Überleitung eines bereits anhängigen Strafverfahrens auf einen anderen Spruchkörper: Nachträgliche Änderung des Geschäftsverteilungsplans im laufenden Geschäftsjahr
Gesetze: Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 21e GVG
Instanzenzug: Az: 2 StE 11/12 - 3
Gründe
1Das Oberlandesgericht hat den Angeklagten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in fünf Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Rechtsmittel des Angeklagten hat bereits mit der Besetzungsrüge Erfolg; auf die weitere Verfahrensrüge und die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts kommt es daher nicht an.
2Mit Recht beanstandet der Beschwerdeführer die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 338 Nr. 1 StPO).
31. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
4Am ging die Anklage gegen den Beschwerdeführer, der sich seit dem in Haft befindet, beim Oberlandesgericht ein. Nach dem Geschäftsverteilungsplan für 2012 war für die Verhandlung und Entscheidung der Sache der 6. Strafsenat zuständig. Dessen Vorsitzende zeigte am gegenüber dem Präsidium die Überlastung des Senats an. Dieser verhandele seit dem in einem Verfahren, dessen Ende noch nicht absehbar sei. Darüber hinaus werde in einem weiteren Verfahren am die Hauptverhandlung beginnen, deren Abschluss Ende April 2013 erwartet werde. Schließlich stehe nach Aufhebung und Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof Mitte Dezember 2012 in einem dritten Verfahren die Hauptverhandlung an. Hierbei handele es sich um eine besonders dringliche Haftsache, da der Angeklagte sich bereits seit über sechs Jahren in Untersuchungshaft befinde. Der Senat sehe sich deshalb nicht in der Lage, in der gegenständlichen Sache mit der für Haftsachen gebotenen Beschleunigung das Zwischenverfahren durchzuführen und gegebenenfalls in einem "überschaubaren Zeitraum” die Hauptverhandlung anzuberaumen. Daraufhin beschloss das Präsidium am , dass der 5. Strafsenat das Verfahren gegen den Angeklagten übernimmt. Am ergänzte die Vorsitzende des 6. Strafsenats "mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs" ihre Überlastungsanzeige, indem sie ausführte, an wie vielen Wochentagen in dem bereits begonnenen bzw. dem anberaumten Verfahren verhandelt werde, und die Dringlichkeit der zügigen Verhandlung in der vom Bundesgerichtshof zurückverwiesenen Sache im Hinblick auf die lange andauernde Untersuchungshaft hervorhob. Zudem wies sie darauf hin, dass das seit dem verhandelte Verfahren "keinesfalls vor September 2013" abgeschlossen werden könne. Das Präsidium fasste daraufhin am einen der Präsidiumsentscheidung vom gleichlautenden Beschluss, den es ergänzend mit dem Vortrag der erweiterten Überlastungsanzeige begründete.
5Der 5. Strafsenat beraumte im gegenständlichen Verfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Hauptverhandlung ab dem an. Zu Beginn der Hauptverhandlung erhob der Beschwerdeführer noch vor Anklageverlesung die Besetzungsrüge, die das Oberlandesgericht am zurückwies. Wegen der Überlastung des 6. Strafsenats sei bereits die zeitnahe Durchführung des Zwischenverfahrens nicht möglich gewesen. Die Auswahlentscheidung des Präsidiums bei der Übertragung des gegenständlichen Verfahrens auf den 5. Strafsenat sei nicht zu beanstanden, denn es sei offensichtlich, dass dieses seiner Entscheidung die zeitliche Abfolge des Eingangs der Verfahren beim 6. Senat zugrunde gelegt habe. Es liege auch keine unzulässige Einzelzuweisung vor. Nur so habe dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung getragen werden können. Eine Übertragung anderer beim 6. Strafsenat anhängiger Verfahren wäre nicht sachgerecht gewesen. Auch für weiterreichende Regelungen habe angesichts der regelmäßig nur geringen Zahl (mitunter sehr umfangreicher) Staatsschutzsachen kein Anlass bestanden. Einer bloß abstrakt formulierten Anordnung des Präsidiums, die dann doch nur das konkrete Verfahren zum Gegenstand gehabt hätte, habe es nicht bedurft. Die am gleichen Tag erhobene Gegenvorstellung wurde am zurückgewiesen.
62. Die Rüge hat Erfolg.
7a) Aus der Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgt, dass Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen müssen, welcher Richter zur Entscheidung im Einzelfall berufen ist. Auch die die gesetzlichen Bestimmungen ergänzenden Regelungen in den Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte müssen im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper festschreiben, damit die einzelne Sache "blindlings" aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird (, BVerfGE 95, 322, 329).
8Das Gebot, den zur Entscheidung berufenen Richter so eindeutig wie möglich im Voraus zu bestimmen, schließt eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans im laufenden Geschäftsjahr indes nicht aus. Gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG darf das Präsidium die nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres ändern, wenn dies etwa wegen Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird. Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann nicht nur zulässig, sondern verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann. Das Beschleunigungsgebot lässt indes das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden (, NJW 2009, 1734; , BGHSt 53, 268, 271; Beschlüsse vom - 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; vom - 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227; vom - 5 StR 613/13, NStZ 2014, 287, 288; vom - 5 StR 70/15, juris Rn. 8).
