(Frist des § 15 Abs. 4 AGG - Anwendbarkeit des § 167 ZPO - Behinderung - angemessene Vorkehrungen des Arbeitgebers)
Leitsatz
Die nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG erforderliche Schriftform zur Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen (§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) kann auch durch eine Klage gewahrt werden. Dabei findet § 167 ZPO Anwendung. Es genügt der rechtzeitige Eingang der Klage bei Gericht, wenn die Klage "demnächst" zugestellt wird.
Gesetze: § 1 AGG, § 3 Abs 1 S 1 AGG, § 8 Abs 1 AGG, § 15 Abs 1 AGG, § 15 Abs 2 AGG, § 15 Abs 4 AGG, § 15 Abs 5 AGG, § 22 AGG, § 167 ZPO, § 61b ArbGG, § 132 Abs 1 S 1 BGB, § 132 Abs 1 S 2 BGB, § 241 Abs 2 BGB, Art 5 EGRL 78/2000, Art 2 UAbs 4 UNBehRÜbk, Art 27 Abs 1 S 2 Buchst i UNBehRÜbk
Instanzenzug: Az: 5 Ca 316 c/12 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein Az: 4 Sa 62/13 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche.
2Die Klägerin, die wegen einer Erkrankung an multipler Sklerose (MS) mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 schwerbehindert ist, bewarb sich gegen Ende ihrer dreijährigen Ausbildung zur Fachangestellten für Bäderbetriebe bei der Beklagten, die Hallen- und Freibäder betreibt. Die ausgeschriebene, der Ausbildung der Klägerin entsprechende Stelle sollte ua. die Beaufsichtigung und die Kontrolle des Badebetriebes einschließlich des Rettungsdienstes, die Betreuung der Badegäste, die Erteilung von Schwimmunterricht und die Durchführung von Aquafitnesskursen beinhalten. Die Beklagte stellte der Klägerin einen befristeten Arbeitsvertrag als Elternzeitvertretung in Aussicht, ein Musterarbeitsvertrag wurde übersandt. Anlässlich einer Besichtigung des zukünftigen Arbeitsplatzes teilte die Klägerin ihre Behinderung mit. Die Beklagte zog daraufhin das Vertragsangebot zurück. Die Klägerin erhob ohne gesonderte außergerichtliche Geltendmachung Klage auf Schadensersatz und Entschädigung nach § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG, die der Beklagten einen Tag nach Ablauf der Zweimonatsfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG zugestellt wurde.
3Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr stehe ein Schadensersatzanspruch in Höhe der Fahrtkosten nach § 15 Abs. 1 AGG und eine angemessene Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu, weil sie wegen ihrer Schwerbehinderung benachteiligt worden sei. Sie sei objektiv für die ausgeschriebene Stelle geeignet. Sie habe sämtliche für die Einstellung erforderlichen Abschlüsse und Bescheinigungen vorgelegt. Körperliche Einschränkungen bestünden im Hinblick auf die spezifischen Anforderungen bei der Beklagten nicht. Das zeige auch das vom Arbeitsgericht eingeholte neurologische Sachverständigengutachten vom . Ihre Krankheit sei frühzeitig erkannt und ihr sei dementsprechend früh durch medikamentöse Einstellung begegnet worden. Die Geltendmachungsfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG sei eingehalten worden, § 167 ZPO sei hier anwendbar.
4Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
5Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Die Klägerin habe ihre Ansprüche nicht rechtzeitig geltend gemacht. Gesucht worden sei für den Aufgabenbereich einschließlich einer Rettung von in Not geratenen Badegästen, darunter viele Kinder, eine Person mit vollständiger Gesundheit und darüber hinaus überdurchschnittlicher gesundheitlicher Konstitution. Darüber verfüge die Klägerin wegen ihrer Erkrankung an MS nicht. Sie sei, so habe es auch die Abstimmung mit dem Betriebsarzt ergeben, nicht in der Lage, die Tätigkeit auszuüben. Das ergebe sich auch aus dem Sachverständigengutachten vom . Nach § 8 Abs. 1 AGG sei eine unterschiedliche Behandlung wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung zulässig.
6Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und der Klägerin Schadensersatz und eine Entschädigung in der zuletzt beantragten Höhe zugesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung, während die Beklagte die Zurückweisung der Revision beantragt.
Gründe
7Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
8A. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage wegen Nichteinhaltung der Frist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG abgewiesen. Wie auch aus der Entscheidung des Senats vom (- 8 AZR 188/11 - BAGE 142, 143) hervorgehe, finde - entgegen der Auffassung der Klägerin - § 167 ZPO auf diese Frist keine Anwendung.
9B. Mit dieser Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden. Die Klägerin hat ihre Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche innerhalb der Frist des § 15 Abs. 4 AGG rechtzeitig geltend gemacht. Auf § 15 Abs. 4 AGG findet § 167 ZPO Anwendung. Damit kommt es für den Zugang auf den Zeitpunkt des Eingangs der Klageschrift bei Gericht an. Der Senat hält an seiner früher als obiter dictum geäußerten gegenteiligen Auffassung ( - Rn. 27, BAGE 142, 143) nicht fest.
10I. Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG sind Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche (§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG), soweit tarifvertraglich nicht anderes vereinbart ist, innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend zu machen. Die erforderliche Schriftform kann auch durch eine Klage gewahrt werden ( - Rn. 27, BAGE 142, 143). Bei dieser Frist handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist ( - Rn. 19, aaO).
11II. Die Klägerin, die mit dem Zugang des auf die Behinderung als Ablehnungsgrund Bezug nehmenden Ablehnungsschreibens der Beklagten am Kenntnis von der behaupteten Benachteiligung erlangt hatte, hat ihren Anspruch mit ihrer am bei Gericht eingegangenen Klageschrift rechtzeitig geltend gemacht. Die Zustellung der Klage an die Beklagte am ist „demnächst“ iSd. § 167 ZPO - also ohne der Klägerin zuzurechnende Verzögerungen im Zustellungsverfahren (vgl. ua. - Rn. 30 ff., BAGE 143, 50) - vorgenommen worden. Gleichzeitig wurde die im Hinblick auf den Entschädigungsanspruch maßgebende dreimonatige Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG eingehalten.
121. § 167 ZPO ist grundsätzlich in den Fällen anwendbar, in denen durch die Zustellung einer Klage eine Frist gewahrt werden soll, die auch durch außergerichtliche Geltendmachung eingehalten werden kann. In Sonderfällen kommt die Rückwirkungsregelung nicht zur Anwendung.
13a) In der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und in der Literatur wurde die Ansicht vertreten, die Regelung des § 167 ZPO über die Rückwirkung der Zustellung auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klage gelte nur für Fälle, in denen eine Frist lediglich durch Inanspruchnahme der Gerichte gewahrt werden könne. Dies wurde insbesondere mit dem aus der Entstehungsgeschichte zu erschließenden Sinn und Zweck der Vorschrift begründet. Deshalb wurde § 167 ZPO in Fällen nicht für anwendbar gehalten, in denen durch die Zustellung die - auch durch außergerichtliche Geltendmachung zu wahrenden - Fristen zur Erklärung einer Mieterhöhung, zur Anfechtung wegen Irrtums und zur Inanspruchnahme aus einer Bürgschaft eingehalten werden sollten. Nur in Sonderfällen - wenn die gesetzliche oder vertragliche Regelung, aus der sich die zu wahrende Frist ergibt, einer eingeschränkten Anwendung der Rückwirkungsregelung entgegensteht - sollte anderes gelten (im Einzelnen dazu: - Rn. 21 f. mwN, BGHZ 177, 319). Das Bundesarbeitsgericht hat für tarifvertragliche Ausschlussfristen entschieden, dass dann, wenn der Gläubiger die Möglichkeit hat, die Ausschlussfrist auch in anderer Form - zB durch einfaches Schreiben - einzuhalten, aber dennoch die Form der Klage wählt, es zu seinen Lasten geht, wenn die Klageschrift nicht innerhalb der tariflichen Ausschlussfrist dem Schuldner zugestellt wird ( - zu II 3 und II 4 der Gründe mwN).
