Vertragsauslegung - Anpassung der Vergütung nach Tarifänderung - Tarifliche Verfallfrist - Geltendmachung vor Entstehen des Anspruchs
Gesetze: § 133 BGB, § 157 BGB, § 611 BGB, § 1 TVG
Instanzenzug: ArbG Wesel Az: 3 Ca 2345/10 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 5 Sa 830/11 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über einen Vergütungsanspruch des Klägers.
2Der Kläger ist seit 1995 bei der Beklagten in deren Werk in S als Ziegeleiarbeiter beschäftigt. Der schriftliche Arbeitsvertrag lautet ua. wie folgt:
3Die Beklagte wendet auf das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis den „Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in der Ziegelindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgenommen Bayern“ (MTV), den „Entgeltrahmentarifvertrag für die Ziegelindustrie in der Bundesrepublik Deutschland (ausgenommen Bayern)“ (ERTV) und den „Entgelttarifvertrag für die Ziegelindustrie in Nordrhein-Westfalen und südlichem Niedersachsen“ (ETV) in der jeweiligen Fassung an.
4Im Jahre 1996 beabsichtigte die Beklagte, in dem Werk einen 3-Schichtbetrieb einzuführen. Diese Einführung war ua. Gegenstand eines Beschlussverfahrens vor dem Arbeitsgericht Wesel. Nachdem dort am ein Anhörungstermin stattgefunden hatte, kam es am im sog. Sozialraum der Beklagten zu einer Mitarbeiterbesprechung, an der auch der Kläger teilnahm. Das Protokoll der Besprechung hat auszugsweise folgenden Inhalt:
5Die Anlage zum Protokoll hat - auszugsweise - folgenden Wortlaut:
6In den nachfolgenden zwölfeinhalb Jahren erhielt der Kläger eine Vergütung nach der Lohngruppe 5 MTV. Zwischenzeitlich vereinbarte Tabellenlohnerhöhungen wurden an ihn weitergegeben. Die Stundenvergütung des Klägers betrug im Jahre 2009 nach Maßgabe der Lohn- und Gehaltstarifverträge vom 13,94 Euro brutto.
7Am wurde ein neuer Entgeltrahmentarifvertrag (ERTV 2009) vereinbart. Dieser sieht ua. eine neue Vergütungsordnung in Form einer Entgeltgruppeneinteilung mit neuen Tätigkeitsmerkmalen vor. Zugleich vereinbarten die Tarifvertragsparteien ein „Überführungsgitter“, aufgrund dessen die bisher nach dem MTV eingruppierten Arbeitnehmer in die neue Vergütungsordnung „regelüberführt“ werden sollten. Danach entsprachen die bisherigen Lohngruppen 3, 4 und 5 MTV den neuen Entgeltgruppen E 4, E 5 und E 6 ERTV 2009. Eine Besitzstandsregelung sollte die Erhaltung des bisherigen „Tarifentgelts“ sicherstellen.
8Mit Schreiben vom teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass
9Der Kläger widersprach den Rückforderungsabsichten mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom , das ua. wie folgt lautet:
10Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom mit, dass insgesamt ein Betrag in Höhe von 1.716,76 Euro netto überzahlt worden sei. Sie behielt in der Folgezeit - wie angekündigt - vom Lohn des Klägers Nettobeträge ein, und zwar 404,01 Euro im Monat Juni 2010, 295,01 Euro im Monat August 2010, 315,01 Euro im Monat September 2010 und 424,72 Euro im Monat Oktober 2010.
11Mit seiner beim Arbeitsgericht am eingegangenen und der Beklagten am zugestellten Klage hat der Kläger ua. die Feststellung begehrt, dass er in die Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009 einzugruppieren sei, und die Nachzahlung der einbehaltenen Vergütungsbeträge für den Monat Juni 2010 verlangt. Mit Klageerweiterungen, die am und am beim Arbeitsgericht eingegangen und der Beklagten am bzw. am zugestellt worden sind, hat er ferner die weiteren einbehaltenen Beträge für die Monate August 2010 und September 2010 sowie für Oktober 2010 eingeklagt. Er hat unter Hinweis auf das Besprechungsprotokoll vom die Auffassung vertreten, er habe einen vertraglichen Anspruch auf eine Vergütung nach der Lohngruppe 5 MTV gehabt. Die langjährige Weiterzahlung einer Vergütung nach der Lohngruppe 5 MTV belege die individuell vereinbarte Höhergruppierung. In der Folge sei er nunmehr entsprechend dem „Überführungsgitter“ nach der Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009 zu vergüten. Im Übrigen habe die Beklagte mit ihrem Schreiben vom die Ansprüche verspätet geltend gemacht und zu Unrecht von seiner Vergütung abgezogen.