9Nach diesen Maßstäben steht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einer Änderung des zuständigen Spruchkörpers auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht. In Ausnahmefällen kann sogar eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans zulässig sein, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren überträgt, wenn nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen (siehe Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) angemessen Rechnung getragen werden kann (BVerfG, noch offengelassen , NJW 2005, 2689, 2690). In diesen Fällen kann auf eine Erstreckung der Regelung auf künftig eingehende Verfahren ausnahmsweise dann verzichtet werden, wenn eine weiterreichende Umverteilung nur dazu dienen würde, die Abstraktheit der neuen Geschäftsverteilung zu dokumentieren (, NJW 2009, 1734, 1735).
10Gleichgültig, ob ausschließlich anhängige Verfahren oder daneben auch zukünftig eingehende Verfahren umverteilt werden, muss jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, die bereits anhängige Verfahren erfasst, geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, können vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben (, NJW 2005, 2689, 2690; , BGHSt 53, 268, 272; Beschlüsse vom - 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; vom - 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227). Dass der , NJW 2009, 1734), wonach ausnahmsweise auch eine Zuweisung ausschließlich anhängiger Verfahren mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Einklang stehen kann, auf dieses letztgenannte Erfordernis verzichten wollte, ist nicht ersichtlich. Zwar findet es in dieser Entscheidung keine Erwähnung. Doch stand in dem dort entschiedenen Fall die Eignung der angegriffenen Maßnahme zur Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs erkennbar nicht in Frage. Zudem wurde bereits in dem vorangegangenen , NJW 2005, 2689) - gestützt auf vorangegangene Senatsentscheidungen – die Wiederherstellung der Effizienz als eine in jedem Fall zu beachtende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Umverteilung von Verfahren im laufenden Geschäftsjahr formuliert. Einfachrechtlich folgt dieses Erfordernis aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG, da Änderungen der Geschäftsverteilung, die nicht der Erhaltung oder Wiederherstellung der Effizienz eines Spruchkörpers dienen, nicht im Sinne dieser Vorschrift nötig sind (BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; vom - 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227; vom - 5 StR 613/13, NStZ 2014, 287, 288).
11Da eine Überleitung bereits anhängiger Verfahren, bei denen schon eine anderweitige Zuständigkeit konkretisiert und begründet war, in die Zuständigkeit eines anderen Spruchkörpers erhebliche Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich birgt, bedarf es in solchen Fällen zudem einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen (, BGHSt 53, 268, 273 mwN).
12Ob ein Präsidiumsbeschluss den genannten Anforderungen entspricht, unterliegt der vollen Überprüfung durch das Revisionsgericht. Denn von Verfassungs wegen sind Regelungen der Zuständigkeit, anders als deren Anwendung, nicht lediglich am Maßstab der Willkür, sondern auf jede Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen (, NJW 2005, 2689, 2690; , BGHSt 53, 268, 275 f.; Beschluss vom - 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295).
13b) Der Präsidiumsbeschluss vom wird auch in seiner "ergänzten" Fassung vom den genannten Anforderungen nicht gerecht.
14Das Präsidium hat ein einziges Verfahren, das in die Zuständigkeit des 6. Strafsenats fiel, dem 5. Strafsenat übertragen. Weitere Entlastungsmaßnahmen hat es nicht vorgenommen. Gründe für einen Verzicht auf eine abstrakte Erstreckung der Zuständigkeitsänderung über das gegenständliche Verfahren hinaus werden nicht genannt. Der erste Präsidiumsbeschluss wurde zu Beginn des Geschäftsjahres 2013 und damit nur wenige Wochen nach Inkrafttreten des auf dieses Jahr angelegten Geschäftsverteilungsplanes des Oberlandesgerichts gefasst. Bereits zu diesem Zeitpunkt sah sich der 6. Strafsenat auf unbestimmte Zeit hinaus als überlastet an. Auch noch bei Erlass des "nachgebesserten" Präsidiumsbeschlusses am , der ohnehin nur die Gründe des Ursprungsbeschlusses hätte präzisieren, nicht indes etwa nachträglich eingetretene Umstände als zusätzliche Begründungselemente hätte nachschieben können, bestand die Erwartung, dass der 6. Strafsenat keinesfalls vor September 2013 ein weiteres Verfahren würde bearbeiten können. Dennoch verzichtete das Präsidium auf eine Umverteilung über den vorliegenden Fall hinaus. Auch ein Gesamtkonzept zum Belastungsausgleich (vgl. , NJW 2009, 1734, 1735) kann der Präsidiumsentscheidung nicht entnommen werden. Es ist deshalb nicht ersichtlich, weshalb die Übertragung allein des vorliegenden Verfahrens auf einen anderen Senat der Überlastung des 6. Strafsenats für das Geschäftsjahr 2013 entgegenzuwirken geeignet sein sollte. Dem steht auch nicht entgegen, dass erfahrungsgemäß in Staatsschutzsachen nur wenige Verfahren eingehen. Denn dies schloss nicht aus, dass bereits zeitnah nach dem Präsidiumsbeschluss ein weiteres - und als Haftsache möglicherweise eilbedürftiges Verfahren - anhängig werden würde. Dieses hätte nach dem Grundkonzept der Präsidiumsentscheidung wiederum im Wege der Einzelzuweisung einem anderen Strafsenat zugeteilt werden müssen. Eine derartige Handhabung ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters indes nicht mehr in Einklang zu bringen.
15Nach alledem kann es dahinstehen, ob Fälle denkbar sind, in denen eine spezielle Zuweisung eines einzigen bestimmten Verfahrens vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt Bestand haben kann.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
NJW 2015 S. 2597 Nr. 35
RAAAE-95910