PiR Nr. 7 vom Seite 1

Die EU-Bilanzrichtlinie

WP/StB Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann | Herausgeber | pir-redaktion@nwb.de

Gerade vor Redaktionsschluss dieser PiR-Ausgabe ist die genannte Richtlinie im EU-Amtsblatt veröffentlicht worden. Sie löst die bisherige 4. und 7. EU-Richtlinie, welche die Grundlage für die HGB-Rechnungslegung darstellen, ab. Zunächst zum Gesamtbefund: Wie bisher ist die Richtlinie von nationalen Wahlrechten durchsetzt, von einer Vereinheitlichung der Rechnungslegungsvorschriften innerhalb der EU kann keine Rede sein. Der Kontrast zu den IFRS, die ein einheitliches Regelwerk über die Nationengrenzen hinweg promulgieren, ist eminent. Bei den Rechnungslegungsgrundsätzen tauchen zwei neue Größen auf: Die Wesentlichkeit und die Beachtung des wirtschaftlichen Gehalts.

Die Wesentlichkeit war in den beiden bisherigen EU-Richtlinien und im HGB nicht erwähnt, existierte gleichwohl unbestritten in der praktischen Anwendung. Das große Problem dieses der Sache nach selbstverständlichen Bilanzierungsprinzips ist die quantitative Undefinierbarkeit. Die gewöhnliche Bezugnahme auf die Entscheidungsbeeinflussung von Anlegern oder anderen Adressaten der Rechnungslegung ist rein zirkulär. Die neue Richtlinie unternimmt sinnvollerweise gar nicht erst einen Definitionsversuch, sondern erlaubt schlichtweg die Nichtanwendung der einzelnen Anforderungen der Richtlinie, wenn deren Einhaltung in ihrer Wirkung unerheblich (unwesentlich) ist. Das trifft sich mit der entsprechenden Regel in IAS 8.8. Mit der Vorgabe zur Nichtbeachtung der Unwesentlichkeit hat es allerdings nicht sein Bewenden. Denn als nationales Wahlrecht wird die genannte materiality-Vorgabe auf die Darstellung (Gliederung) und die Offenlegung des Jahresabschlusses beschränkt. Jedes EU-Land kann also im Umkehrschluss verfügen: Die Wesentlichkeitsklausel ist für den Ansatz und die Bewertung nicht anzuwenden. Diese Option wird nicht in das HGB transformiert werden können, denn sonst müssten auch die expliziten Wesentlichkeitsklauseln im Gesetz – z. B. Festbewertung nach § 240 Abs. 3 HGB, Verzicht auf equity-Bewertung nach § 311 Abs. 2 HGB – künftig entfallen. Die Transformation des materiality-escape in das HGB stützt ihren schon bisher agierenden Verfechtern in ihrer Konfrontation mit eher engstirnig denkenden Rechnungslegungsanwendern oder -prüfern den Rücken.

Das (scheinbare) Gebot der Beachtung der Bilanzierung nach Maßgabe des wirtschaftlichen Gehalts des Geschäftsvorfalls oder der zugrunde liegenden Vereinbarung – substance over form – hat sich im HGB bislang nicht niedergeschlagen. Dort ist in § 246 Abs. 1 Satz 2 HGB lediglich der Vorrang des wirtschaftlichen Eigentums gegenüber dem rechtlichen beim Bilanzansatz bestimmt. Auch hier mag man eine Selbstverständlichkeit erblicken, denn schließlich sollen in einem Jahresabschluss nicht Rechtsstrukturen, sondern die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens abgebildet werden. Diesen liegen immer Rechtsverhältnisse zugrunde – es gilt nicht: substance without form –, aber diese dürfen nicht die Bilanzierung dominieren und beeinträchtigen. Die explizite Erwähnung einer Selbstverständlichkeit scheint nicht allen Rechtsanwendern mit durchschlagkräftiger Lobby geheuer. Denn die Mitgliedstaaten können in ihrem Transformationsgesetz die Vorgabe der substance over form ausblenden, was erneut die deutsche Branchenlobby in Gang setzen wird. Die Folge ist absehbar: Bilanziert wird nach HGB und EStG weiter wie gewohnt, die rechtliche Betrachtungsweise dominiert das Geschehen, was u. a. heißt: Der BFH muss nicht umdenken, und der IDW ERS 13 n. F. harrt weiter auf unbestimmte Zeit seiner Verabschiedung.

Wolf-Dieter Hoffmann

Fundstelle(n):
PiR 7/2013 Seite 1
PAAAE-39733