12Der Kläger hat zuletzt, soweit für die Revision noch von Bedeutung, beantragt,
13Die Beklagte hat ihren Klageabweisungsantrag damit begründet, dem Kläger stehe weder ein einzelvertraglicher noch ein tariflicher Anspruch auf die begehrte Eingruppierung zu. Es habe keine einzelvertragliche Zusage für ein übertarifliches Gehalt gegeben. Diese sei nur für den Zeitraum erfolgt, in dem tatsächlich im Drei-Schicht-Betrieb gearbeitet worden sei. Soweit der Kläger noch später nach der höheren Lohngruppe 5 MTV entlohnt worden sei, habe dem ein Irrtum zugrunde gelegen. Diesen habe die Beklagte mit der Umgruppierung korrigieren können. Die Vereinbarung des neuen Entgeltsystems und die Überführung aller Arbeitnehmer sei ein von den Tarifvertragsparteien gewollter Anlass, Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen zu beseitigen. Im Übrigen seien die Ansprüche des Klägers zumindest teilweise verfallen, weil er die tarifliche Ausschlussfrist nicht gewahrt habe.
14Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich der Anträge zu 1) und 4) stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Auf die hiergegen gerichteten Berufungen der Parteien hat das Landesarbeitsgericht nach Einholung einer „Tarifauskunft“ die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.
Gründe
15Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft der Berufung der Beklagten stattgegeben und diejenige des Klägers zurückgewiesen. Der Feststellungsantrag zu 1) ist begründet. Ebenfalls begründet sind die Zahlungsanträge zu 4) und 5). Die weiteren Zahlungsanträge zu 2) und 3) konnten mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts nicht zurückgewiesen werden. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und wegen fehlender ausreichender Feststellungen insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO).
16I. Der als ein nach allgemeinen Grundsätzen auch in der Privatwirtschaft zulässiger (vgl. zB -) Eingruppierungsfeststellungsantrag auszulegende Antrag zu 1) des Klägers ist begründet. Die Beklagte ist auf der Grundlage vertraglicher Regelungen verpflichtet, den Kläger nach der Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009 zu vergüten.
171. Allerdings folgt diese Vergütungspflicht nicht unmittelbar aus dem ERTV 2009. Dieser regelt allein die Zuordnung einer Tätigkeit zu einem Tätigkeitsmerkmal der Entgeltordnung und weist dieses einer bestimmten Entgeltgruppe zu. Die Tätigkeit des Klägers erfüllt jedoch kein Tätigkeitsmerkmal der Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009. Das ist inzwischen zwischen den Parteien nicht mehr streitig.
182. Die Verpflichtung der Beklagten ergibt sich aber aus den vertraglichen Abreden der Parteien. Die Beklagte hat dem Kläger am individualvertraglich eine übertarifliche Vergütung zugesagt, an die sie nach wie vor gebunden ist. Die Auslegung dieser vertraglichen Zusage (zu den Maßstäben vgl. - Rn. 22 mwN) ergibt, dass sie den Kläger nach der Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009 zu vergüten hat.
19a) Die Vorinstanzen sind rechtsfehlerfrei von einem Antrag der Beklagten und einer nachfolgenden Annahme des Klägers ausgegangen, ihm solle aufgrund des Besprechungstermins vom ein einzelvertraglicher Anspruch auf Vergütung nach der Lohngruppe 5 MTV zustehen, der nicht auf die tatsächliche Zeitdauer eines Drei-Schicht-Betriebs begrenzt ist.
20aa) Bis zum richtete sich die Vergütung des Klägers aufgrund vertraglicher Bezugnahme der Tarifverträge der Ziegelindustrie nach den tariflichen Regelungen. Die Parteien waren sich insoweit darüber einig, dass die Tätigkeit des Klägers die Anforderungen des Tätigkeitsmerkmals der Lohngruppe 3 MTV erfüllt und er entsprechend vergütet wird.