14b) Der Senat schließt sich für den Anspruch aus § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG der geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ( - BGHZ 177, 319) zum Regel-/Ausnahmeverhältnis der Anwendung des § 167 ZPO bei der außergerichtlichen fristgebundenen Geltendmachung an.
15aa) Unter den verschiedenen Möglichkeiten für den Zugang einer Willenserklärung lässt § 132 Abs. 1 Satz 1 BGB - anstelle des Zugangs - die Zustellung einer Willenserklärung durch Vermittlung eines Gerichtsvollziehers zu. Sie entfaltet Rückwirkung. Es ist nicht gerechtfertigt, einer Zustellung durch Vermittlung des Gerichts in gleichartigen Fällen die Rückwirkung zu versagen.
16(1) Mit einer Zustellung nach § 132 Abs. 1 Satz 1 BGB können Fristen eingehalten werden, die nicht gerichtlicher Geltendmachung bedürfen. Soll durch eine solche Zustellung eine Frist gewahrt werden, tritt diese Wirkung nach § 132 Abs. 1 Satz 2 BGB iVm. §§ 191, 192 Abs. 2 Satz 1, § 167 ZPO bereits mit Übergabe des die Willenserklärung enthaltenden Schriftstücks an den Gerichtsvollzieher ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt ( - Rn. 24 mwN, BGHZ 177, 319).
17Das gilt auch für rechtsgeschäftsähnliche Erklärungen (ohne Weiteres vorausgesetzt auch durch - Rn. 24 f., BGHZ 177, 319). Sie stehen Willenserklärungen regelmäßig so nahe, dass viele Bestimmungen über Willenserklärungen - etwa betreffend den hier interessierenden Zugang - grundsätzlich entsprechend anzuwenden sind ( - Rn. 36 mwN, BAGE 128, 364; - zu II 1 b der Gründe mwN, BGHZ 145, 343; vgl. im Übrigen - Rn. 43 mwN; - 5 AZR 403/05 - Rn. 19 mwN, BAGE 118, 60). § 132 Abs. 1 Satz 1 BGB findet auch im Arbeitsrecht Anwendung (so setzen die Anwendbarkeit des § 132 BGB im Arbeitsrecht voraus ua.: - zu B II 3 a der Gründe, BAGE 103, 277; - 2 AZR 290/83 -; - 2 AZR 10/82 - zu B I 1 b bb der Gründe, BAGE 43, 148; - 2 AZR 298/81 - zu I 2 b bb der Gründe; vgl. auch KR-Friedrich 10. Aufl. § 4 KSchG Rn. 115 f.).
18(2) Für eine Zustellung durch Vermittlung des Gerichts gilt in gleichartigen Fällen nichts anderes. Bei der Geltendmachung einer Forderung handelt es sich um einen gleichartigen Fall.
19(a) Der Wortlaut des § 167 ZPO gibt dazu keinen Aufschluss; Gegenteiliges ist nicht enthalten.
20(b) Die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sprechen für eine Anwendung des § 167 ZPO bei einer Zustellung durch Vermittlung des Gerichts im Hinblick auf die Wahrung einer Frist, die auch durch außergerichtliche Geltendmachung eingehalten werden kann. Wer mit der Klage die stärkste Form der Geltendmachung von Ansprüchen wählt, muss sich deshalb darauf verlassen können, dass die Einreichung der Klageschrift die Frist wahrt ( - Rn. 25 mwN, BGHZ 177, 319). Dies gilt umso mehr, wenn - wie im Fall des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG - die Schriftform auch durch eine Klage gewahrt werden kann.
