen aufzuheben. Das FA hat nach Ergehen dieses Urteils den Umsatzsteuerbescheid vom , der Gegenstand des Urteils war, geändert. Zunächst ist der Änderungsbescheid vom nach § 68 Satz 1, § 121 Satz 1 FGO Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden. Da dem Urteil des FG ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt, kann es keinen Bestand haben (vgl. z.B. , BFH/NV 2012, 1009; vom XI R 3/11, BFHE 242, 410, BStBl II 2014, 86).

21 3. Ist während des Revisionsverfahrens ein neuer oder geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden, so kann der BFH nach § 127 FGO das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen (vgl. dazu z.B. , BFH/NV 2015, 957, Rz 25 ff., m.w.N.).

22 Von dieser Möglichkeit macht der Senat im Streitfall Gebrauch; denn durch den Umsatzsteuerbescheid vom wurden erstmals auch die Umsätze der Monate Juni bis Dezember 2009 der deutschen Umsatzsteuer unterworfen.

23 Außerdem sind die notwendigen tatsächlichen Feststellungen zu treffen, um beurteilen zu können, ob der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangene Änderungsbescheid vom (vgl. dazu , BFHE 225, 278, BStBl II 2010, 11, unter II.2.a; vom VII R 29/11, BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36, Rz 19; vom XI R 22/11, BFHE 244, 209, BStBl II 2014, 332, Rz 20 ff., Tz. 4.3.1 des Anwendungserlasses zu § 251 AO), mit dem auch der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben worden ist, sowie der Aufhebungsbescheid vom wirksam sind.

24 4. Bezüglich der zwischen den Beteiligten streitigen materiellen Rechtsfrage weist der Senat auf die (BFHE 217, 66, BStBl II 2008, 153) und vom V R 5/14 (BStBl II 2015, 567, BFH/NV 2015, 934) sowie das anhängige Revisionsverfahren XI R 17/13, das einen ähnlichen Streitfall betrifft, hin.

25 5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2015 S. 1607 Nr. 11
HFR 2015 S. 1062 Nr. 11
RAAAF-02665