21bb) Diese Vergütungsvereinbarung haben die Parteien für die Zeit nach dem geändert. Nach zutreffender Auffassung der Vorinstanzen ist dem Kläger - wie anderen Mitarbeitern auch - im Zusammenhang mit der Einführung eines Drei-Schicht-Betriebs individualvertraglich die Vergütung nach einer höheren Lohngruppe, nämlich der Lohngruppe 5 MTV angeboten wurden. Der Kläger gehörte als „Springer“ zu der in der Anlage zum Besprechungsprotokoll vom aufgeführten „Bewertungsgruppe 1“, die ein Entgelt nach der Lohngruppe 5 MTV erhalten sollten. Diesen Antrag hat er durch Erbringung seiner Arbeitsleistung nach der von der Beklagten vorgenommen Schichteinteilung ab dem weiteren Monat Dezember 1996 konkludent angenommen. Er wurde dementsprechend in den folgenden mehr als zwölfeinhalb Jahren nach dieser Lohngruppe - einschließlich der tariflichen Lohnerhöhungen - vergütet.
22cc) Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht sind weiterhin zutreffend davon ausgegangen, dass diese vertragliche Abrede nicht für den Zeitraum der tatsächlichen Beschäftigung im Drei-Schicht-Betrieb befristet war. Hierfür fehlt es an Anhaltspunkten.
23(1) Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass eine Befristung oder auflösende Bedingung jedenfalls nicht ausdrücklich vereinbart worden ist.
24(2) Eine konkludente Vereinbarung kann dem Sachvortrag der dafür darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten nicht entnommen werden. Der Verweis auf ein dahingehendes Interesse der Beklagten an einer solchen Einschränkung genügt nicht für die Annahme einer tatsächlichen Vereinbarung. Entscheidend gegen eine konkludente Vereinbarung einer befristeten Vergütungsabrede spricht, dass die Einstellung des Drei-Schicht-Betriebs durch die Beklagte bereits im Jahre 1998 erfolgte und sie gleichwohl bis zum Jahre 2009 weiterhin die übertarifliche Vergütung an den Kläger leistete. Dieses konkrete Verhalten der Vertragspartner nach dem Vertragsschluss lässt zugleich Rückschlüsse darauf zu, wie die Parteien die Vereinbarung im Zeitpunkt ihres Abschlusses verstanden haben. Das Arbeitsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die tatsächliche Umsetzung des Drei-Schicht-Betriebs keine Anspruchsvoraussetzung war, sondern dass die vertragliche Zusage die Einholung des Einverständnisses mit einem solchen - auch nur möglichen - Arbeitszeitregime bezweckte. Hierauf hätte die Beklagte auch jederzeit zurückgreifen können und sie hat dies nach ihrem eigenen Vortrag in den Fällen, in denen auch nach dem Jahr 1998 vereinzelt wieder im Drei-Schicht-Betrieb gearbeitet wurde, tatsächlich getan. Mit der Vereinbarung, die Regelung gelte rückwirkend ab Einführung des Drei-Schicht-Betriebs, ist lediglich der Beginn der betreffenden Änderung festgelegt worden.
25b) Seit dem kann der Kläger auf der Grundlage der vertraglichen Vereinbarung infolge des neuen ERTV 2009 ein Entgelt nach der dort geregelten Entgeltgruppe E 6 beanspruchen.
26aa) Die vertragliche Abrede erfasst nach ihrem Inhalt eine (übertarifliche) Vergütung nach der Lohngruppe 5 MTV. Der Kläger sollte so vergütet werden, als erfülle seine Tätigkeit die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals dieser Lohngruppe.