21(c) Die Geltendmachung eines Anspruchs iSv. § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG ist zwar keine - in § 132 Abs. 1 Satz 1 BGB ausdrücklich genannte - Willenserklärung, sondern eine einseitige rechtsgeschäftsähnliche Handlung ( - Rn. 44). Ebenso wie der Bundesgerichtshof für die Geltendmachung des Auskunftsanspruchs nach § 26 Abs. 3 UrhG aF, bei dem es sich ebenfalls nicht um eine Willenserklärung handelt, einen gleichartigen Fall angenommen hat, gilt das auch für § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG.
22bb) In Sonderfällen, die dies nach dem besonderen Sinn und Zweck der Fristbestimmung erfordern, kommt die Rückwirkungsregelung ausnahmsweise nicht zur Anwendung (vgl. - Rn. 21, 26, BGHZ 177, 319, mit Beispielsfällen früherer und aktueller Rechtsprechung).
232. § 15 Abs. 4 AGG ist kein Sonderfall im Hinblick auf die Anwendung des § 167 ZPO. Für eine Ausnahmekonstellation gibt es bei dieser Geltendmachungsfrist keinen Anhaltspunkt, Sinn und Zweck der Regelung gebieten solches nicht.
24Über eine Anwendung des § 167 ZPO in anderen Bereichen des Arbeitsrechts hatte der Senat nicht zu entscheiden.
25a) Zwar soll sich der Arbeitgeber nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1780 S. 38) angesichts der in § 22 AGG getroffenen Beweislastverteilung - der in der Regel nur dann genügt werden kann, wenn die Kriterien und Grundlagen der Einstellungsentscheidung dokumentiert worden sind - darauf verlassen können, dass nach Fristablauf Ansprüche nach § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG nicht mehr gegen ihn erhoben werden und Dokumentationen über Einstellungsverfahren nicht bis zum Ablauf der allgemeinen Verjährungsfrist von drei Jahren aufbewahrt zu werden brauchen ( - Rn. 50 mwN).
26b) Jedoch tritt mit dem Ablauf von zwei Monaten nach Zugang der Ablehnung kein umfassendes Ende von Geltendmachungsmöglichkeiten ein.
27aa) Im Falle einer Bewerbung beginnt die Frist des § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG grundsätzlich mit dem „Zugang der Ablehnung“, jedoch nicht vor dem Zeitpunkt, in dem der Bewerber von seiner Benachteiligung Kenntnis erlangt. Hierüber gibt die bloße Ablehnung der Bewerbung durch den Arbeitgeber nicht in jedem Fall zwingend Auskunft (vgl. - Rn. 24 mwN, BAGE 142, 143; - 8 AZR 37/11 - Rn. 54 ff. mwN, BAGE 141, 48). Erfährt der Betroffene den benachteiligungsbezogenen Ablehnungsgrund erst Monate nach dem Zugang der Ablehnung (Kenntnis), beginnt der Fristlauf erst dann.
28bb) Zudem sind nach § 15 Abs. 5 AGG Ansprüche, die sich aus anderen Rechtsvorschriften ergeben, unberührt. Auch dies erfordert im Hinblick auf die Beweislastverteilung eine länger aufbewahrte Dokumentation als nur zwei Monate nach Zugang der Ablehnung.
29cc) Unbeachtlich ist, dass eine absolute Zeitgrenze nicht besteht und bei Auslandszustellungen auch eine Zustellung nach mehreren Monaten noch „demnächst“ sein kann (ua. - Rn. 31, BAGE 143, 50). Eine solche Sondersituation kann nicht ausschlaggebend sein.
30C. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist nach § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache nach § 563 Abs. 1 ZPO an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Der Senat kann nicht nach § 563 Abs. 3 ZPO abschließend entscheiden.
