BSG Beschluss v. - B 1 KR 18/15 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Auslegung von Prozesserklärungen

Gesetze: § 158 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 133 BGB, Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 20 Abs 3 GG

Instanzenzug: Az: S 8 KR 341/10 Gerichtsbescheidvorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 1 KR 86/13 Urteil

Gründe

1I. Der Kläger ist Alleinerbe der am verstorbenen, bei der beklagten Krankenkasse versichert gewesenen J. (Versicherte). Die Versicherte blieb mit ihrem Begehren auf eine Haushaltshilfe im Zeitraum vom bis bei der Beklagten ohne Erfolg. Hiergegen hat sie "Klage mit Einleitung des Mediatorenverfahren hilfsweise eAO (aufschiebend bedingt, wenn die Beklagte das Mediatorenverf. ablehnt)" erhoben. Die Klage ist unter dem Az - S 8 KR 114/10 -, das Eilverfahren unter dem Az - S 8 KR 139/10 ER - geführt worden. Die Versicherte hat unter dem Az - S 8 KR 139/10 ER - mitgeteilt: "Hiermit ziehe ich die Klage-eAO zurück" (). Nachdem der Schwiegersohn der Versicherten erklärt hatte, dass sich die Rücknahme nur auf das Eilverfahren bezogen habe, hat das SG festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme erledigt sei (Gerichtsbescheid vom ). Das LSG hat die nach dem Ableben der Versicherten vom Kläger als deren Alleinerbe fortgeführte Berufung zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, die Formulierung "Hiermit ziehe ich die Klage-eAO zurück" könne nach den Umständen nur bedeuten, dass sie beide Verfahren beenden wolle (Urteil vom ).

2Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil. Er macht sinngemäß geltend, das SG und das ihm folgende LSG hätten im Fortsetzungsverfahren eine Sachentscheidung treffen müssen.

3II. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet.

41. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG bezeichnet. Zu Recht rügt der Kläger, das SG hätte in der Sache entscheiden müssen. Die Versicherte hat mit dem Schreiben vom ihre Klage nicht zurückgenommen. Bei Prozesserklärungen hat das Revisionsgericht - anders als bei materiell-rechtlichen Erklärungen (vgl zu Letzteren zB BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 mwN) - die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2; ; - Juris; BSGE 21, 13, 14 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 488 f mwN). Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2; - Juris). Bei der Auslegung sind zudem das Willkürverbot gemäß Art 3 Abs 1 GG, das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem Richter, das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl BVerfGE 77, 275, 284 mwN). Objektiv willkürlich ist es daher zB, im Widerspruch zu diesen verfassungsrechtlichen Grundgedanken dem Sachvortrag eines Beteiligten in einem Rechtsbehelfsverfahren entgegen Wortlaut und erkennbarem Sinn eine Bedeutung beizulegen, die zur Feststellung führt, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme erledigt ist, während bei sachdienlicher Auslegung ohne Weiteres eine Sachentscheidung möglich wäre (vgl - NJW 1993, 1380, 1381). Eine angemessene Auslegung dient zugleich der Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl dazu BVerfGE 107, 395, 401 ff = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 5 ff; BVerfGE 110, 77, 85; zur Auswirkung des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven und möglichst lückenlosen Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt auf die Auslegung von Prozesserklärungen vgl auch BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2 RdNr 16; zur Auslegung vgl auch Senat SozR 4-1500 § 158 Nr 1 RdNr 14 mwN).

5Danach hätte das SG das Schreiben der Versicherten vom nur so verstehen können, dass diese damit allein den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurücknehmen wollte. Die Erklärung vom wurde direkt auf der Eingangsbestätigung des SG im Eilverfahren (S 8 KR 139/10 ER) vom vermerkt und per Fax an das SG gesandt. Das SG durfte schon angesichts der Rechtsfolgen einer Prozesserklärung die Erklärung ohne den Willen des Erklärenden nicht (gleichzeitig) einem anderen als dem bezeichneten Verfahren zuordnen. Rein formal hat die Versicherte im Verfahren - S 8 KR 114/10 - keine Prozesserklärung abgegeben. Hieran ändert auch der Wortlaut der Erklärung nichts. Er bezieht nicht eindeutig zusätzlich zum Eilverfahren auch noch das Klageverfahren ein. Grammatikalisch ist die Rücknahme auf ein Verfahren gerichtet, "die Klage-eAO". Die Klägerin benennt im Kontext auch nicht das Az des Klageverfahrens - S 8 KR 114/10 -. Sie verbindet die Worte Klage und eAO durch einen Bindestrich, weil sie - wie sie später selbst angibt ("Klage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren") - auch das Eilverfahren als Klage verstanden hat.

6Der in der Entscheidung des SG liegende Verfahrensfehler hat sich in der angefochtenen Entscheidung des LSG fortgesetzt, da auch das LSG nicht zur Sache entschieden, sondern lediglich das Prozessurteil des SG bestätigt hat (vgl insoweit BSG SozR 3-1500 § 73 Nr 10; BSGE 4, 200, 201; vgl auch 9 B 3232.82 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 216).

7Die Entscheidung des LSG beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre das LSG nämlich nicht von einer wirksamen Klagerücknahme ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit zurückverweisen oder aber in der Sache selbst entscheiden müssen (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 102 RdNr 12).

82. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

93. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Halbs 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 2, § 47 Abs 1 und 3 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2015:230615BB1KR1815B0

Fundstelle(n):
YAAAE-94551