27bb) Infolge der Neuregelung der Vergütungsordnung durch den ERTV 2009 ist zwar diese Lohngruppe weggefallen. Die von den Parteien vorgesehene und durchgeführte dynamische Anwendung der jeweiligen tariflichen Regelungen zur Lohngruppe 5 MTV führt vorliegend allerdings dazu, dass ab Inkrafttreten des ERTV 2009 nach den Maßgaben des tariflichen „Überführungsgitters“ dessen Entgeltgruppe E 6 jedenfalls im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (ausf. zu den Voraussetzungen und Maßstäben - Rn. 20, BAGE 141, 150; - 4 AZR 706/09 - Rn. 27, 31 ff., BAGE 138, 269; - 4 AZR 796/08 - Rn. 23, 31 ff., BAGE 134, 283) maßgebend ist.
28(1) Aufgrund der übertariflichen Vergütungsabrede ist die tatsächliche Erfüllung der konkreten Tätigkeitsmerkmale der neuen Entgeltordnung durch den Kläger ebenso ohne Bedeutung, wie sie dies bereits für die vorherige Entgeltordnung war. Die Parteien haben die Vergütung gerade unabhängig von den in ihr formulierten Anforderungen festlegen wollen.
29(2) Für den vorliegenden Fall einer Neugestaltung der Vergütungsordnung hätten die Parteien redlicherweise diejenige Entgeltgruppe des ERTV 2009 vereinbart, die der bisherigen Lohngruppe 5 MTV in der neuen Entgeltordnung entspricht. Ein Arbeitnehmer, dessen Tätigkeit die Anforderungen der Lohngruppe 5 MTV erfüllte, wurde ab dem in Anwendung des „Überführungsgitters“ der Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009 zugeordnet.
303. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts und der Beklagten stehen dem die Überleitungsvorschriften des ERTV 2009 nicht entgegen.
31a) § 7 und § 8 ERTV 2009 haben folgenden Wortlaut:
32b) Das Landesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, die Beklagte sei aus Anlass des neuen Tarifvertrags berechtigt gewesen, die „objektiv nicht (mehr) richtige Eingruppierung“ des Klägers - womit erkennbar die Erfüllung der entsprechenden Tätigkeitsmerkmale gemeint ist - „zurückzufahren und den aktuellen Vorgaben des ERTV neu anzupassen“. Entscheidendes Kriterium für die Eingruppierung solle die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit sein. Aus der „Tarifauskunft“ des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes ergebe sich, dass die im „Überführungsgitter“ zum Ausdruck gebrachte Regelüberführung nur dann erfolgen solle, wenn auch die bisherige Eingruppierung nach den Lohngruppen des MTV zutreffend gewesen sei. Diese Tarifauslegung führe auch zu einer vernünftigen, sachgerechten und praktisch brauchbaren Regelung, weil mögliche Ungleichbehandlungen beseitigt, dem Grundsatz: gleicher Lohn für gleiche Arbeit Rechnung getragen werden könne und die Auswirkungen für den Kläger aufgrund der Überführungszulage zumutbar seien.
33c) Dies ist unzutreffend und verkennt das Verhältnis von individualvertraglichen und tariflichen Regelungen. Den Tarifvertragsparteien ist es verwehrt, durch tarifliche Regelungen auf günstigere individualvertragliche Rechte zuzugreifen. Tarifverträge regeln Mindestarbeitsbedingungen, denen gegenüber einzelvertragliche günstigere Arbeitsbedingungen jederzeit Vorrang haben (§ 4 Abs. 3 TVG). Selbst wenn - wie das Landesarbeitsgericht zu mutmaßen scheint - von den Tarifvertragsparteien ein Eingriff in vertragliche Rechte beabsichtigt gewesen wäre, scheiterte ein solches Vorhaben an den Grenzen tariflicher Regelungsbefugnis. Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Abwägung zur „Zumutbarkeit“ der neuen tariflich geregelten Arbeitsbedingungen für den Kläger obliegt dabei im Grundsatz allein dem Arbeitnehmer selbst und lediglich im Falle einer entsprechenden Änderungskündigung den über deren Sozialwidrigkeit anhand der Maßstäbe des § 2 iVm. § 1 KSchG ggf. entscheidenden Gerichten für Arbeitssachen.
344. Ebenso wenig ist das von der Beklagten angeführte Umgruppierungsverfahren nach § 99 BetrVG und die gerichtliche Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats von Bedeutung. Der Kläger stützt seinen Anspruch nicht auf die Erfüllung der Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals einer betrieblichen Vergütungsordnung, sondern allein auf die vertragliche Abrede der Parteien.