31I. Ob und ggf. in welcher Höhe der Klägerin die geltend gemachten Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche zustehen, kann noch nicht festgestellt werden. Das Landesarbeitsgericht hat - nach seiner Rechtsauffassung konsequent - die erforderlichen Tatsachenbewertungen unterlassen. Hängt zudem die Höhe des Entschädigungsanspruchs - wie hier - von einem Beurteilungsspielraum ab, ist die Bemessung des Entschädigungsanspruchs grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (vgl. - Rn. 49; - 8 AZR 608/10 - Rn. 58; - 9 AZR 839/08 - Rn. 64).
32II. Bei der weiteren Behandlung der Sache ist zu berücksichtigen:
331. Eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt vor; die Beklagte hat sich für ihre Ablehnung auf die Behinderung der Klägerin und damit auf einen in § 1 AGG genannten Grund bezogen. Ob diese Benachteiligung nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig ist - wie die Beklagte meint, das Arbeitsgericht aber verneint hat -, hat das Landesarbeitsgericht zu prüfen.
34a) Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes ist nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig, wenn „dieser Grund“ wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf [Richtlinie 2000/78/EG]). Allerdings muss - wenn dies auch in § 8 Abs. 1 AGG nicht wortwörtlich zum Ausdruck kommt - nach der bei der Auslegung heranzuziehenden Bestimmung des Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2000/78/EG nicht der Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen (vgl. [Prigge] - Rn. 66, Slg. 2011, I-8003; - C-229/08 [Wolf] - Rn. 35, Slg. 2010, I-1). Das Merkmal, das im Zusammenhang mit einem der in § 1 AGG genannten Benachteiligungsgründe steht, - oder sein Fehlen - kann nur dann eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSd. § 8 Abs. 1 AGG sein, wenn davon die ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit abhängt ( - Rn. 26).
35b) Dazu sind vorliegend ua. folgende Gesichtspunkte einzubeziehen:
36aa) Besondere körperliche Fähigkeiten sind eine wesentliche berufliche Anforderung im Hinblick auf die Kontrolle des Badebetriebes einschließlich des Rettungsdienstes, da die Sicherheit der Badegäste betroffen ist und körperliche Schwächen beträchtliche Konsequenzen haben können (insoweit übertragbar [Prigge] - Rn. 67, Slg. 2011, I-8003).
37Weiterhin gilt das für die Erteilung von Schwimmunterricht jedenfalls teilweise, ist aber auch nicht streitig zwischen den Parteien. Ebenso wenig ist im Streit zwischen den Parteien, dass für die Durchführung von Aquafitnesskursen grundsätzlich körperliche Fitnessanforderungen bestehen. Über die Angemessenheit der einzelnen Tätigkeitsanforderungen herrscht ersichtlich kein Streit zwischen den Parteien.
38bb) Ausweislich der für die Einstellung erforderlichen Abschlüsse und Bescheinigungen, darunter das der im Einstellungszeitraum abgeschlossenen einschlägigen Ausbildung besteht grundsätzlich die Eignung der Klägerin für die bei der Beklagten zu besetzende Stelle. Das bestreitet die Beklagte auch nicht; im Gegenteil wollte sie die Klägerin auf dieser Grundlage für die zu vergebende Elternzeitvertretung einsetzen.
39cc) Ob es sich bei dem Ausschluss der Klägerin wegen der MS um einen rechtmäßigen Zweck handelt, wird vor dem Hintergrund der Tätigkeitsanforderungen zu prüfen sein. Wesentlich wird für die vom Landesarbeitsgericht vorzunehmende Bewertung das neurologische Sachverständigengutachten vom sein. Dieses ist für den damaligen Zeitpunkt - um den allein es sich bei der hier betroffenen Einstellung, noch dazu für eine zeitlich befristete Vertretungstätigkeit handeln kann - von uneingeschränkter Arbeitsfähigkeit, auch bei körperlich anstrengender Tätigkeit ausgegangen. Mit einem plötzlichen Auftreten neurologischer Ausfallsymptome innerhalb weniger Stunden - wie beispielsweise bei einem Schlaganfall - sei nicht zu rechnen. Damit spricht viel dafür, dass der Einsatz der Klägerin - jedenfalls für das hier entscheidende, zum damaligen Zeitpunkt bestehende Erkrankungsbild - auch im Hinblick auf eine plötzlich eintretende Rettungssituation nicht negativ zu beurteilen ist.