35II. Die Revision des Klägers ist auch hinsichtlich der als Nettolohnklage zulässigen ( - mwN, BAGE 105, 181) Zahlungsanträge begründet. Auf der Grundlage der vom Landesarbeitsgericht festgestellten Tatsachen kann der Senat jedoch nur hinsichtlich der Zahlungsanträge zu 4) und 5) für die Monate September und Oktober 2010 abschließend entscheiden. Für die Entscheidung über die Anträge zu 2) und 3) für die Monate Juni und August 2010 bedarf es weiterer Tatsachenfeststellungen.
361. Der Zahlungsantrag zu 4) - Entgelt für den Monat September 2010 - ist begründet.
37a) Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger für diesen Zeitraum eine weitere Vergütung in Höhe von 315,01 Euro netto zu zahlen. Der Kläger war aufgrund einzelvertraglicher Abrede nach der Lohngruppe 5 MTV bzw. Entgeltgruppe E 6 ERTV 2009 zu vergüten. Deshalb kann sich die Beklagte für den Einbehalt nicht auf einen aufrechnungsfähigen Gegenanspruch berufen. Da der Kläger sich darauf beschränkt hat, die von der Beklagten selbst vorgenommene Lohnabrechnung mit Ausnahme der Aufrechnungsbeträge zur Grundlage seiner Klageforderung zu machen, bedarf es einer weiteren Darlegung der Begründetheit der Forderung nicht.
38b) Der Anspruch des Klägers auf den ungekürzten Lohn für den Monat September 2010 ist nicht verfallen. Die tarifliche Ausschlussfrist ist gewahrt worden.
39aa) Aufgrund einzelvertraglicher Verweisung ist auf das Arbeitsverhältnis der MTV einschließlich der in § 20 geregelten Ausschlussfristen anzuwenden. Dieser lautet:
40bb) Die Ausschlussfrist gilt entgegen der Auffassung des Klägers auch für noch offene Lohnansprüche für den Monat September 2010. Dies gilt unabhängig davon, ob die eigene Gegenforderung der Beklagten ihrerseits wegen der Nichteinhaltung der auch für sie geltenden Ausschlussfristen verfallen war.
41Auch wenn die Beklagte zur Aufrechnung mit angeblichen Gegenansprüchen gegen den vertraglichen Entgeltanspruch nicht berechtigt war, führt dies nicht dazu, dass der Kläger seinerseits die tariflichen Ausschlussfristen nicht einhalten muss. Diese gelten für alle Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis, also auch für die zu Unrecht einbehaltenen Lohnanteile. Die Obliegenheit zur Einhaltung der tariflichen Ausschlussfristen besteht unabhängig davon, aus welchen Gründen ein berechtigter Anspruch nicht erfüllt worden ist.
42cc) Der Kläger hat die tarifliche Ausschlussfrist gewahrt.
43(1) Das gilt zunächst für die erste Stufe der außergerichtlichen Geltendmachung. § 20 Abs. 1 MTV fordert die schriftliche Geltendmachung innerhalb von zwei Monaten ab Fälligkeit der Forderung. Diese Frist hat der Kläger mit seinem Schreiben vom eingehalten. Zu diesem Zeitpunkt war der Anspruch auf das Entgelt für den Monat September 2010 zwar weder entstanden noch fällig. Aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles war es dem Kläger jedoch möglich, diesen Anspruch auch schon vor seiner Entstehung und seiner Fälligkeit gegenüber der Beklagten geltend zu machen.
44(a) Die Geltendmachung eines Anspruchs nach § 20 Abs. 1 MTV setzt regelmäßig dessen Bestehen voraus. Andernfalls liegt kein Anspruch vor, der geltend gemacht werden könnte (so zB - zu III 1 a der Gründe; - 6 AZR 539/02 - zu II 2 b aa der Gründe, BAGE 109, 100). Eine Geltendmachung vor Entstehung des Anspruchs widerspricht grundsätzlich auch dem Sinn und Zweck von Ausschlussfristen. Der Anspruchsgegner soll vor der Verfolgung von Ansprüchen bewahrt werden, mit deren Geltendmachung er nicht rechnet und auch nicht zu rechnen braucht ( - Rn. 22). Er soll sich auf offene Forderungen einstellen, Beweise sichern und vorsorglich Rücklagen bilden können ( - zu I 4 b aa der Gründe, aaO). Sind die rechtserzeugenden Tatsachen noch nicht eingetreten, können diese Ziele regelmäßig nicht erreicht werden. Es bleibt ungewiss, ob und in welchem Umfang Ansprüche entstehen. Auch wird die rasche Klärung von Ansprüchen nicht erreicht ( - Rn. 35).
45In Ausnahmefällen können Sinn und Zweck der Ausschlussfrist aber die Möglichkeit der Geltendmachung eines Anspruchs auch schon vor dessen Entstehen gebieten. Wenn ein bestimmter Anspruch jeweils aus einem ständig gleichen Grundtatbestand entsteht, kann der Zweck der tariflichen Ausschlussfrist, dem Schuldner zeitnah Gewissheit zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er zu rechnen hat, auch durch eine einmalige Geltendmachung erreicht werden. Eine solche einschränkende Auslegung ist insbesondere dann geboten, wenn lediglich über die stets gleiche Berechnungsgrundlage von im Übrigen unstreitigen Ansprüchen gestritten wird; hier reicht im Zweifel die einmalige Geltendmachung der richtigen Berechnungsmethode auch für später entstehende Zahlungsansprüche aus (grundlegend dazu - Rn. 31 f. mwN). Dies gilt insbesondere dann, wenn allein ein bestimmtes Element einer bestimmten Art von Ansprüchen im Streit steht; in einem solchen Fall besteht für den Schuldner kein Zweifel darüber, was von ihm verlangt wird und der Gläubiger darf ohne Weiteres davon ausgehen, dass er seiner Obliegenheit zur Geltendmachung Genüge getan hat.
46(b) Gemessen an diesen Anforderungen hat der Kläger mit seinem Schreiben vom bereits durch eine einmalige Geltendmachung der monatlichen Entgeltdifferenzen auch für die Zukunft die erste Stufe der tariflichen Ausschlussfrist eingehalten.
47(aa) Zwischen den Parteien ist weder die absolute Höhe der monatlichen Vergütung noch deren Berechnung im Übrigen im Streit. Der Kläger hat hinsichtlich der streitigen Monatsbeträge - darunter auch bezüglich des Monats September 2010 - die von der Beklagten in der monatlichen Entgeltabrechnung zugrunde gelegten Beträge akzeptiert. Hiervon ausgenommen ist einzig der Berechnungsfaktor, der sich in allen hier streitigen Entgeltabrechnungen auswirkt, nämlich der von der Beklagten - jeweils anteilig - geltend gemachte Gegenanspruch wegen angeblicher Überzahlung in der Vergangenheit, den sie im Wege der Aufrechnung in mehreren aufeinanderfolgenden Lohnzahlungszeiträumen monatlich durchsetzen wollte.
48(bb) Dieser dem Kläger gegenüber erklärten Absicht konnte dieser mit einer Ankündigung dahingehend begegnen, dass er die den verschiedenen Einbehaltungsbeträgen zugrunde liegende Gegenforderung nicht akzeptieren und sich hiergegen ggf. auch gerichtlich wehren würde. Damit hat er die durch die tarifliche Ausschlussfrist geschützten Interessen des Schuldners, hier der Beklagten gewahrt. Dieser war damit bekannt, welche Beträge von ihr für den Fall des Einbehalts verlangt würden. Einer jeweils auf die einzelnen monatlich einbehaltenen Beträge bezogenen außergerichtlichen Geltendmachung bedurfte es deshalb nicht.
49(cc) Das Schreiben des Bevollmächtigten des Klägers vom wahrte damit die tarifliche Geltendmachungsfrist aus § 20 Abs. 1 MTV bezüglich aller Einzelansprüche, die aufgrund der Umsetzung der von der Beklagten erklärten Absicht eines Einbehalts von Vergütungsteilen entstanden waren oder in Zukunft entstehen würden. Hiervon sind alle später gerichtlich geltend gemachten Zahlungsansprüche der Anträge zu 2) bis 5) für die Monate Juni, August, September und Oktober 2010 erfasst.