40Zu beachten ist in jedem Fall, dass nur unter sehr begrenzten Bedingungen eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein kann und § 8 Abs. 1 AGG iVm. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, soweit überhaupt eine Abweichung vom Diskriminierungsverbot ermöglicht ist, eng auszulegen ist (vgl. entsprechend in Bezug auf die Diskriminierung wegen des Alters: [Prigge] - Rn. 71 f., Slg. 2011, I-8003, dort auch mwN in Bezug auf die Diskriminierung wegen des Geschlechts).
41Soweit die Beklagte sich auf Passagen des Sachverständigengutachtens zu verschiedenen Faktoren einer langfristigen Prognose bezieht, ist nicht erkennbar, dass diese im Hinblick auf eine befristete Einstellung zur Vertretung von Bedeutung sein können.
42dd) Zudem wird entscheidend zu berücksichtigen sein, dass ein Arbeitgeber, der eine Nichteinstellung darauf stützt, dass der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung nicht eingesetzt werden könne, sich nur dann auf § 8 Abs. 1 AGG berufen kann, wenn auch angemessene Vorkehrungen iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG iVm. Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i, Art. 2 Unterabs. 4 des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ergriffen werden. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG, der im AGG keine wortwörtliche Umsetzung erfahren hat, ist einerseits bei der Auslegung des Begriffs der „angemessenen“ Anforderung in § 8 Abs. 1 AGG einzubeziehen (soweit es um Menschen mit Behinderung geht) und ist zudem im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 241 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen (für Letzteres - Rn. 53). Im Zusammenhang mit der Richtlinie 2000/78/EG ist der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ dahin gehend zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern. Unterlässt der Arbeitgeber notwendige Vorkehrungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen, ist das in die gerichtliche Beurteilung mit einzubeziehen (vgl. ua. [Ring, Skouboe Werge] - Rn. 49 ff., 66, 68; - C-13/05 [Chacón Navas] - Rn. 50, Slg. 2006, I-6467; - Rn. 50 ff.).
43ee) Keinerlei Rolle spielt, wann die Klägerin über die Tatsache der Behinderung informiert hat.
442. Bei der Höhe einer festzusetzenden Entschädigung ist zu berücksichtigen, dass sie nach § 15 Abs. 2 AGG angemessen sein muss. Sie muss einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte gewährleisten (vgl. [Asociatia ACCEPT] - Rn. 63; - C-180/95 [Draehmpaehl] - Rn. 24, 39 f., Slg. 1997, I-2195). Die Härte der Sanktionen muss der Schwere des Verstoßes entsprechen - indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet -, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren ( [Asociatia ACCEPT] - Rn. 63 mwN). Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls - wie etwa die Art und Schwere der Benachteiligung, ihre Dauer und Folgen, der Anlass und der Beweggrund des Handelns - und der Sanktionszweck der Entschädigungsnorm zu berücksichtigen (vgl. ua. - Rn. 38; - 8 AZR 670/08 - Rn. 38; - 8 AZR 906/07 - Rn. 82 mwN, BAGE 129, 181).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BB 2014 S. 1395 Nr. 23
BB 2014 S. 2172 Nr. 36
DB 2014 S. 2056 Nr. 36
DB 2014 S. 7 Nr. 30
NJW 2014 S. 2893 Nr. 39
NJW 2014 S. 8 Nr. 31
ZIP 2014 S. 1755 Nr. 36
ZIP 2014 S. 46 Nr. 23
QAAAE-69221