50(2) Der Kläger hat auch die zweite Stufe der tariflichen Ausschlussfrist nach § 20 Abs. 2 MTV eingehalten.
51(a) Die Frist zur Einhaltung der zweiten Stufe nach § 20 Abs. 2 MTV begann nicht vor dem Entstehen und der Fälligkeit der Forderung.
52Für den Fristbeginn ist die Besonderheit der Geltendmachung vor Entstehen einer Forderung zu berücksichtigen. Eine gerichtliche Geltendmachung ist dabei immer erst möglich, wenn der Anspruch tatsächlich entstanden ist, auch wenn die erste Stufe der Ausschlussfrist bei zukünftig entstehenden Ansprüchen bereits Monate vor deren Entstehen gewahrt werden kann. Darüber hinaus ist in der Erteilung der Entgeltabrechnung für den jeweiligen Zeitraum unter ausdrücklicher Bezifferung auch desjenigen Betrages, der dem Grunde nach Gegenstand der außergerichtlichen Geltendmachung war, die Ablehnung des vorgerichtlich geltend gemachten Anspruchs iSv. § 20 Abs. 2 MTV zu sehen.
53(b) Danach ist die Frist des § 20 Abs. 2 MTV vom Kläger vorliegend gewahrt worden. Das Entgelt für September 2010 war am fällig; hierüber sind sich die Parteien ausdrücklich einig. Die auf die einbehaltene Vergütungsdifferenz gerichtete Klage ist bei Gericht am und damit innerhalb der Frist des § 20 Abs. 2 MTV eingegangen.
54c) Über die Höhe des Anspruchs und über die Verzinsung nach §§ 288, 286 BGB besteht kein Streit zwischen den Parteien.
552. Auch der Zahlungsantrag zu 5) hinsichtlich des Monats Oktober 2010 ist in Höhe des einbehaltenen Betrags von 424,72 Euro netto begründet.
56Dabei gilt für das Bestehen des Anspruchs und die Einhaltung der tariflichen Ausschlussfristen durch den Kläger das für den Monat September 2010 Ausgeführte (s. oben unter II 1) entsprechend. Hier begann die Zweimonatsfrist für die gerichtliche Geltendmachung nach § 20 Abs. 2 MTV mit der Ablehnung des Anspruchs durch Übermittlung der Entgeltabrechnung für den Monat Oktober 2010. Der Lohnanspruch war am fällig. Mit dem Eingang der diesen Betrag erfassenden Klageerweiterung beim Arbeitsgericht am ist die zweite Stufe der Ausschlussfrist gewahrt.
573. Die Revision des Klägers ist zwar auch hinsichtlich der Entgeltansprüche für die Monate Juni und August 2010 begründet. Das Landesarbeitsgericht hätte sie mit der von ihm gegebenen Begründung nicht verneinen dürfen. Der Senat kann aber aufgrund nicht hinreichender tatsächlicher Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend entscheiden.
58a) Für die Begründung der Ansprüche des Klägers auch in diesen beiden Bezugsmonaten Juni und August 2010 sowie für die Einhaltung der ersten Stufe der tariflichen Ausschlussfrist durch das hierauf gerichtete Geltendmachungsschreiben vom wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
59b) Ob der Kläger auch hinsichtlich dieser beiden Monate die zweite Stufe der Ausschlussfrist gewahrt hat, lässt sich jedoch nicht abschließend beurteilen.
60Die zweite Stufe der Ausschlussfrist könnte durch die am (Monat Juni 2010) und am (Monat August 2010) beim Arbeitsgericht eingegangene Klage bzw. Klageerweiterung gewahrt worden sein. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn dem Kläger die Entgeltabrechnungen, in denen der im Schreiben vom geltend gemachte Anspruch durch Erteilung der entsprechenden Abrechnung jeweils abgelehnt worden ist, für den Monat Juni 2010 frühestens am und für den Monat August 2010 erst nach dem dem Kläger zugegangen wären. Hierzu fehlt es jedoch an Feststellungen des Landesarbeitsgerichts. Den Parteien ist unter Berücksichtigung des Anspruchs rechtlichen Gehörs Gelegenheit zu einem ergänzenden Vortrag zu geben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BB 2014 S. 499 Nr. 9
CAAAE-55304